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NOSTRADAMUS

Er strebt auf seinen gewohnten Fensterplatz auf der Seeseite zu. Mitten im Vormittag ist die Abteilung erster Klasse der S-Bahn 7 auch bei schönem Wetter nur schwach besetzt. Er geht zügig vor bis zur Mitte des Wagens, setzt sich entspannt hin, nachdem er seinen hellen Regenmantel und die dunkle lederne Aktenmappe fast übermütig auf die gegenüberliegende blau gepolsterte Sitzbank gelegt hat, und fährt fort in seiner am frühen Morgen auf der Hinfahrt in die Stadt angefangenen Zeitungslektüre.

Seit kurzem merkt er bei der Fortsetzung seiner Lektüre auf der Rückfahrt jeweils erst nach einigen Zeilen, dass er den Artikel ja schon auf der Hinfahrt gelesen hat, hält inne, schüttelt den Kopf. Das ist neu, das mit dem Gedächtnis, mit seiner Merkfähigkeit, beunruhigt ihn jedoch nicht sonderlich, was wir mit Recht bezweifeln.

Aber heute ist es irgendwie anders. Einige Rezensionen von neulich erschienenen Büchern und zwei redaktionelle Beiträge hat er am frühen Morgen vor der Ankunft im Hauptbahnhof nur kurz überflogen, sein Interesse ist geweckt, und nun will er sie zu Ende lesen. Ungestört. Und so liest er weiter von krankhaften Erscheinungen der Liebe, von liebestollen Mördern, von Schiessunfällen in den USA, von Terror.

Was hatte doch schon Wilhelm Busch beobachtet, erinnert er sich, und in Versen festgehalten?

Ach, die sittenlose Presse!
Tut sie nicht in früher Stund,
All die sündlichen Exzesse
Schon den Bürgersleuten kund?

Er liest weiter, den süffig geschriebenen Artikel über die zunehmenden Auffahrunfälle an der Goldküste, aber nicht nur dort, eine für viele überraschende Erscheinung nach Einführung des neuen Gesetzes, welches den Fussgängern am Zebrastreifen endlich das unbedingte Vortrittsrecht einräumt. Die Fussgänger brauchen die Arme nicht mehr auszustrecken, um zu zeigen, dass sie im Sinn haben, die Strasse unfallfrei zu überqueren.

Ein weiterer Artikel handelt von einem Vater, der seine Tochter vom achten bis achtzehnten Altersjahr misshandelt und vergewaltigt hat, dann von einer Gruppe Männern weit weg in Kasachstan, welche mehrere Mädchen getötet, zerkleinert, die Fleischstücke durch den Wolf gelassen und dann verzehrt haben sollen. Von Neid und Eifersucht als verheerenden menschlichen Triebfedern im Besonderen auch im Dunstkreis der Politik. Und einmal mehr von der Schuld der Deutschen am Holocaust und vom möglicherweise aber vermutlich doch nicht allerletzten Buch von Johannes Mario Simmel : “Zwischen Traum und Traurigkeit”. Die Horoskope mit ihren hellsichtigen Prophezeiungen, die seiner Meinung nach viel zu ausführlichen Wetterprognosen, saisonale Kochrezepte angereichert mit verlockenden Abbildungen, das Sudoku von mittlerem Schwierigkeitsgrad und schliesslich auch das Kreuzworträtsel, bei dem wie gewohnt ein etwas fragwürdiger Gewinn lockt: heute ein Sack Trockenfutter für verwöhnte Hunde.

Die Abdankungen und den Stellenanzeiger übergeht er heute und hofft zuversichtlich, seine eigene Todesanzeige noch recht lange nicht unter die Augen zu bekommen.

Vor der nächsten Haltestelle, nach den Plänen des seit 1975 in der Stadt am See lebenden spanischen Architekten Santiago Calatrava beschwingt umgebaut, zugleich Ausgangsstation für dessen internationale Karriere, so hatte er es unlängst genau in dieser Zeitung gelesen, bemerkt er unvermittelt schräg gegenüber, einige Bankreihen weiter hinten eine klein gewachsene, leicht korpulente, dunkelhäutige, sehr gepflegt wirkende Person mittleren Alters sich erheben und sich ihm nähern, einen Mann, den er noch nie in diesem und auch in keinem anderen Zug oder sonst wo angetroffen hat, auf dem Kopf ein satt sitzender bordeauxroter Turban, wie ihn die Männer nicht nur in Teilen von Indien, Afghanistan oder Turkmenistan sondern auch hier in Europa tragen, wenn sie sich hier als ständige oder vorübergehende Bewohner oder als Touristen aufhalten und dabei immer wieder die Blicke des Publikums auf sich ziehen. Der Turban als Schutz vielleicht, als schützendes heimatliches Symbol, vielleicht auch als raffiniertes Mittel aufzufallen als jemand, der von weit her kommt und trotzdem seine Herkunft nicht nur nicht verleugnet sondern mit gewollter, offensiver Auffälligkeit in der Öffentlichkeit auftritt wie zum Beispiel die orthodoxen Juden in der Stadt am Ende des Sees oder abseits im Engadin oder in Arosa, diese für manche fremd wirkenden Gestalten in ihrer schwarzen, krähenhaft wirkenden schwarzen Kluft, mit riesigen schwarzen Hüten oder Kipas, die an Sennenkäppli gemahnen. So auch die auf vielfältige Art verschleierten und verpackten Musliminnen, die auch in der weltoffenen Stadt am Ende des Sees von Jahr zu Jahr häufiger anzutreffen sind und bei manchen Leuten alles andere als Begeisterung auslösen. Und da sind auch selten genug die Zimmerleute aus Hamburg. Die nimmt man indessen meist gelassen und freundlich zur Kenntnis - lädt sie gar zu einem Bier oder gleich zu sich nach Hause ein.

Tadellose hellgraue Hosen trägt der turbangekrönte, leicht korpulente Mann und einen ebenso tadellosen hellroten Veston, massgeschneidert vermutlich, Kamelhaar oder Kaschmir, weisses Hemd mit bunter, aber nicht greller Musterung, die seidene Krawatte assortiert. Am linken Ringfinger ein auffallend grosser, schwarzer Stein, vielleicht ein schwarzer Opal, der, wie er irgendwo gelesen hat, nur oder vorzüglich in Australien vorkommt. Darauf seien die Leute von Down Under sehr stolz, verdienen damit in Lightning Ridge in New South Wales auf harte und manchmal abenteuerliche Weise unter sengender Sonne ihr Geld. Oder ist es doch eher ein Onyx, ein schwarzer Achat? Jedenfalls ein sowohl exotisch als auch westlich anmutender Mann, opalisierend, irritierend, weit weg von aller Turnschuh- und Jeans-Kultur, noch weiter weg von selbst gefärbter, verwaschener Sozialarbeiter- oder Oekolook-Kleidung, die in den letzten Jahren selbst hier am See unübersehbar in Mode gekommen ist, also irgendwie den nobel gestylten Gewohnheiten der Banker und mancher Spitzenpolitiker im Westen nacheifernd.

Kaum haben sich die Blicke der beiden Männer gekreuzt, wendet sich der turbangekrönte, gepflegt wirkende Inder oder Pakistani mit einem kleinen Ruck dem andern zu, der inzwischen die Zeitung auf seine Knie gelegt hat, grüsst ihn lächelnd mit einer leichten Verbeugung, als ob er ihn schon lange kennen würde oder vielmehr als ob er ihn schon lange bemerkt und bloss auf ihn gewartet hätte. Und als jener feststellt, dass der verhinderte Zeitungsleser sich leidlich auf Englisch auszudrücken weiss, wie so viele in dieser Gegend, was ihn überhaupt nicht überraschte, er schien damit gerechnet zu haben, fragt er nach weiteren munter freundlichen Blicken, ob der andere ihm wohl gestatten würde, ein paar Fragen zu stellen: „Would you mind......“? sagt er in gepflegtem Englisch. Es würde des Anderen Schaden nicht sein zu antworten, ganz im Gegenteil, er könne ihm nämlich sagen, mit Sicherheit sagen, wie es ihm, das heisst, wie gut es ihm in der nächsten Zeit ergehen würde.

Aha! Kein Schwarzseher also, nein, ein asiatischer Nostradamus, ein Hellseher war das, ein Hellseher am helllichten Tag, kein Konsul, kein konsularischer Angestellter oder indischer Computerspezialist, kein asiatischer Geschäftsmann, kein Delegierter einer internationalen Organisation oder doch einer von der FIFA, nein, ein Wahrsager, ein „netsvis“, ein „haruspex“, ein „barû“, einer, der Zugang zu den Gedanken und rätselhaften Absichten irgend eines allmächtigen Wesens hatte, eine Astrologe vielleicht, der diese rätselhaften Gedanken und kosmischen Absichten wahrhaft getreulich zu übersetzen und zu vermitteln weiss. Fasziniert durch die zugleich in sich ruhende und doch spontan, lebendig und freundlich wirkende nicht alltägliche Art des dunkelhäutigen turbangekrönten, äusserst gepflegten und wohlriechenden Asiaten und irgendwie als Bestätigung für die eigene weltoffene, geradezu weltläufige, urbane, neugierige Natur, und schliesslich, so geht es ihm durch den Kopf, befindet man sich ja nicht irgendwo, sondern in einem sauberen, von Vandalen verschonten SBB-CFF- FFS -Wagen der ersten Klasse. Er rechnet spontan und durchaus erfreut und neugierig mit einer nicht alltäglichen Abwechslung während seiner Fahrt nach Hause.

Seit einigen Monaten erst wohnte er in der Höhe über dem See, in der Nähe der Kinderstation B, die er, als dieses Haus, so erinnerte er sich gut, einen anderen Namen trug und andere, aber doch auch kinderbezogene Aufgaben erfüllte. Das war zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, als er zusammen mit seiner Mutter in dieser Kinderstation jenes Judenmädchen besuchte, ein Flüchtlingskind aus Wien, die kleine, hübsche Eva Pf., deren Mutter bei ihnen am unteren Zürichberg wohnte, gleich gegenüber der mächtigen, Schatten gebenden Zeder.

Die Mutter von klein Eva, die Maria Pf., die ihre schönen Haare trotz knapper Kasse regelmässig blondieren liess, was bei manchen Hausbewohnern, die jeden Rappen zählen mussten, nicht gut ankam, war gehbehindert auf Grund einer, wie sie immer wieder neu erzählte, auch wenn sie nicht danach gefragt wurde, in ihrer Heimatstadt Wien erlittenen Kinderlähmung. Sie benötigte deshalb ausser Haus stets einen Stock mit schwarzem Lederknauf. Beim Gehen hielt sie ihren Körper schief zur Seite geneigt. Ihr rechtes Bein schlenkerte beim Gehen dabei dergestalt, dass entgegenkommende Menschen ihr schon von weitem vorsorglich auswichen und vermieden, ihr in die Augen zu sehen.

Sie bewohnte während Monaten in Untermiete ein eher düsteres nicht unfreundliches Zimmer in der Wohnung seiner Eltern, eingeschattet durch die geschützte, mächtige Zeder jenseits der Strasse. Die Miete regelmässig im voraus bezahlt von einer jüdischen Organisation der Stadt, freiwillig betreut und regelmässig besucht von einem jüdischen Arzt, dem gut aussehenden Dr. med. Sch., ebenfalls aus Wien. Er hätte sich als Schauspieler nicht schlecht gemacht, dieser alte Bekannte vom Maria Pf., Jude und Flüchtling auch er, der gleich nach Kriegsende im Sommer 1946 nach den USA ausgewandert ist auf der Flucht nicht so sehr vor den Deutschen - deren Schicksal hatten die Alliierten inzwischen endgültig besiegelt - , sondern vielmehr vor dieser blondierten Maria, dieser Maria Pf., wie man allgemein vermutete und tuschelte, die ab und zu auf hysterische und das hiess doch wohl auf penetrant theatralische Art und Weise um die Aufmerksamkeit dieses stattlichen, dunkelhaarigen und überaus zuvorkommenden, sanften und hilfsbereiten Mannes buhlte, Schrei- und Weinkrämpfe auf dem Boden austrug, wenn er wieder mal nicht wie angekündigt zu ihr auf Besuch kam oder sie nicht, wie sie erhofft hatte, zum Nachtessen in den „Olivenbaum“ oder in ein anderes Lokal in der Gegend von Schauspielhaus und Stadttheater einlud, dorthin, wo sich jüdische Flüchtlinge regelmässig trafen auf der Suche nach menschlichen Kontakten, auf der Suche auch nach einer neuen, sicheren Heimat.

Einmal hat dieser Dr. med. Sch. jene Maria in dieser für die meisten Flüchtlinge schwierigen Zeit ans Sechseläuten, an das frühjährliche Kostümfest der Stadtzürcher Zünfte und Konstaffel mitgenommen. Sie am Stock mit schwarzem Lederknauf und wie gewohnt mit ihrem schiefen, hinkenden Gang, das rechte Bein schlenkernd, den Stock als ständige Hilfe beim Gehen, an dieses farbenfrohe Frühlingsfest, traditionell an einem Montag im April, wo die Zünfter und Konstaffel als Abschluss ihres grossen, farben- und blumenträchtigen Umzuges mit viel Blasmusik, Trommeln, Blumen, vorbildlich geschneiderten historischen Kostümen, geschmückten Wagen, Pferden, Kamelen durch die Innenstadt marschierten und dann Schlag sechs Uhr auf der grossen Wiese vor dem Stadttheater auf nervösen Pferden um den Schneemann zu galoppieren begannen. Der Böögg, wie ihn die Bewohner dieser Stadt nennen, Symbol des Winters, der mächtige, einige Meter hohe Holzstoss und der auf einer hohen Stange darüber sitzende Popanz aus Watte gebastelt, gefüllt mit Knallkörpern, besonders der Kopf, wird jeweils genau um sechs Uhr angezündet, unterstützt manchmal durch einen zünftigen Brandbeschleuniger, je nach Wetterlage. Der Zeitraum zwischen der Initialzündung und der Explosion des Kopfes als Fingerzeig des rätselhaften Schicksals, wie lange der Frühling und Sommer auf sich warten lassen würde.

Die Maria Pf. hatte diesen heiter heidnischen Zürcher Brauch kurzerhand für ihre eigenen Bedürfnisse umgedeutet. Sollte der Schneemann, der in Wirklichkeit bekanntlich bloss ein Watte- und Knallkörpermann war, das heisst: sollte der Kopf des Bööggs binnen einer Viertelstunde explodieren und auf diese Weise sinngemäss sein Leben aushauchen, so würde ihr so gut aussehender, sanfter und beruflich so tüchtige und allgemein geschätzte Dr. med. Sch. sie doch noch heiraten und sie entweder mit in die Vereinigten Staaten oder zurück nach Wien mitnehmen. Aber doch lieber in die Vereinigten Staaten. Wien war ja nicht mehr das alte Wien, Wien war am Boden, teilweise zerstört, - nicht nur die Staatsoper - und weitgehend verarmt und vor allem arm an Juden.

Der Böögg brauchte etwas mehr als zwanzig Minuten, bis der Kopf mit lautem Krach zerbarst. Der nächste Wein- und Schreikrampf unabwendbar aber glücklicherweise nicht schon am Bellevue, erst später, im langen dunklen Korridor der zederbeschatteten Wohnung, ihrem provisorischen Daheim. Er lud sie dann, wie schon so oft und immer wieder, zum beruhigenden aber nicht erlösenden Nachtessen im „Olivenbaum“ ein, beliebtes Restaurant für viele ausländische Juden und ihre Schweizer Freunde und Betreuer.

Die Zeitung war ihm, kurz nachdem sich ihre Blicke gekreuzt hatten, über die Knie gerutscht und auf den Boden gefallen, und er fragte sich besorgt, wo denn dieser exotische I. Klasse-Passagier aussteigen würde: in K oder E oder doch vielleicht erst später oder gar in M wie er selbst, wo er seit kurzem wohnte, wohin er in der Kindheit, wie wir bereits wissen, zusammen mit der Mutter und jener Maria Pf. einmal gereist war, als es noch keine S-Bahn gab, um die kleine Eva zu besuchen, die kleine Wienerin, das hübsche muntere Mädchen, das dort fürsorglich untergebracht war, den Kindergarten besuchte, eines von vielen jüdischen Flüchtlingskindern damals in der vom Krieg unversehrten Schweiz.

Hatte der Asiate, der Inder oder Pakistani oder Afghane überhaupt eine gültige Fahrkarte? Wohnte er gar in dieser Gegend am See, beliebt bei kundigen Einbrechern fast wie die Côte d’Azur, beliebt aber auch bei anderen Künstlern aller Art: Schauspielern, Musikern, Sängern, Bankern, Unternehmern. War er als Gast hier? Gast bei Freunden oder Bekannten? Oder gehörte er vielleicht gar einer Sekte an, wo möglich einer jener geheimen oder doch geheimnisumwitterten oder einer, die beides war?

Viele Leute hier in dieser lieblichen und beliebten Gegend und darüber hinaus liebäugeln ja nicht bloss seit heute mit buddhistischen, fernöstlichen Ideen sondern machen aktiv mit in allerhand Gruppen, Zirkeln, sektenähnlichen Organisationen und zuweilen abenteuerlich anmutenden Bewegungen: psychologischen, religiösen, esoterischen, weltanschaulichen, spirituellen. Kaufen und abonnieren die entsprechenden Bücher und Zeitschriften, retten vielleicht damit manchen Buchladen vor dem Ruin, konsumieren Abhandlungen und Traktate, in denen man sich vom materialistischen, rationalistischen, mechanistisch abendländischen Denken entschieden kämpferisch und lustvoll distanziert. Und dies fällt manchen Leuten dann besonders leicht, wenn sie zuvor genügend auf die Seite gelegt haben, unentwegt ihrer Bank vertrauend, bevor sie sich einer vergeistigten, wesentlicheren, emotionaleren, essentiellen, höheren, spirituellen, mystischen Erlebniswelt verschreiben. Und allenfalls als interessante Gäste vom Fernsehen eingeladen werden, von angesehenen Redaktionen, um dort lebenswarm aus dem Nähkästchen zu berichten.

Er erinnerte sich, unlängst in einer renommierten Tageszeitung von üblen, ja geradezu verbrecherischen Sexmachenschaften eines reichen Inders mit einer Reihe lebens- und eben auch geldgeilen jungen Frauen gelesen zu haben, und der hatte doch seine stattliche Villa an der Goldküste, also am rechten Seeufer. In E oder in K. Oder war es doch in M? Jedenfalls irgendwo an der Goldküste muss das gewesen sein, was jeweils die linken Kreise, aber auch die Medienschaffenden und die Unterhaltungskonsumenten besonders zu freuen und genüsslich zu interessieren schien, wenn von krummen, abwegigen, perversen Dingen an der Goldküste, man stelle sich bloss vor, in der Fortsetzung des renommierten Zürichbergs, ruchbar wurde.

Ohne sich zum andern hinzusetzen, um vermutlich keine voreilige Vertraulichkeit aufkommen zu lassen, ohne sich auch nach der Zeitung zu bücken, die zu Boden gefallen war, aufrecht im Mittelgang des Wagens stehend entnimmt nun der turbangekrönte Inder, Afghane, Pakistani oder Turkmene seinem linken oberen kleinen Vestontäschchen ein Stück dünnes, rosarotes Papier und aus der rechten Seitentasche eine harte Unterlage, ein zierliches Stück Karton oder dergleichen zum bequemeren Schreiben im Stehen, wie sich gleich herausstellen wird. Der Andere, unser Heimkehrer, der wie gewohnt keine Krawatte trägt, hat sich unwillkürlich erhoben. Er schätzt es nicht, jemanden so nah über sich zu haben. Nun überragt er den Asiaten zu seiner und zu dessen Überraschung doch um einiges, was diesen jedoch nach einem fast unmerklichen kleinen Zurückweichen überhaupt nicht zu beeindrucken scheint.

Wie alt sind Sie, wenn ich Sie fragen darf? fängt er wie beiläufig an in seinem gut verständlichen, warmen, gemächlichen, gepflegten Englisch. What's your age, Sir? Wieviele Kinder haben Sie? Pardon. How many children? Haben Sie Haustiere? Was für welche? Wie alt sind die? Lebt Ihr Vater noch? Nein? Wann ist er gestorben? Wie alt war er, als er starb? Hat er seinen Tod geahnt? Hat er seinen Tod vorausgesehen? What was his profession? Welchen Beruf hatte er? Maler und Tapezierer. Pardon? Malermeister und Tapezierermeister. Very good, very good!

Und es folgen noch einige Fragen, nicht mehr so genaue, Wissenschaftlichkeit vorgebende wie auf den Interview-Fragebögen der missionarischen, immer gut und sorgfältig aber nicht asiatisch gekleideten, sauber wirkenden Boten der Scientologen, die seiner Erfahrung nach nie eine Kopfbedeckung tragen und ihn an die braven, stets verkaufs- und betbereiten amerikanischen Studenten erinnern, die jeweils für einige Monate hier für die Sache der „Zeugen Jehovas“ oder für die „Mormonen“ weibeln - ohne die Vielweiberei bei den letzteren schon zu Beginn ins Gespräch zu bringen - , von Wohnung zu Wohnung gehen, ohne Hast die Klingeln betätigten, ohne je zu ermüden in ihrer heiligen Mission, immer bet-, diskussions- und verkaufslustig, es geht ja schliesslich um das Seelenheil von Menschen, im Besonderen um vermeintlich im Dunkeln wandelnde Schweizerinnen und Schweizer und nicht eigentlich um die Finanzierung irgendeiner Kirche, Sekte oder die finanzielle Sicherung des geplanten Studiums in den USA.

Die Boten der Scientologen lauerten früher an gewissen Tagen und zu bestimmten Zeiten an den Zu- und Abgängen des Hauptbahnhofes, manchmal auch an der Bahnhofstrasse, und dies nur wenige Schritte vom Pestalozzi-Denkmal entfernt, man stelle sich das einmal vor, weil sie genau wussten, um welche Zeit die Berufsschüler und die Studierenden der Fachhochschule für Gestaltung neben den Werktätigen abends den Zugperrons zustrebten. Diese aggressive Werbung für das Gute und Seligmachende ist bald darauf offiziell verboten worden.

Als der Andere, der Heimkehrer, etwas verdutzt und leicht irritiert dreinschaut und zunehmend unwilliger Antwort gibt, weil er sich unangenehm bedrängt fühlt, sich wie in einer Falle vorkommt, die Antworten in zunehmendem Masse ohne Bedenken absichtlich fälscht, beendet der turbantragende Asiate sein Interview mit verblüffender Routine, so als wüsste er nun genug für seine Zwecke, und zeigt dem Anderen das kleine Stück Papier, das er während der Fragerei mit Zahlen und allerhand Zeichen wie Pfeilen und ähnlichem mehr vollgeschrieben hat, säuberlich, fein und zierlich, verständlich jedoch nur für den Autor, für diesen seltsamen Asiaten, Inder, Afghanen, eine Art von Stenographie, eine asiatische Schrift vielleicht, eine Geheimschrift. Er streckt das kleine Stück Papier nur für eine sehr kurze Zeit in Richtung des Anderen, unmöglich, hierbei die zierlichen Eintragungen zu erkennen, geschweige denn zu deuten. Wie wenn jemand zum ersten Mal ein Stenogramm vor die Nase gehalten bekommt, ohne die Abkürzungsschrift je erlernt zu haben.

Sehen Sie, sagte er in unvermindert freundlichem, ruhigem und warmem Ton, in seinem gut verständlichen, gepflegten Englisch, und er schien dabei unentwegt den Duft eines schweren, süssen Parfums auszustrahlen. Ihre Antworten habe ich in Zahlen ausgedrückt, sehen Sie her, und auf diese Weise komme ich ohne weiteres zum gesuchten Ergebnis und weiss jetzt sehr genau und vor allem mit Sicherheit, wie es Ihnen künftig geht, nicht bloss ganz allgemein, sondern auch im Speziellen und - jetzt lässt er die Katze aus dem Sack, fuhr dem Andern durch den Kopf - nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht, so wiederholte er, schaute dem Andern offen und heiter in die Augen, was Sie vermutlich besonders interessieren dürfte, was Sie als Familienvater und Ehemann am meisten interessieren müsste, sonst wären sie kein guter Vater oder Ehemann, aber Sie sind doch ein guter Ehemann und Vater. Suerly. Das weiss ich. You are a good husband. And you are a good faher, too. I see that. I know that. You are a good husband. I feel that. You are a very very very good father and a very good husband.

Er blickte dem Andern unentwegt unverstellt und nun geradezu Dank heischend ins Gesicht, aber nur kurz, eigenartig geschäftsmässig und doch zugleich mit einer beeindruckenden Intensität.

Ja, wie soll denn das Ergebnis lauten? dachte der Andere, wohl wissend, dass er ja gegen den Schluss des Interviews mit anfänglich gutem Gewissen absichtlich falsche Antworten gegeben hatte und im Nachhinein doch für einen kurzen Augenblick lang unsicher wurde, ob es geschickt gewesen war, einige Antworten absichtlich zu fälschen. Sollte er bekennen? Sollte er ehrlich sein? Sollte er hier im Gang eines Wagens der SBB, 1. Klasse, von Vandalismus unversehrt, den andern demütigen, blossstellen und so möglicherweise der Lächerlichkeit preisgeben? Oder hatte er vielleicht doch eine einmalige Chance durch seine lügenhaften Antworten allzu leichtfertig verscherzt?

Er war auch in schwierigen Zeiten in seinem Leben wenn immer möglich für Ehrlichkeit eingetreten, wenn immer möglich für die Wahrheit, das heisst, was er in guten Treuen für wahr hielt. Aber nun schwieg er. Er fühlte sich plötzlich unwohl. Es drängte ihn ins Freie, nach Hause, einfach weg von hier, raus aus diesem Zug, raus aus dieser mit Parfüm geschwängerten Enge. Hinaus ins Freie. Nach Hause. Heim.

Man näherte sich inzwischen der nächsten Station. Der dunkelhäutige, turbantragende, parfümierte Mitfahrer ging ihm jetzt ganz einfach auf die Nerven. Dieser Turkmene, Afghane oder Inder überspielte jedoch mit grosser Ruhe die eingetretene Pause und fügte ungerührt hinzu, ohne von der Stelle zu weichen, aber doch unvermindert drängend, der andere möge ihm doch seine Arbeit und insofern seine Prophezeiungen entgelten, zum voraus, das sei doch selbstverständlich, bevor er die Wahrheit erfahre, die – was die Finanzen betrifft - ganz und gar nicht ungünstige.

Der Andere schwieg beharrlich. Nun erfolgte eine Art von Beschwörung, als der Andere immer noch zögerte, nach seinem Portemonnaie oder seiner Brieftasche zu greifen. Geben und Nehmen sei doch ein Grundgesetz des Lebens, nein, das Grundprinzip überhaupt des Lebens, wie Einatmen und Ausatmen, Systole und Diastole, do ut des. Die lateinischen und griechischen Worte brauchte der Afghane oder Turkmene nicht, die kam jedoch dem Andern unwillkürlich in den Sinn. Ohne Geben und Nehmen würde nichts auf dieser Welt funktionieren, jede Leistung auf dieser Welt müsse bezahlt werden, auch die geringste und schliesslich würde ja auch das Leben mit dem Tod bezahlt, so fügte er mit leiser aber fester Stimme hinzu, als hätte er jetzt gerade den Gral enthüllt. Seine Voraussage sei doch eine anerkennenswerte Leistung, eine freiwillige übrigens, eine glücklich gefügte, einfach so von Mensch zu Mensch, eine durch und durch menschenfreundliche Dienstleistung, von welcher der andere glücklicherweise profitieren könne, eine ganz besondere Dienstleistung sogar, eine ins Überirdische, ins Tranzendente greifende, für die der andere eigentlich froh und dankbar sein sollte und vor allem dessen Familie, seine drei Söhne. Denken Sie an ihre Söhne! Ihre drei lieben Söhne! Denken Sie an Ihre liebe Frau!

Die Einmaligkeit und Ungewissheit des Augenblicks, das eigentümlich Schwebende, der Eindruck des Fremden, Exotischen, das süsse, schwere Parfum, die Erinnerung an betäubenden Rauchstäbchenzauber und zeremonielles Teetrinken aus der Studentenzeit bei einem Kollegen, Andreas, Andi genannt, der ihm und seiner Freundin wiederholt ein unerhört mundendes Nasi Goreng bei sich zu Hause zubereitet hatte, als die asiatischen Genüsse und spezialisierten Restaurants hierzulande noch wenig verbreitet waren, wie er es seither nie mehr bekommen hatte, der kürzlich zu seiner Überraschung zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war, so hatte er unlängst aus seiner Zeitung erfahren, die sogar den vollen Namen des ehemaligen Studienkollegen abdruckte, verurteilt, weil er als selbsternannter Psychotherapeut mit über zehnjähriger Universitätserfahrung, aber ohne formellen Abschluss als selbst ernannter Aids-Spezialist seltsam verwerfliche sexuelle Handlungen an Frauen, an seinen Patientinnen, bzw. Klientinnen vorgenommen hatte oder sich in seiner Praxis hatte vorführen lassen, machte den Andern nur kurze Zeit wanken. Ein seltsamer und zunehmender Widerwille war in ihm aufgestiegen, eine stille, beissende Wut gegen den Unbekannten, diesen Hellseher, Zauberer, Gaukler, Sexualtäter, Sexualmissetäter, Aids-Heiler, Scharlatan, gegen diesen geschleckten, hybrid kostümierten aber doch so unerhört ruhig, seriös und suggestiv wirkenden Asiaten, Inder oder Pakistani oder Afghane samt seinem gepflegten bordeauxroten Turban.

Er erinnerte sich traumhaft schnell an seine eigenen Scharlatanerien vor Jahrzehnten als Student der Kunstgeschichte, Philosophie, Psychologie und Geschichte. Es war damals in einer Phase der Unsicherheit und der zunehmenden Ungeduld, was er mit all dem historischen, strukturellen und Wesens- Wissen über den Menschen und dessen Seele, d. h. dessen Erleben und Verhalten anfangen sollte, praktisch, wie er mit diesen betörenden, weitreichenden und tiefgreifenden Erkenntnissen seinen Lebensunterhalt erwerben sollte, ganz konkret und anständig, aber ausreichend, Selbstsein hin oder her, eigentliches oder noch nicht ganz eigentliches. Die Geworfenheit des menschlichen Daseins, dessen Grundgestimmtheit durch die Angst, das Verdammtsein zur Freiheit, das Verfallensein an das Man und an die besorgte Welt, das verfallend-erschlossene, geworfen-entwerfende In-der-Welt-sein , dem es in seinem Sein bei der „Welt“ und im Mitsein mit Anderen um das eigenste Seinkönnen selbst geht und das unentwegte, unempathische, schlichte Selbstsein als durchgängiges Strukturmerkmal des menschlichen Daseins im Unterschied zu allem, was sonst noch ist, das Gewissen-haben-wollen, ja das Gewissen-haben-wollen, der Durchbruch des menschlichen Daseins zur Eigentlichkeit: dies alles war zunächst wunderbar erhebend, berauschend, betörend, von der grauen, routinehaften Alltäglichkeit abgehoben, nicht herkömmlich religiös, sondern geradezu esoterisch und insofern verführerisch, obwohl als streng wissenschaftlich deklariert, die Vorlesungen des immer auch sehr in Kleidung und Haartracht äusserst gepflegt auftretenden Philosophie- und Psychologieprofessors wie feierliche Gottesdienste, so hatte er es jedenfalls empfunden, wo vom Sein als wie von Gott geredet wurde, nur eben in der damaligen Gestimmtheit vieler Studenten irgendwie erhebender, moderner, manchmal geradezu delierienhaft wirkend in der seltsam heiligen Stille des dicht besetzten Hörsaales.

Aber die Enttäuschung war damals nicht nach der Kunde über Heideggers eigenem Weg zur Eigentlichkeit gekommen, der in die Vernarrung in die übermenschliche Epoche des Dritten Reiches gemündet war. Die Enttäuschung war grundsätzlicher und von ganz persönlicher Art.

Auch von der Graphologie hatte er schon seit langem Abschied genommen, die sogenannten Tiefeninterviews und projektiven Tests - vor allem die nach Rorschach und Szondi - hatten ihn bald einmal eigentümlich befremdet und ermüdet, die eindrücklichen Wälzer standen seit Jahren unberührt in seinem wandfüllenden Büchergestell. Einige hatte er unlängst entsorgt. Die Tintenklecks- und Gesichtsdeutungen erschienen ihm bald einmal willkürlich und ungenügend, für ihn wissenschaftlich nicht haltbar, gelehrt wirkender Hokuspokus - ebenso wie die Bilddeutungen seines rhetorisch brillanten und manchmal ausufernden Kunstprofessors, Freund vieler berühmter Künstler, vernarrt in Rubens und seine gewaltigen Weiber mit ihren Kuhaugen.

Da war er in seiner Studentenzeit zudem in einer auflagenstarken Zeitschrift auf einen Artikel gestossen, jedermann, auch dem letzten ungebildeten Idioten zugänglich, in einfacher Sprache dargestellt, auf einen Artikel über die Handlesekunst, über die Chirognomie und über die darauf basierende Wahrsagekunst, die Chiromantie, mit einigen einfachen Darstellungen über die Lebens- oder Schicksalslinie vor allem, über andere interessante Linien und Erhebungen auf der linken Handinnenseite, die über die Gesundheit Auskunft gaben, über das Temperament, über die eigene Fruchtbarkeit und über anderes mehr. Er las erstaunliche Dinge über die Marsebene, den Venus-, Mars- und Mondberg, und dies in einer Sprache, die ihn an die astrologischen Deutungen in unseren Zeitungen und Zeitschriften erinnerten. Also leicht zu erlernen und zu merken.

Und in einem Anflug von nicht ernst gemeintem, spielerischem Umgang mit seinem psychologisch-anthropologisch-historischem Wissen, weder trunken noch betrunken, sondern in gelöster Stimmung nahm er mitten an einem heiteren Morgen bei einer Tasse heissen Kaffees in der Mensa der Universität die linke, auf dem Tisch vor ihm ruhende Hand einer Studienkollegin in seine Hände.

Er mochte dieses in jeder Hinsicht frische Mädchen sehr, diese flachsblonde, etwas behäbige Arzttochter aus München. Immer wieder trafen sie sich hier wie zufällig, um miteinander zu diskutieren oder sich über die stinkbürgerliche Welt ihrer Eltern und Grosseltern zu ärgern und zu motzen.

Und sie liess es an jenem heitern Morgen überraschenderweise ohne weiteres geschehen. Und so fing er unverzüglich an, darin zu “lesen“ und das „Gelesene“ flugs zu übersetzen, kurzerhand, ohne lange zu überlegen, ohne zu zögern, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt.

Dein Venusberg ist schwach entwickelt, sagte er mit zunächst ungewohnt leiser aber fester Stimme, und er berührte unglaublich sanft die entsprechende Stelle in deren linken Handinnenseite. Die Marsebene ist ausgeprägt. Kämpfe sind Dein Thema. Nicht die Liebe. Die Liebe existiert zwar auch, doch sie dominiert nicht in deinem Leben, sie bildet nicht das Zentrum, Du ziehst es vor, Dich mit Deinen Mitmenschen kämpferisch auseinander zu setzen. Dir geht es um entweder oder, um Sieg oder Niederlage. Du wagst und liebst den Einsatz von Kraft, ja vielleicht in gewissen Situationen von Gewalt, aber dies muss nicht körperliche Gewalt sein, bei Dir sicher nicht mit Deinen vorzüglichen intellektuellen, emotionalen und kommunikativen Fähigkeiten. Diese Gewalt kann durchaus verbal sein, kommunikativ, die Gewalt, die Ausübung von Macht, dies kann auch in der persönlichen Haltung, in der ganz persönlichen Ausstrahlung zum Ausdruck kommen. Doch diese Linie da - und er legte eine kleine Pause ein - dein Leben wird, und er zögerte erneut, mit einiger, nein, mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht sehr lange dauern. Die Lebenslinie hier - und er wies mit seinem linken Zeigefinger darauf - weist deutlich zwei Knickungen, nein, nur eine, nur eine einzige, eine eigentliche Unterbrechung. Krankheit oder vielleicht ein Unfall, eine Phase des Sich-vom-Leben-Zurückziehens, vielleicht auch ein Verlangen, sich selber umzubringen liegt im Bereich des Möglichen. Und leicht erschreckt über die eigenen Worte, die sich ruhig aber bestimmt anhörten, fügte er sogleich hinzu: was ich bei Dir eigentlich nicht befürchte, bei Dir eigentlich am allerwenigsten, auf alle Fälle weniger als bei mir selbst. Dein Leben wird, so macht es den Anschein, die kurze Lebenslinie zeigt uns das, nicht so lange dauern wie bei der Mehrzahl der Menschen heutzutage, die immer häufiger achtzig Jahre und älter und dabei mit einer zunehmenden Häufigkeit dement werden, Arteriosklerose bekommen oder sehr oft auch Alzheimer. Das könnte Dein Glück sein, Dein besonderes Glück, Dein Vorzug, ein kurzes Leben, das wird wohl Dein Glück sein, das ich auch mir wünsche: kein Parkinson, keine Altersdemenz, keine Arteriosklerose, kein Rheuma, keine Arthrose, kein Hirnschlag, kein geistiger und körperlicher Verfall, kein Marasmus, vor allem jedoch nichts von der Krankheit benannt nach dem Psychiater Alois Alzheimer, Breslau, geboren 1864 und gestorben 1915. Vielleicht, nein, ganz sicher, so bin ich überzeugt, wird die Wissenschaft ein wirksames Mittel dagegen gefunden haben, bis wir beide so alt sind wie heute unsere Grosseltern oder Eltern, dafür bürgt die Wissenschaft und oder die Basler oder sonst eine andere Chemie.

Die Worte waren nicht ernst und vor allem alles andere als wissenschaftliche Aussagen gemeint. Aber mit ernster Stimme vorgetragen.

Ein mutwilliges Spiel. Ein Überfall am helllichten Tag. Ein übler Fall.

Er war beim “Lesen“ und Deuten der Handlinien unvermittelt in einen Redeton gefallen, in eine Art von Singsang, ein Solo, so kam es ihm vor, eine Arie, würde man bei einer Oper sagen, was ihn selber überraschte. Er redete nicht eigentlich, er hörte sich vielmehr reden, es tönte für ihn wie eine Litanei, eine Beschwörung, seltsam entfremdet und doch merkwürdig gegenwärtig. Er erkannte seine Stimme nicht mehr als seine eigene. Sie tönte so fremd, dass er darob erschrak. Er hatte beim spontan improvisierten, ihm selbst als übermütig erscheinenden Dekodieren der Handlinien und Muskelbildungen mit ebenso phantasiereichen, aufgekratzten, spielerischen, neckischen, ja sogar spöttischen Reaktionen seiner Studienkollegin gerechnet. Aber wie erstaunt und leicht verwirrt war er, als er bemerkte, wie seine Kollegin ihm mit zunehmender Aufmerksamkeit, ja geradezu angestrengt zugehört hatte, ohne ihm je einmal ins Wort zu fallen, wie er sonst bei ihr gewohnt war, seine Worte wie etwas Kostbares, so erschien es ihm, etwas Unerhörtes, sicher aber als etwas Wahres, Ernstzunehmendes einschlürfte und mehr stets noch mehr wissen wollte, bis er endlich schwieg, weil er ganz entschieden abtreten, fliehen wollte, weil er selber, von seinem unbedarft mutwilligen Tun erschreckt, plötzlich genug von diesem seinem Tun hatte.

Er hatte ihre Kritikfähigkeit als auch ihre lockere Bereitschaft zum mutwilligen Spiel ganz einfach falsch eingeschätzt. Er war verblüfft darüber, dass und wie seine aus der Luft gegriffenen spontanen Deutungen gewirkt hatten. War nicht jeder mittelmässige, nicht studierte, aber überzeugte Naturheiler, Gesundbeter, Weissager einem wissenschaftlich geschulten Therapeuten turmhoch überlegen, wenn er bloss entschieden genug und überzeugend auftrat? Das beschäftigte ihn fortan immer wieder.

Mit der raschen und unvermittelt herausplatzenden Ausrede, er habe einen für ihn wichtigen Termin, einer Ausrede, die keine Widerrede zuliess, nahm er den letzten Schluck kalten Kaffees, ergriff die Tasse, um sie rasch ins Gestell am Ausgang zurückzugeben, eilte hastig und ohne sich weiter umzusehen davon.

Er musste sich sehr beeilen, um rechtzeitig im Kunsthaus zu sein. Bildbetrachtung war angesagt, wie gewohnt an einem Mittwochvormittag, die wollte er um nichts in der Welt verpassen, Bildbetrachtung und -deutung am Beispiel von Werken von Manet, Monet und vor allem von Bonnard. Ein Bild von Bonnard, so wusste er, würde heute im Zentrum stehen, das Gemälde mit einem Boot auf dunkelblauer dunkler, aufgewühlter See. Gemaltes Unbewusstes. Sein Professor, mit manchen namhaften Künstlern befreundet, würde wieder ins Schwärmen kommen und seine Studentinnen und Studenten mit seinen Deutungen und Anspielungen anstecken und verblüffen.


Beim hastigen Hinwegeilen aus dem Zug kamen ihm seine Eltern in den Sinn, beide in jungen Jahren angeblich mit übersinnlichen Fähigkeiten begabt, die sie ungleich nutzen, und die sie belasteten, wie seine Mutter ihm mehrmals berichte. Kein Wort über seine übersinnlichen Erfahrungen liess der Vater jemals fallen. Dieser, so erzählte die Mutter, hätte als junger Mann die Gabe besessen, den Tod von ihm bekannten Menschen vorauszusagen. Verblüfft, ungläubig zunächst, dann zunehmend terrorisiert von dieser unheimlichen Gabe, hätte er immer wieder die Probe aufs Exempel gemacht. Und es stimmte, er konnte den Tod voraussagen - den Tod, nicht die Todesursache - , das heisst den Zeitpunkt des Todes von anderen Menschen, nicht von irgend welchen, sondern von ihm nahe stehenden Menschen. Er hätte stark unter dieser unwillkommenen und unerwünschten Fähigkeit gelitten.

Da träumte er in seiner Not, er müsste durch einen langen Tunnel gehen, einen Tunnel, der kein Ende nehmen wollte. Dabei vernahm er eine Stimme: ein Geist, ein Engel oder Gott selbst? Er bräuchte bloss seine Bibliothek - bestehend aus Dutzenden von esoterischen und okkulten Büchern - zu vernichten, um frei zu werden, frei von der Last des Todesblickes. Er erwachte in höchster Erregung, am ganzen Leibe zitternd, stand auf und führte den im Traum empfangenen Auftrag ohne weitere Besinnung aus. Er verbrannte alle seine zum Teil recht wertvollen okkulten, spiritistischen und esoterischen Bücher und Schriften und behielt nur noch einige alte Bibeln zurück, Bibeln auf Deutsch, Russisch und Lettisch und eine biblische Hand-Konkordanz, Bremen, fünfte unveränderte Auflage, Buchhandlung und Verlag des Traktathauses G.m.b.H. , ein über tausend Seiten umfassendes Buch mit schwarzem Einband, Goldaufdruck, aber ohne Angabe des oder der Verfasser und des Jahres der Drucklegung.

Er vertiefte sich in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten noch mehr in die Bibel, als er es bisher schon getan hatte, in sein liebstes Buch, und verblüffte mit seinen Kenntnissen der Heiligen Schrift bis zu seinem Lebensende schelmisch manchen wohlbestallten Pfarrer.

Die Mutter hingegen wusste mit ihren Träumen ähnliches anzufangen: sie glaubte auf Grund von entsprechenden Erfahrungen in die Zukunft blicken zu können, fühlte sich jedoch auf eine unbeschwerte Art hellseherisch begabt. Sie empfand diese Fähigkeit als ein ganz besonderes Vermögen, ein Geschenk, eine Fähigkeit, die ihrer Meinung nur wenige Menschen besassen, ohne jedoch von Hellseherei zu sprechen, höchstens von Ahnungen. Und sie ahnte immer wieder.

Inzwischen hat er mit Mappe und wehendem Regenmantel den Zug im kleinen Bahnhof an seinem Wohnort fluchtartig verlassen. Der sanfte, zudringliche Asiate im bordeauxroten Turban folgt ihm jedoch nicht, wie er einen Augenblick lang befürchtete. Leicht benommen aber doch auch erleichtert eilt er die Anhöhe hinauf, froh, einem möglichen Unheil entronnen zu sein.

Mehr ausser Atem als gewöhnlich und leicht verschwitzt öffnet er hastig die Türe zu seiner Wohnung, die heute merkwürdigerweise nicht abgeschlossen ist, und verfügt sich sogleich hinweg ins Badezimmer, um seine Hände zu waschen, sein erhitztes Gesicht zu kühlen. Er blickt in den Spiegel, erkennt sich. Ein müdes, leicht verschwommenes Gesicht blickt ihn an, darüber ein bordeauxroter Turban, ein mächtiger, prächtiger bordeauxroter Turban. Ihm wird schwindlig. Er hält sich krampfhaft mit beiden Händen am Lavabo fest. Seine Augen schliessen sich.. Schwer geht sein Atem. Er öffnet erneut die Augen und schaut nochmals hinein, mitten in den sauberen Spiegel.

Ein dumpfer Aufprall. Aus der Küche kommt erschrocken seine Frau herbeigeeilt. Sie ist verwundert, dass ihr Mann sich ganz entgegen seiner Gewohnheit ohne sie zuerst zu grüssen und zu küssen gleich ins Badezimmer verfügt hat. Sie stösst die Türe unwillig hastig auf, erschrickt, schreit auf, wie sie sich noch nie hat schreien hören. Vor ihr liegt ihr Mann bewegungslos am Boden zusammengekauert, Ledermappe Mappe und zerknüllter Regenmantel daneben.

Ein Fischer entdeckt am nächsten Morgen in der Früh nahe beim Schiffssteg einen bordeauxroten Turban. Er bringt ihn nach seiner enttäuschenden Jagd nach Fischen nach Hause, missmutig, um seiner Frau doch etwas vorweisen zu können, das sie bestimmt überraschen oder gar erheitern würde. Doch die fordert ihn nach kurzem Hinblicken mit lauter Stimme auf, sich noch vor dem Essen mit diesem seltsamen Turban bei der Polizei zu melden. Vielleicht handle es sich hier um ein Verbrechen. Auf jeden Fall müsse das gemeldet werden. Das sei jedenfalls nichts Alltägliches. Ihr sei das einfach nicht geheuer. Da müsse gemeldet werden, und zwar sofort.

Der Fischer lässt den bordeauxroten Turban in einer Einkaufstasche, die er stets bei sich hat, verschwinden und setzt sich leicht verärgert in seinen Wagen, fährt auf dem kürzesten Weg zum Polizeiposten des Ortes und legt den bordeauxroten und noch leicht tropfenden Turban unwillig und doch zugleich leicht belustigt auf die breite Abschrankung, hinter der zwei weitere Polizisten an ihren Schreibtischen so tun, als ob sie mit wichtigeren Dingen beschäftigt wären. Der diensthabende Uniformierte nimmt den Turban grinsend kopfschüttelnd entgegen und legt ihn wortlos in ein Gestell an der Wand, wo vermutlich noch andere merkwürdige Dinge lagern. Name und Adresse des Fischers verlangt er nicht zu wissen. Er kennt ja den Mann. Vom örtlichen Zivilschutz.

Man würde vorerst einmal eine allfällige Verlustmeldung abwarten.

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