Skip to the content

MALOJA

Wonnige Wärme trotz auffrischendem Wind. Ich greife zu meinem dickwandigen Glas gefüllt mit Veltliner, unverzichtbarer Begleiter seit Jahren auf unseren Wanderungen und Bergtouren. Dieser munter machende Wind. Der wolkenlose Himmel wieder so blau. Ich fühle mich getragen, selig abgehoben wie eine Segelfliegerin, eine Adlerin schwerelos über der Erde. Allein wieder zurück auf dem Boden freue mich auf den ersten Schluck, greife mit den Lippen nach meinem Glas. Aber das ist ja kein Veltliner. Das ist Asche, das spüre ich sogleich, nehme noch einen kleinen Schluck wie bei der Degustation eines mir noch unbekannten Weines. Dabei weiss ich ja gar nicht, wie Asche schmeckt. Ich habe noch nie weder Asche getrunken noch gegessen. Wie das trotzdem so leicht runtergeht, so sanft, so weich. Aber nun beginnt es mir in der Kehle zu brennen. Angst steigt auf. Seltsam, ich kann trotzdem ungehindert atmen, merke ich, seltsam, dass ich nicht selbst verbrenne und selber zu Asche werde.

Ich wundere mich noch eine ganze Weile nach dem Aufwachen allein in meinem Bett daheim, habe ich doch schon eine Ewigkeit nicht mehr geträumt. Mein Mann hätte bloss gesagt: „Menschen träumen jede Nacht, aber sie erinnern sich nicht immer.“

Gehen wir einige Jahre zurück.

Spürbar stärker schlagen unsere Herzen wie jedes Mal, wenn wir uns auf dem Julier dem Dörfchen Silvaplana nähern, dann ist Maloja nicht mehr weit: der Turm, der nach Mittelalter aussieht, aber bloss einige Jahrzehnte alt ist, die Gletschertöpfe, ja, die sind um einiges älter als der Turm, das Schweizerhaus, das Atelier von Giovanni Segantini, sein Grab, die andern Gräber.

Der tiefblaue Himmel mitten im Sommer meist wolkenlos. Den Ufern der Seen entlang Wanderer, Velofahrer, Biker, Surfer. Rot und gelb dominieren. Einige Wanderer in hellem Grün. Menschen aus aller Welt, Liebhaberinnen und Liebhaber des Engadins, erkennbar als einfache Wanderer aber auch als durchtrainierte, gut ausgerüstete Bergsteiger und Bergsteigerinnen. Und Biker. Ja, diese Biker. Seit einigen Jahren zunehmend, diese zum Teil stur wirkenden energiegeladenen, abenteuerlustigen Mountainbiker. Halten sich leider nicht immer an die Fahrverbote auf den entsprechend markierten Strecken, auf den geschützten Wanderwegen, lassen sich auch hin und wieder bei schönstem Wetter auf hässliche Wortgefechte mit langweiligen Fussgängern ein. Werden mitunter handgreiflich, schleudern gar ihre teuren Vehikel gegen händeringend protestierende Wanderer, die manchmal so enervierend langsam in der Mitte des Weges gehen und einfach nicht rechtzeitig ausweichen trotz heftigem Geklingel und keuchenden Warnrufen. Vor allem gegen so gemütlich und stur dahinwandernde Senioren, neulich so geschehen. Sowohl das Lokalblatt als auch das Lokalradio haben darüber berichtet, und die Kurdirektoren, eilfertig besorgt, haben alle Beteiligten eindringlich zu Friedfertigkeit, Rücksichtnahme und Toleranz aufgerufen.

Aber da sind gottlob auch ganz gewöhnlich und gemütlich sich fortbewegende Velofahrer, die sich an die Markierungen und Hinweisschilder halten. Und da sind auch die zumeist harmlosen Jogger in farbenfrohen hautnahen Überzügen. Auffallend viele Grau- und Weisshaarige mit da und dort etwas gewagter Kopfbedeckung. Auch ihre Zahl von Jahr zu Jahr deutlich zuzunehmend. Manche Fussgänger mit Wanderstock, immer mehr jedoch mit zwei Stöcken, eine für die linke, die andere für die rechte Hand. Das gab es früher nicht, oder habe ich nicht darauf geachtet oder gar vergessen? Das Spazieren oder Wandern mit zwei Stöcken, von Unkundigen hin und wieder als Stock-Indianertum verspottet oder bloss belächelt, liegt offenbar im Trend. Aber es sind doch immer wieder mal Stock-Enten dabei, finde ich. Achtet doch einmal auf die Gangart mancher dieser keuchenden Stockindianer!

Und Hunde. Immer wieder diese Hunde. Grosse, kleine und viele mittlere. Meist Rassehunde. Auf allen Wegen und in den blühende Alpweiden kurz vor dem Heuet, der hier oben um Wochen später als im Tiefland unten erfolgt. Und immer wieder dieser Duft! Dieser erfrischende Wind. Könnte man bloss fliegen, die Arme ausbreiten, tüchtig durchatmen und dabei wähnen, alle Köstlichkeiten des Lebens in sich aufzunehmen - die uns vertrauten, die von uns ersehnten und die verpassten.

Das Gefühl von prickelndem Champagner. Ein Cliché? Mag sein. Schmeckt gar nach einem süffigen Werbespruch? Was soll's? Champagner brut! So jedenfalls mein Gefühl. Dieser auffrischende Winde hier oben im Engadin. Der regt an. Das kribbelt nur so. Der macht Mut, lässt mir meine Sorgen vergessen. Könnte ich doch eine Segelfliegerin sein im Malojawind! Oder noch besser eine mächtige Adlerin hoch über diesem traumhaft schönen Tal.

Regelmässig zu dieser Jahreszeit bei schönem Wetter, dieser „falsche“ Wind, kurz vor dem Mittag einsetzend, mit 20 bis 30 km/h am Boden (Beaufort-Skala Stärke 4, Böen 5 bis 6). „Falsch“ sagt man, weil er talabwärts weht und nicht umgekehrt. Die Surfer auf dem Silvaplaner See wissen diese Laune der Natur hier oben zu schätzen und zu nützen und wimmeln vor allem am Nachmittag eifrig und farbenfroh über die Weite des Sees. Warm durchsonnt am Tag ist es meist hier oben um diese Jahreszeit und angenehm mild. Und stets erfrischend kühl am Abend. Und vor allem in der Nacht. Da kann man sich so richtig erholen - ohne trendiges, strukturiertes und ach so teures Wellness-Programm in angesagten Sterne-Häusern.

Störend für mich wiederum die seitliche Anschrift am Kulm-Hotel von K, angesehener Direktor des Hotels: MALOYA : KULM..Warum dieses Y statt des üblichen J ? Und warum in aller Welt der Punkt am Ende der Beschriftung? frage ich mich erneut, ganz zu schweigen vom Doppelpunkt zwischen MALOYA und KULM. Was für orthographische Ausschweifungen in dieser erregenden Höhe!

Ausschweifungen, Blüten dieser Art gibt’s aber auch im Tiefland. Das stellte ich zufällig vor ein paar Wochen in Potsdam fest beim Lesen der Anschrift auf der Aussenseite des Schlosses Sans Souci:“ Sans, soucis.“ Tatsächlich so. Für solche Finessen helfen weder die eigenen soliden Spachkenntnisse noch der neueste Duden.

Zurück ins Engadin! Wir kommen ja aus ganz anderen Gründen jeden Sommer hierher. Fast jeden. Wir erleben die Tage hier oben jedes Mal erneut mit all unseren Sinnen zugleich. Die Welt erscheint uns hier in diesem Hochtal heller, klarer, luftiger, inniger, sorgenfreier, sans soucis, betörender und intensiver als im Unterland.

Oder sollten wir endlich einmal Herrn K fragen, den rotblond graubärtigen Direktor, der zugleich Gemeindepräsident ist, was er uns zur Anschrift an seinem Hotel zu sagen hat? Aber das wollten wir ja schon im letzten und vorletzten Jahr.

Wie seit Jahren zunächst wieder die üblichen, gleichsam rituellen Spaziergänge und Ausflüge. Zuerst die kleinen, dann die ausgedehnten und anspruchsvolleren Wanderungen: Lägh da Cavloc, Via Engiadina, Fextal, Lunghinpass, Sentiero Storico von Casaccia nach Soglio oder gar schon von Maloja aus. Geführte Gruppen mit dem Dorfschullehrer, der seine Ferien lieber daheim verbringt, hier in Maloja, und entsprechend bewandert ist. Oder doch lieber auf eigene Faust? Mit Rucksack, Sonnenschutz und Windjacke, mit Knirps und Pullover trotz angekündigten hochsommerlichen Temperaturen. Mindestens eine Flasche gefüllt mit kühlem Wasser vom Hahnen im Hotelzimmer. Eine Flasche Veltliner und zwei bodenständig rustikale Gläser.

Der rote Veltliner, der uns im Tal unten etwas hart und metallisch im Gaumen vorkommt, schmeckt uns hier oben auf wunderliche Weise besser. Nach den Gründen zu fragen habe ich schon lange aufgegeben. Veltliner, aus rustikalen Gläsern getrunken, die Gläser vor Jahren daheim im Unterland gekauft, ständig im Rucksack mitgeführt, dickwandig bodenständige, besser als direkt aus der Flasche oder aus einem Karton und Plastikbecher, wie ich es in Australien erlebt habe. Dazu knuspriges Brot, Käse oder Wurst und eine Tafel Schokolade, gedörrte Früchte.

In den letzten Jahren sind unsere sommerlichen Wanderungen hier oben nicht nur kürzer geworden sondern auch geruhsamer, unserem Alter gehorchend. Keine Sechs-, Sieben- und Acht-Stünder mehr. Keine brennenden Blasen an den Füssen, die seit letztem Jahr in einer Art von leichten aber festen Turnschuhen stecken, nicht mehr in so schweren, dick besohlten oder gar genagelten Bergschuhen aus festem Leder, imprägniert, der Stolz unserer Kinder- und Jugendjahre. Dafür vermehrt Zwischenhalte, Erholungspausen in Alpwirtschaften und gemütlichen Gasthöfen, wenn immer möglich im Freien, am liebsten unter Schatten spendenden Bäumen oder aufgespannten Sonnenschirmen, welche zwar oft die aufdringlichen Logos von Bier- und Getränkefirmen tragen, Gratisschirmen vermutlich, aufgenötigten Werbeträgern an Orten, die wir in jungen Jahren entschieden gemieden haben.

Ausgenommen die Pension Crasta im Fextal mit den hausgemachten Heidelbeerkuchen, mit oder ohne Schlagrahm. Und dann der Ruhehalt am Abend nach den selbst auferlegten Strapazen bei einem kühlen Bier auf dem Vorplatz des markanten Chalets, unserem Hotel, dem etwas wuchtig geratenen Holzbau unweit vom einstigen Wohnhaus und Atelier von Giovanni Segantini.

Seine seltsam leuchtenden Bilder kenne ich schon lange, und sie haben es mir sogleich angetan, seine durchsonnten Bündner Landschaften im Kunsthaus der grossen Stadt am Ende des Sees und in anderen Museen. „Ave Maria a trasbordo“ war mir schon als kleines Mädchen vertraut, lange bevor ich wusste, dass dessen Maler Giovanni Segantini hiess. Und von so etwas wie Divisionismus erfuhr ich auch erst viel später während der grossen Segantini-Ausstellung 1990/91. Oder hatte ich das kunstvolle Wort zuerst aus dem Munde meines Professors gehört, dem begeisterten und begeisternden Kunsthistoriker und Liebhaber von Rubens so hinreissend gemalten Weibern? Bei der Besprechung dieses Malers und seiner weiblichen Figuren brauchte er listigerweise das Wort „Frau“ nicht. „Diese Augen! Schauen Sie , diese Kuhaugen!“ höre ich ihn noch heute ausrufen, wenn ich mich zurückversetze. Wenig hat er in seinen unterhaltsamen Vorlesungen und anderen Veranstaltungen abgelesen, kaum einmal ein regelrechtes Manuskript zur Unterstützung gebraucht. Improvisiert hat er, gestikuliert und uns alle immer wieder begeistert. Auch für Giovanni Segantini und dessen Heimat, das Engadin, Schafberg, Maloja. Ave Maria.

Und dieser Maler hat doch immer wieder auch Kühe gemalt. Aber nicht solch kraftvoll wuchtige Weiber wie Rubens. Dafür Frauen in Bäumen hängend, verfangen, verflucht, büssend, leidend, dem Wetter und den bösen Winden über Maloja ausgesetzt, „Le cattive madri“ und „Il castigo delle lussuriose“. Die bösen Mütter, Frauen, welche nicht Mutter sein wollten oder konnten, Frauen, die in ihrer Not vielleicht abgetrieben haben.

Das berührt mich. Eigentlich hätte ich fünf Kinder haben können, wenn alles gut gegangen wäre.

Das „Schweizerhaus“, vom Ehepaar M - aus dem Unterland zugezogen - während vieler Jahre umsichtig geführt und mit den Jahren sukzessive aus- und hinzugebaut. Sie mit ihrem anstrengungslosen österreichischen Charme. Er hin und wieder bärbeissig, manchmal geradezu unfreundlich. Wenigstens uns gegenüber. So empfand ich es immer wieder. Jedoch nicht zu seinen Stammgästen, für die er in der Nähe der Rezeption einen speziellen Tisch freihielt. Stammgast hätte man sein müssen hier oben in diesem grossen Chalet. So weit haben wir es nicht gebracht. Dieser Ehrgeiz fehlte uns. Stammgäste des Engadins blieben wir trotzdem.

Zur Mittagszeit bei schönem Wetter draussen vor dem grossen Chalet am Grill der Chef, die Kochmütze und Schürze blendend weiss, schon von weitem ins Auge der Auto- und Töfffahrer stechend. Inzwischen verstorben, unerwartet, wie es in der Todesanzeige hiess. Die Gäste kommen unvermindert. Nicht nur die Stammgäste. Merken nicht immer, dass der Chef, der Fremde, der ursprünglich aus dem Unterland kam, im nahen Friedhof ruht. Die Menu-Karte fast unverändert. Die Preise erneut leicht angehoben.

Nicht so sehr aus Sparsamkeit waren wir jahrelang den zahlreichen Restaurants und anderen Gaststätten ausgewichen. Oder dann aus einer nicht aus dem Geiz erwachsenen Sparsamkeit. Einfach in der Absicht, wenigstens für eine gewisse Zeit möglichst autark zu leben. Nur schon das Wort „autark“ hatte es in sich, klang für uns irgendwie selbstbewusst, schmeckte nach Abenteuer, Unabhängigkeit, den eigenen Kräften und Fähigkeiten vertrauend, meilenweit weg von der alltäglichen Zivilisation mit ihren asphaltierten Strassen, lärmenden und stinkenden Autos und Motorrädern, Schiffchen, Bötchen, Bähnchen, Biergärten und Beizchen. Da war jeder Kiosk, jede Besenbeiz und jedes noch so originell aufgemotzte Restaurant für uns so etwas wie eine unwillkommene Störung, eine unerwünschte Belästigung, etwas, das unsere Phantasien von Unabhängigkeit und Abenteuer augenblicklich zunichte machte. Besonders all diese Gaststätten hoch oben in den Bergen, über 1800 Meter über Meer, nicht nur im Engadin, die sich mit Jeeps, 4-WD-Geländewagen oder seit Jahren schon auch mit Hilfe von lärmigen Helikoptern verproviantieren lassen.

Wir sind also die Jahre zuvor wenn immer möglich all diesen bekannten Örtlichkeiten ausgewichen, sind entschlossen und von uns selbst überzeugt an diesen zivilisatorischen Oasen hoch in den Bergen vorbeimarschiert, sind dabei trotzdem immer häufiger auf allerhand Unappetitliches gestossen, auch noch weit über 2000 Meter über dem Meeresspiegel. Und dies ausgerechnet in unserem paradiesisch traumhaften Engadin. Weg war unsere Champagner-Laune und das unbeschreiblich schöne Gefühl von namenloser Freiheit und Sorglosigkeit. Ärger, Wut und Traurigkeit befielen uns beim Anblick von all diesem ständig aufblühenden Unrat.

Dieser elende, kläglich ekelhafte Müll so nahe dem Himmel. Nicht viel anders als entlang dem Bruce Highway in Queensland, Australien, so mussten wir überrascht und enttäuscht feststellen, der number one, von den Leuten dort anschaulich spöttisch als bottle way bezeichnet. Nicht anders auch entlang den Autobahnen in Griechenland und anderswo. Und nun hier oben im herrlichen Engadin genau so wie an jenen fernen Orten, wie schon seit Jahren auch in den Parks und Anlagen im Unterland. Leider auch am See, am Fluss in der früher als sauber gepriesenen Stadt mit ihrem prächtigen Kunsthaus, ausgestattet mit Bildern von Giovanni Segantini aus dem Engadin, dem Divisionisten, Bilder, die für mich so etwas wie Helle, Unversehrtheit und Reinheit ausstrahlen.

Wenn da nur nicht die „cattive madri“ und „ il castigo delle lussuruose“ gewesen wären.

Weggeworfene Dosen, Flaschen, Plastik, Papier dort wie hier. Erstaunlicherweise selbst an den abgelegensten Orten. Flaschen, Alufolien, Präservative, Damenbinden, Zeitungen, sonstiges Papier. Einmal sogar eine marmorne Urne gefüllt mit schlammigem Dreck, vermutlich Asche, ein edles Gefäss, das man ruhig noch einmal hätte gebrauchen können, blutverschmutzte Spritzen und immer wieder und an den schönsten Orten - Bänkchen mit grandioser Fernsicht - Raucherresten, manchmal zu zierlichen Häufchen gefügt. Nicht anders eben als in vielen Parkanlagen, auf vielen Parkplätzen im Unterland.

Auf dem Mount Everest soll es nicht besser sein, und der ist dem Himmel um einiges näher als unser Engadin. Auch die Pole seien gefährdet, die Arktis, die Antarktis. Auch die Pole.

Auch die Meere, die verunreinigten plastifizierten Ozeane.

Auch das Weltall mit seinem verheerenden Weltraumschrott.

Wie soll das enden?

Zu dritt machen wir uns auch in diesem Sommer sogleich auf den Weg, kaum sind die Koffer ausgepackt, mein Mann und ich und unsere fast dreizehnjährige Mittel-Schnauzerin, die Piroschka, unser Rotkäppchen. Als Welpe völlig schwarz, seit einigen Jahren zusehends angegraut. Besonders stark die immer noch prächtig langen Barthaare und das Hinterteil unterhalb des Stummelschwanzes. Die Ohren hängen herunter wie eh und je. Sie dürfen ja von Gesetzes wegen nicht mehr kupiert werden. Das gleiche Schicksal sollen in absehbarer Zeit auch die Schwänze der Hunde erfahren. Staatlich verordnete Tierliebe. Wenigstens darf man den Kühen hierzulande weiterhin die Hörner absägen. Ausdruck einer merkwürdigen Tierliebe. Die rührige Werbung zeigt indes unvermindert Kühe mit ihren wunderbar stolzen Hörnern. Ökonomisch geprägte Tierliebe.

Piroschka heisst auf Deutsch Rotkäppchen. Das wussten wir beim Erwerb des Tieres nicht. Wir erwarben sie ja nicht wegen des schönen Namens. Wohl kannten wir den Film mit der Lilo Pulver in der Hauptrolle: „Ich denke oft an Piroschka.“ Für den Züchter war es wichtig, dass das Tier vorschriftsgsgemäss ein P als Erstbuchstabe im Namen hatte. Und das P musste es sein, denn im Jahr zuvor war das O an der Reihe gewesen und somit Hunde mit dem Namen Olga, Olivetti, Otto, Osmin, Obama oder Ole. P ist der fünfzehnte Buchstabe. Also der fünfzehnte Wurf. Mir graut's, wenn ich daran denke, und hoffe, der Züchter habe sich verzählt.

Gesagt hat uns das mit der Piroschka, einige Monate nach unserem Kauf, ein Sänger des hiesigen Opernchors, ein Ungar, beiläufig, zu dem wir uns draussen vor dem Gartenrestaurant hingesetzt hatten, oben auf dem Hausberg der Stadt, in die wärmende Sonne eines milden Hebsttages.

„Piroschka, das ist ungarisch Namen. Wissen Sie, was bedeutet dieses Namen ?“ fragte er uns unvermittelt und blickte uns munter ins Gesicht. „Das ist Rotkäppchen“, sagte er lachend nach einer kurzen Pause. Und wir hatten keinen Grund, dies nicht zu glauben und lachten fröhlich zurück. Piroschka. Piroschka, unser Rotkäppchen. Ein Rotkäppchen mit schwarzem Fell.

Wie schon manches Jahr unternahmen wir gleich zu Beginn unserer Ferien in Maloja zunächst den üblichen, vertrauten Spaziergang hinauf zum Lägh da Cavloc. Unsere Piroschka rannte wie in all den Jahren zuvor munter hinauf zum Wasser, hinauf zum kleinen See, wobei sie wiederholt neben dem staubigen und steinigen Weg stehen oder sitzen blieb. Das war neu. Am Rande des kleinen spiegelglatten Seeleins taten wir uns gütlich, etwas abseits, nicht weit weg oberhalb der Sennhütte mit den Offroadern daneben. Käse, Brot und Wein aus dem Rucksack, Veltliner.

Vor einem halben Jahr hatte unser Tierarzt bei unserer Piroschka ein Krebsgeschwür festgestellt. Die Bestätigung erfolgte durch einen weiteren Tierarzt, den ich zusätzlich konsultierte. Das sei nicht selten, sagten beide Ärzte ruhig und überzeugend, nein, gar nicht so selten. Besonders bei schwarzhaarigen Schnauzern.

Das gefährliche Geschwür zwischen der rechten Halsseite und dem rechten vorderen Oberschenkel hatte sich über Monate fast unmerklich herangebildet. Offensichtlich litt unser Tier darunter. Sie tat uns leid, gemahnte uns an die eigene Vergänglichkeit.

Ich dachte vorerst einmal ans Hinausschieben des Endes unseres geliebten Tieres. Verantwortlich zu sein für den Zeitpunkt des Todes unserer Piroschka war für mich schwer zu ertragen, unerträglich zweideutig: Erlösung für den Hund von seinem Leiden, aber auch Erlösung für uns, die wir unter dieser bösartigen Entwicklung litten.

Piroschka war in den letzten Monaten bei den zunehmend kürzer werdenden Spaziergängen immer häufiger einfach stehen geblieben, war manchmal nur mit Mühe zu weiteren Schritten zu bewegen. Der schnelle Antritt beim Anblick einer Katze blieb immer mehr ein manchmal lächerlich anzusehender Versuch, dem fremden Tier wie in früheren Tagen beherzt nachzurennen, aber dann sofort still zu stehen, wenn die Katze anhielt und den Buckel machte. IhrAtem war mühsam geworden, was wir zunächst auf die Unverträglichkeit mit der Hitze des Sommers und schliesslich widerwillig dem fortgeschrittenen Alter zuschrieben.

Auf Anraten unseres Tierarztes bekam sie schon seit Wochen - im Fressen versteckt - eine halbe Tablette Aspirin. Dies geschah, nachdem wir nach wochenlangem Ringen und Bereden davon Abstand genommen hatten, das nicht mehr junge Tier operativ oder chemotherapeutisch behandeln zu lassen. Der Tierarzt lobte unsere Entscheidung, und wir empfanden dabei schliesslich doch noch so etwas wie Erleichterung.

Man muss zur rechten Zeit und mit Anstand versuchen, Abschied zu nehmen von Menschen und Tieren, sagten wir uns. Leichter gesagt als getan. Besonders, wenn es sich um ein uns nahestehendes Lebewesen handelt. Sowohl von geliebten Tieren als auch von geliebten Menschen, meinte auch der Tierarzt, und wir nickten. „Ich hoffe“, fuhr er weiter, „ ich wünsche mir, dass ich es demnächst so fertig bringe wie Sie. Mit meinem Labrador. Der macht’s ja auch nicht mehr lange. Ewig lebt auch der nicht, der Toni, unser lieber Toni. Sie kennen ihn ja, unseren Toni.“ Und wir nickten erneut.

Nahrungsaufnahme und Verdauung von Piroschka gestalteten sich weiterhin klaglos wie bisher, was uns eine Zeit lang zur Annahme verführte, eigentlich sei es gar nicht so schlimm bestellt mit unserem „Rotkäppchen“. Appetit und eine gute Verdauung seien doch wichtige Zeichen für Gesundheit. Auch schlief sie des Nachts meist durch. Doch hatte sie sich das eine oder andere Mal kurz nach Mitternacht gemeldet, einmal schon um drei Uhr in der Früh, von einer inneren Unruhe gepackt, und nicht, weil sie, was äusserst selten und vor allem in den ersten Monaten des ersten Lebensjahres vorgekommen war, sich Gehör verschaffte, um nach draussen auf die nahe Wiese geführt zu werden. Oder weil ihr fast immer sprungbereiter Wächterinstinkt von irgend einem beunruhigenden Signal geweckt worden war.

Und so lassen wir unser Tier am dritten Tag unseres Aufenthaltes in Maloja in unserem gemütlichen, abgedunkelten Hotelzimmer zurück, um noch einmal, vielleicht zum letzten Mal überhaupt, den langen und steilen Weg hinauf zur Passhöhe Lunghin in Angriff zu nehmen, zur berühmten Wasserscheide. Zuflüsse von Po, Rhein und Donau haben hier ihren Ursprung auf 2645 Meter über Meer. Das weiss ich schon seit meiner längst vergangenen Schulzeit, das von diesen drei Quellen. Ob wir wohl die Passhöhe noch einmal schaffen?

Wir erreichen sie. Aber wir benötigen fast doppelt so viel Zeit wie in früheren Jahren. Unser Atem geht schwer. Immer wieder halten wir an, blicken hinunter ins Tal, bücken uns, als verneigten wir uns vor etwas Übermächtigem.

„Ja, dort, siehst du, dort ist die Wasserscheide?“ so höre ich meinen Mann einige Meter über mir rufen, als ob ich dies nicht schon längst selber bemerkt hätte. „Die Wegtafel da weist doch darauf hin. Ich bin doch nicht blind“, rufe ich zurück.

„Dort möchte ich, dort wäre es schön, weisst du, wenn unsere Söhne meine Asche ausstreuten“, höre ich ihn etwas später mit ungewohnt gedämpfter Stimme sagen.

Ich erwidere wie schon oft etwas unwillig:“ Das kannst du nicht verlangen. Das kannst du doch einfach nicht tun. Wegen deiner Asche unsere Söhne hier hinaufsteigen heissen. Das ist eine Zumutung. Warum ausgerechnet hier oben? Es gibt doch so viele passende Orte in unserer Nähe. Warum nicht im See? Du wärst nicht der erste. Besser finde ich halt das friedliche Gemeinschaftsgrab. Immer mehr Leute wünschen sich ins Gemeinschaftsgrab. Hast du das nicht bemerkt? Verboten ist das ja nicht, das weiss ich, das mit dem See. Oder auch im Wald, am Waldrand hoch über dem See mit Blick auf den anderen Hausberg, auf den See und in die Alpen.“

Er schweigt. Dann höre ich ihn reden.
„Noch besser der Abwurf aus einem Helikopter oder einer Drohne. Oder hoch oben über der Erde, aus einem Heissluftallon heraus.“ Nach einer kurzen Pause fährt er weiter:“ Ein Jung-Unternehmer in der Stadt am See will noch höher hinaus. Er bietet an, die Asche von verstorbenen Menschen oder Tieren mit einer Rakete ins All zu schiessen. Asche sei Staub, das stehe so auch in der Bibel, der Mensch sei aus Staub und werde wieder zu Staub, so habe ich auf seiner homepage gelesen, alles harmlos, Asche sei etwas Natürliches und habe nichts, rein gar nichts mit Verschmutzung des Weltalls zu tun“.

Ich zweifle.

„Man findet noch ganz andere krude Angebote, vor allem im Weltall des Internet“, sage ich, „ menschliche Kreativität schreckt in unserer ungläubigen, kirchenkritischen Zeit vor keiner noch so abwegigen Gestaltung unseres endgültigen Abschieds zurück. Das gilt sowohl für den Lebensanfang wie für dessen Ende. Immer kühnere Techniken, doch noch zu einem Kind zu kommen, wenn möglich mit wunderbaren Eigenschaften, von den Eltern wohlmeinend in Auftrag gegeben. Wir leben in einer Designkultur. Spätestens von Geburt an bis zum Tod. Und wir können uns das leisten, während Millionen von Menschen mit ganz anderen Problemen zu tun haben. Mit dem Hunger zum Beispiel. Und hier bei uns gibt es professionelle Agenturen, die uns dabei behilflich sind bei diesem Gestalten unseres letzten Abschieds. Wer genügend Geld hat, kann sich auch hier Dinge erlauben, von denen unsere Eltern oder Grosseltern nicht einmal träumen konnten. Selbstbestimmtes, kreatives Sterben ist gesellschaftsfähig geworden, das demütige Erwarten des Todes immer weniger geduldet oder erwartet, die fantasiereiche Gestaltung des endgültiges Abschieds ausserhalb der Kirche voll im Trend. Und was mit unserer Leiche oder mit unserer Asche geschehen soll, ja, auch das wollen die Menschen heute selber bestimmen. Auch du willst das ja so.“

„Ja“, fährt er nach meinen doch etwas umständlichen Ausführungen und ohne direkt zu widersprechen weiter, „du hast recht. Aber wir können doch unsere, diese Entscheidung unseren Söhnen überlassen. Wir sprechen einfach mit ihnen darüber. Wir müssen darüber sprechen. Das ist doch auch deine Meinung, oder? Meinst du nicht auch?“

Da ich nicht sogleich antworte, fährt er nach kurzer Pause weiter: „Wie wär's mit Trinity?“ fragt er spitzbübisch. Er weiss, dass auch ich weiss, was mit Trinity auch gemeint ist: die erste der drei Atombomben der Amerikaner kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Robert Oppenheimer hat angeblich den Namen vorgeschlagen. Trinity wurde im Sommer 1945 in der Wüste von New Mexico erfolgreich gezündet. Nummer zwei und drei haben Hiroshima und Nagasaki und Zehntausende von Menschen in Schutt und Asche gelegt. Asche von Tausenden von Menschen in immensen Gemeinschaftsgräbern. Nummer eins, Trinity, war der Probelauf der allerersten Atombombe. Aller guten Dinge sind drei. Zufällig haben wir drei Söhne. Und wir haben das nie bereut, oder? Es hat sich einfach so ergeben, zufällig. Wir hätten auch fünf Kinder haben können, wenn wir, wenn ich …....“. - „Wir haben ja auch“, fährt er in lehrerhaftem Tonfall weiter, „ wir haben auch drei Urkantone. Und in Märchen und Sagen, das weisst du ebenso wie ich, sind es gewöhnlich drei und nicht fünf Fragen oder Handlungen, die der Held oder die Heldin beantworten oder bestehen muss, drei Aufgaben, drei Prüfungen. Drei Schwurfinger. Drei Söhne. Vater, Sohn und so weiter“.

„Toi, toi, toi!“ sage ich, und er erwidert munter: „Toi. Toi¨, toi!“

„Zwar haben wir uns nur einmal verlobt und nur einmal geheiratet,“ fährt er mit absichtlich ernster Stimme weiter und lächelt wieder spitzbübisch.

„Also, wie wär's mit folgendem?“ fährt er weiter und lässt mich dann eine Weile auf seine Antwort warten. „ Ein Drittel meiner Asche in den See, ein Drittel hier am Lunghinpass hoch über Maloja an der Wasserscheide. Und das dritte Drittel auf dem Zürichberg, heimatlicher Hügel meiner Jugend, im Wald oben, nicht weit von unserem kleinen Familiengarten, den wir während vieler Jahre gepflegt haben, nicht weit vom Waldrand, mit Blick auf den See und die Stadt und hinüber zum Uetliberg mit dem Aussichtsturm und hinunter zu unserem einstigen Schrebergarten mit der heimeligen, dunkelroten Holzhütte. Ein kleines Areal, ganze zwei Aren, die meine Eltern mit uns drei Kindern zusammen während vieler Jahre gepflegt und bepflanzt haben. In den ersten Jahren noch gedüngt mit Rossbollen von den Strassen im Quartier, vor allem der Rhabarber und die Beerenstauden, dann wurde auf einmal Kunstdünger angeboten, Pflanzenschutzmittel und Insektizide. Die Familiengärtner lernten rasch und manchmal etwas zu eifrig damit umzugehen, gaben viel Geld dafür aus in der Hoffnung auf grösssere und bessere Erträge und weniger Schnecken, Blattläuse und Engerlinge. Die Feuer im Herbst in fast jedem der Gärten, erlaubt nur zu ganz bestimmten Zeiten, an Samstagnachmittagen, wenn ich mich recht erinnere, die riesigen Rauchschwaden, der Duft nach verbrannten Pflanzen. Die abgekühlte Asche sorgsam gesammelt und als natürlicher Dünger der Erde übergeben. Vom Waldrand aus der Blick auf den See, der je nach Jahres- und Tageszeit anders aussieht. In der Nacht wie eine grosse schwarze Banane inmitten einer grossen mit vielen Lichtern schimmernden Stadt. Diese Lichter in der Nacht, für mich immer wieder geheimnisvoll, diese unzähligen Lichter. Du weisst ja, was von den jungen, nicht besonders erfahrenen amerikanischen Piloten am Ende des Zweiten Weltkrieges behauptet wurde. Der unvermutete Anblick dieser schwarzen Banane habe die Stadt vor den Bomben der Alliierten bewahrt. Stuttgart oder Karlsruhe sei das Ziel der Bomber gewesen, aber diese Städte kennen keinen See, keine schwarze Banane umkränzt von einem Lichterkranz in der Nacht. Dank der schwarzen Banane sei die Stadt am See damals mit dem Schrecken davongekommen, unversehrt geblieben. »

Nach einer weiteren Pause fährt er weiter : »Und die kleinen Abenteuer im Wald, ausserhalb der elterlichen Kontrolle. Meist zusammen mit meinem jüngeren Bruder, nie mit der Schwester. Die durfte den Garten nicht verlassen. Befehl der Eltern. Im Herbst das Braten frischer ungeschälter Kartoffeln aus unserem Garten. Mein Bruder und ich verzogen uns wann immer möglich in eine Höhle im Wald oben, ein spannender Ort für uns Buben, den wir beim Durchstreifen des Gehölzes entdeckt hatten. Dabei verbrannte ich mir einmal im Eifer oder aus Ungeschicklichkeitt die Zunge an einer dieser heissen, mit Asche verschmierten Kartoffeln. Die Asche blieb einfach hängen, auch als ich erschreckt versuchte, sie mit blosser Hand oder meinem Taschentuch wegzureiben.

Und am Hang dieses Berges meiner Kindheit und Jugend habe ich Dich kennen gelernt. Du warst für mich auch eine Art heisse Kartoffel, Sonne und Venus in einer Person, goldig strahlend bist du in mein schwieriges, von Zweifeln beherrschtes Leben eingetreten. Das hab' ich Dir doch schon so oft gesagt und sag es immer wieder so lange ich noch nicht Asche geworden bin. »

Ich kann nicht sogleich antworten, mag nicht auf seine Anspielungen mit Sonne, Venus und strahlendem Gold eingehen, auch nicht auf seine Asche-Erlebnisse. Besser gefällt mir da schon sein Vorschlag mit Trinity, auch wenn er sich noch nicht völlig von der Wasserscheide, vom Lunghin zu trennen vermag. Er hat sich immerhin etwas bewegt. Das lässt mich hoffen. Aber noch will er bei dieser Wasserscheide seine Asche ausstreuen lassen - wenigstens einen Teil davon. Ich sage zunächst nichts. Schweigend beginnen wir nach etwa halbstündiger Rast den Abstieg, blicken noch einmal auf die Tafel, welche auf diese sagenhafte Wasserscheide hinweist. Vielleicht zum letzten Mal.

Und das geht nun erstaunlich gut, dieser zuvor von mir leicht befürchtete Abstieg vom Lunghin hinuner nach Maloja. In weniger als drei Sunden sind wir in unserem „Schweizerhaus“ in Maloja.

Sogleich befreien wir unsere im Hotelzimmer eingeschlossene Piroschka, die leise bellend an uns emporspringt, und spazieren mit ihr im auffrischend belebenden Wind zum nahen See und weiter in Richtung Isola. Es wird dunkel. Wir ziehen die Pullovers aus unseren Rucksäcken.

Wir sind zu müde, um noch bis Isola zu spazieren. Zufrieden mit dem Verlauf des heutigen Tages, zuversichtlicher, dass sich für uns und unsere Söhne eine passende Lösung finden lässt : die erlösende Trinity, die für uns alle stimmige Dreifaltigkeit. Am liebsten ohne den Lunghin, wenn es nach mir ginge.

Draussen vor dem Haus sitzen nur noch wenige Gäste bei ihrem Kaffee, Bier oder einem Glas Wein. Man hört die Gäste reden, manchmal auch lachen, ohne zu verstehen, was da gesprochen und verhandelt wird. Wir setzen uns etwas abseits. Mein Mann drängt es offenbar, weiter zu berichten, und er möchte mir wohl erneut verständlich machen, wieso er so grossen Wert darauf legt, einen Drittel seiner Asche auf der Wasserscheide im Engadin ausschütten zu lassen. Und das fällt ihm am heutigen Abend leichter, so mein Eindruck. Hat er sich wohl eine neue Lösung für dieses sein Problem ausgedacht ?

In der Abenddämmerung draussen vor dem mächtigen Chalet kam an jenem Abend und den folgenden so einiges zusammen. Ich forderte ihn weiter heraus : « Warum so kompliziert ? Warum beharrst du so auf dieser zweifachen Dreifaltigkeit : See, Hausberg und Wasserscheide ? Und dann auch noch Rhein, Po und Donau ? Ja, ja, ich weiss, das ist einzigartig, diese dreifache Wasserscheide hier oben, einzigartig in der Welt, meinetwegen. Aber könntest du dir nicht auch einen anderen Ort vorstellen, einen Ort, der nicht so abseits liegt, weit weg von unserem Daheim, ein passenderes Plätzchen, das auch dir gut gefällt, ein Ort, wo du etwas Spezielles erlebt hast, etwas Freudiges, etwas Trauriges oder vielleicht etwas Schreckliches, wie man dies zum Beispiel von Luther erzählt, vom jungen C.G. Jung, aber auch vom nicht mehr so jungen Niklaus von Flüe und vielen anderen ? Ein Ort, der für mich und unsere Söhne etwas zugänglicher ist als diese Wasserscheide am Lunghin. Ein Ort, wo auch ich mich wohlfühle und gerne an Dich und unsere gemeinsamen Jahre zurückdenke. Warum diese für mich so aufgesetzt wirkende doppelte Dreifaltigkeit? Einfalt wäre bersser. Warum unbedingt dieser Lunghin ?».

«Für mich ist das weder aufgesetzt noch künstlich», erwidert er leicht irritiert. Es hat sich für mich einfach so ergeben, ich habe nicht danach gesucht. Mich selber hat es auch überrascht, diese Trinität, lange bevor mir das Wort dazu eingefallen ist. Sei doch froh, dass ich mich nicht auf eine Quaternität eingelassen habe ! »

Dann fährt er in ruhigem Ton weiter : « Aber lass' mich hier oben, hier und jetzt etwas ausführlicher berichten ! Vergessen wir doch für einmal die Asche, die Asche von mir und die Asche von dir. Du denkst vor allem ans Gemeinschaftsgrab neben der Kiche über dem See, ja, das weiss ich ja schon lange ».

Er hält inne, scheint seine Gedanken neu ordnen zu wollen und fährt dann weiter : « Was mir zu dieser merkwürdigen Dreifaltigkeit alles eingefallen ist und laufend neu einfällt, davon lass mich hier und jetzt weitererzählen. Zu meinem Hausberg habe ich bereits einiges gesagt, vieles aus meiner Kindheit und Jugendzeit berichtet, mit dem kleinen Familiengarten, mit dem Wald, die Höhle mit den heissen und mit Asche verschmierten Kartoffeln, meine Zunge, die ich mir einmal verbrannt habe, das hast du alles schon mehr als einmal anhören müssen».

Und so erinnere ich mich an seine Worte : « Ich sehe keinen Grund, von derTrinity, von der Dreiteilung meiner Asche Abstand zu nehmen. Das ist für mich nichts Konstruiertes, Aufgesetztes. Für mich stimmt es. Ich fange mit dem See an, also ganz unten, fahre fort mit meinem Hausberg. Aber auch davon habe ich dir schon einiges berichtet. Schliessen werde ich mit dem Engadin, mit Maloja, mit dem Lunghin und seiner Wasserscheide. Und dazu gibt es eigentlich nichts Neues zu sagen. Du weisst ja selbst, wie man sich dort oben fühlt, dort am Lunghin, auch du, zusammen mit unserer Piroschka und auch ohne sie. Als regelrechter Aufstieg erscheint mir das, meine Trinität, ein Aufsteigen in drei Stufen. Das hat sich für mich einfach so ergeben. Ich wiederhole mich, ich weiss. Vielleicht ist es auch ein Abstieg hinunter in Tiefen. Wenn ich an meinen See denke, an meine schwarze Banane, tauchen Erlebnisse und Bilder auf wie Blasen im Wasser, wie Traumgebilde, die aus der Tiefe aufsteigen. Ich verspüre unterschiediche Temperaturen: kalt, heiss, lau. Auch sind für mich diese drei Bereiche mit verschiedenen Gerüchen verbunden, mit unterschiedlichen körperlichen Erfahrungen. Zu meinen sanften, mild duftenden Erinnungen gehört das S am Ende des Schwimmunterrichts in der vierten Klasse. Ein grosses schwarzes S in einem schwarzen Kreis auf einem kleinen Stück weisser Leinen. Meine Mutter hat dieses Stück Stoff sogleich an meine Badehose angenäht. Alle Welt konnte nun im Strandbad oder in der Badi schon von weitem sehen, dass ich ein guter Schwimmer bin, jemand, den man ohne Sorge den tiefen Gewässern überlassen kann. Die Vorausetzungen für dieses S, wenn ich mich richtig erinnere : das erfolgreiche Bestehen von drei Prüfungen: 200 Meter - vielleicht warenes nur fünfzig – 200 Meter in den See hinausschwimmen, nach einem halben Dutzend durchlöcherter Blechteller im Bereich für Nichtschwimmer tauchen und an die Oberfläche bringen und schliesslich ein Sprung vom Ein-Meter-Brett. Ich fühle noch heute den Stolz, den ich dabei hatte, ich rieche noch heute das Wasser vermischt mit Sonnenschutzcreme.

Zu den mild leuchtenden Erinnerungen gehören die Fahrten auf dem See, auf diesen grossen Schiffen mit den rauchenden Kaminen, die gewaltigen Maschinen, auf die man hinuntersehen konnte, die mächtig rauschenden Schaufelräder, der Geruch von Öl, die Fahrten vor allem an Festtagen wie Ostern und Pfingsten. Und dann immer wieder der Blick von der Quaibrücke über den See hinweg zu den Bergen, an Föhntagen ein magisches Erlebnis. Meine ersten Fotos knipste ich als kleiner Schüler von dieser Brücke aus.

Etwa zehn Jahre später dann das äusserst schmerzhafte Hitzeerlebnis. Mein Freund Heiri besass den Schlüssel zu einem kleinen, schnittigen Motorboot. Und dieses Boot gehörte dem Vater von Heiri's Freundin und Verlobten. Wir fuhren an einem sonnigen Sommertag stundenlang im unteren Seebecken herum nur mit einer Badehose bekleidet. Die Sonne, der erfrischende Wind, wir fühlten uns wie die Könige, winkten übermütig hinüber zu anderen Boten, schwatzten, sangen, photographierten, tranken Bier. Eine halbe Stunde nach der Rückkkehr vom Hafen, als ich mich übermütig dankend von Heiri verabschiedet hatte, überfiel mich daheim ein Hitzeschock. Meine Mutter eilte mit Olvenöl herbei, tupfte mit Wattebäuschen meinen Oberkörper, vor allem den glühenden Rücken. Ich fühlte kaum Linderung. Die letzte Ölung kam mir in den Sinn. Ich glaubte zu sterben, zu verbrennen. Beruhigung erst am folgenden Tag. Zur Heirat ist es, wie du ja weisst, bei Heiri und seiner Freundin nicht gekommen. Wenige Wochen nach unserer Bootsfahrt verunfallte er mit seinem Mofa, seine Braut auf der Stelle tot und er mit einem Oberschenkelbruch während Wochen im Spital. Auch hier muss ich nicht weiter in die Details gehen. Die kennst du besser als ich. Dort in der Chirurgie habe ich dich kennen gelernt, wo ich Heiri fast jeden Tag besuchte. Und mit dir habe seither vermutlich fast alle Temperaturen und Situationen durchlebt, die in einem Leben vorkommen. Ich erinnere mich noch gut an so vieles : vor allem deine blendend weissen Blusen und deine schwingenden Jupes, Faltenjupes, die damals grosse Mode waren. Tempi passati.

Das kälteste Erlebnis: die Seegfrörni. Im Februar 1963 muss das gewesen sein. Unsere Wanderung, unser Lauf auf Schlittschuhen bis nach Meilen. Die Schuhe haben wir irgendwo am Stadtrand deponieren können. Oder haben wir sie um den Hals gehängt ? Ich weiss das nicht mehr so genau. Anfänglich ging's recht gut, wir legten so richtig los, wir trauten uns einiges zu. Das Eis war leider nicht so glatt wie auf der öffentlichen Eisbahn Dolder, sondern an vielen Stellen wellig. Wir waren gefordert. Für den Lauf zurück fehlte uns dann die Kraft. Leise Enttäuschung. Todmüde fuhren wir mit der Bahn zurück in die Stadt.

Und dann habe ich noch etwas erfahren mit dem See meiner Kindheit und Jugend, viele Jahre später. Ich habe das zwar nicht unmittelbar erlebt wie meine Schifffahrten, die Seegfrörni, mein Schwimm-S, sondern während Wochen über Zeitungsberichte. Ich konnte es zuerst nicht glauben. Erich L, den ich aus meiner Kinderzeit her kannte, wohnhaft zwei Häuser weiter zusammen mit seinen so seltsam alt aussehenden Eltern, die ich anfänglich für seine Grosseltern hielt. Wir spielten hin und wieder miteinander auf der Strasse, erforschten zusammen unser Quartier, trieben Unfug mit und im Leiterwagen meines Vaters, was meine Eltern gar nicht gerne sahen und mehrmals erfolglos zu verhindern suchten. Dieser Erich L sei zu lebenslänglich verurteilt worden, so las ich in der Zeitung. Seine Freundin war eines Tages wie vom Erdboden verschwunden. Wochenlange Suchaktionen der Polizei. Der verständliche Verdacht, Erich L, ihr Freund, könnte etwas mit diesem Verschwinden zu tun haben. Erich L wies den Verdacht entschieden zurück, wehrte sich, stellte sich unwissend. Aber da wurde die Polizeit schliesslich doch noch fündig. Das Mädchen fand man tot in der Tiefe des untern Seebeckens, von einem grossen Steinbrocken in der Tiefe des Sees festgehalten. Erich L. hatte auf einer nächtlichen Bootsfahrt dieses unsägliche Verbrechen begangen. Grund für diese schauerliche Tat : die Freundin von Erich L war schwanger und Erich L wusste in seiner Not keinen besseren Ausweg.

Da kommt mir Giovanni Segantin mit seinen « cattive madri « in den Sinn und « il castigo delle lussuriose » . Mir ist nicht bekannt, dass Segantini je ein Bild mit dem Titel « le cattive padri geschaffen hat».

Ich wundere mich noch eine ganze Weile nach dem sanften Aufwachen allein in meinem Bett, denn ich habe schon seit Monaten nicht mehr geträumt. Mein Mann hätte gesagt: „Menschen träumen jede Nacht, aber sie erinnern sich nicht immer“.

Die Asche meines Mannes ruht schon seit mehr als einem Jahr in einer schmucklosen Urne aus hellgrünem Ton. Und diese Urne steht auf dem Boden neben unserem Klavier im Wohnzimmer, umrahmt von drei antiken Lockenten aus Holz, Zeugen meiner einstigen Sammlereidenschaft.

Ein Drittel seiner Asche ruht in dieser Urne. Die Frau von der SPITEX unterlässt es nie, jeweils den vierzehntäglichen Staub auf Urne und Enten sorgsam abzuwischen und ab und zu ein tröstendes Wort an mich zu richten. Aber immer seltener.

Vor bald drei Jahren ist mein Mann kurz nach dem Frühstück am Tisch eingeschlafen und nicht mehr erwacht, an einem schönen Frühjahrsmorgen. Auf seine ursprünglich einfältig dreifältige Lösung hat er einige Monate vor seinem Tod verzichtet: See, Hausberg und Wasserscheide Lunghin. Ein Drittel seiner Aschel, so hat er sich das gewünscht, sollte in innigster Vereinigung zusammen mit meiner Asche im Gemeinschaftsgrab an nserem letzten Wohnort beigesetzt zu werden. Und ich war damit einverstanden.

Ein Drittel seiner Asche übergaben wir dem See. Meine Söhne fuhren mich in einem kleinen Mototboot kurz vor dem Eindunkeln weit hinaus und wie empfohlen: weit weg von der nächsten Badeanstalt.

Ein Drittel schütteten wir am Waldrand über der Stadt aus, Blick auf den See und den Uetliberg, in der Nähe der vermuteten Feuerstelle, wo er sich als kleiner Junge die Zunge an einer heissen mit Asche verschmierten Kartoffel verletzt haben soll.

Das letzte Drittel gelangte also nicht zur Wasserscheide am Lunghin.

Das dritte Drittel wird einmal zusammen mit meiner Asche im Gemeinschaftsgrab unserer Wohngemeinde zur letzten Ruhe kommen, und diese Vorstellung hat für mich etwas Tröstliches.

Vor einigen Tagen erhielt ich unerwartet Post aus Maloja: einen Brief gefüllt mit Fotos geknipst von meinen drei Söhnen: Lunghin und Grab von Giovanni Segantini in Maloja. Dazu schrieben sie, sie hätten aus einer Laune heraus beschlossen, diese von ihrem Vater urpsrünglich so geschätzte oder gar verehrte Wasserscheide einmal selber sehen zu wollen, und zwar ohne Asche. Der Ort sei wirklich eindrücklich, auch bei Regenwetter. Sie seien sehr froh gewesen über die Hinweistafel auf über 2000 Metern. Ohne sie hätten sie nie daran gedacht, hier auf eine dreifältige Wasserscheide zu stossen.

Kommentare

Kommentieren

Nachname *
Email *