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AMT

Zügig öffnet er beide Fenster in seinem geräumigen Büro, schmettert seine lederne Mappe so heftig auf das kleine Tischchen aus Plexiglas neben seinem Schreibtisch, dass der Aschenbecher aus grünem Glas leicht in die Höhe hüpft, mit hellem Klang auf dem Boden aufschlägt und in Dutzende von Stücken und Stückchen zerbirst - das Geschenk einer Freundin in seiner frühen Jugend, als er selber noch leidenschaftlich rauchte, ein liebenswert mutwilliges Geschenk damals, wie er sich noch gut erinnert, seit Jahren von keiner Asche mehr befleckt, ein im Stich gelassenes Einnerungs- und Schaustück. Ein Platzhalter. Ein Staubfänger.

Wer hat da in seinem Büro geraucht?

Als Abteilungschef hatte er die Aufgabe, die anfallenden Probleme in seinem Betrieb zu lösen oder wenigstens einer befriedigenden Lösung näher zu bringen. Dazu war er und fühlte er sich verpflichtet. Er wusste klar und deutlich, dass er als Vorgesetzter dazu verpflichtet war, nicht nur effektiv zu sein sondern auch effizient. Diese Audrücke und was sie ausdrückten hatte er erst während seines Studiums an der hiesigen Univbersität kennen gelernt und verinnerlicht.

Das war und ist durchaus in seinem Sinn: effektiv und effizient zu sein. Und diese löblichen Eigenschaften wurden ihm meist ohne zu zögern von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugestanden. Manchmal respektvoll. Manchmal bewundernd. Selten lächelnd. Und manchmal auch mit zusammengebissenen Zähnen.

Er sah sich zudem als Vorgesetzter im Sinne der aktuellen Management-Theorie, prägend für die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. In Deutschland redete und schrieb man, das Englische für einmal meidend, von „Neuem Steuermodell“. Es beinhaltete eine Theorie, eine Philosophie gar im Sinne der gepriesenen „Wirkungsorientierten Verwaltungsführung“, da heisst des „New Public Management“, wie sich der Abteilungsleiter gerne auszudrücken beliebte und dabei in die Runde blickte.

Blinzelte er tatsächlich?

Er liebte jedenfalls das Englische wie manche seiner Kollegen auch, die als Unternehmer, Banker oder Versicherer arbeiteten. „Public management“ hiess für ihn ganz einfach: sich nicht auf den bisherigen Gleisen zu bewegen, auf bessere Zeiten zu warten, auf irgendwelche Wunder zu hoffen, sondern eine von möglichst vielen oder gar von allen Beteiligten akzeptierte Lösung zu finden, genauer: zu erfinden, zu kreieren.

Ja, das war ein weiterer beliebter Begriff, ein Zauberwort: kreieren. Ein Lieblingsausdruck vieler Vorgesetzten und Ausbildner - nicht nur von Künstlern, auch von Personen, die sich als Trainer oder Coaches anpriesen - in Kursen, in Workshops oder Selbsterfahrungsgruppen.

Und diese Wiederentdeckung, dieser erneute Glaube an die Kreativität der Menschen scheint bis heute ungebrochen.

Kreieren war auch sein Credo, der eigentlich lieber Künstler geworden wäre. Kreativität war und ist allenthalben nicht nur gefragt sondern schlichtweg gefordert. Ohne Kreativität keine erfolgreiche Zukunft. Ohne Kreativität überhaupt keine Zukunft. Menschliches Leben ermöglicht sich als Kreativität des Kosmos, der Natur, des Universums - ausgehend vom Urknall oder spätestens seit dem Sündenfall im Pardies.

Das Paradies, das grösstmögliche Glück für alle ist machbar. Davon war er überzeugt. Er spürte die religiöse Dimension des grösstmöglichen Glücks. Nicht nur bei seinen Meditationsübungen daheim oder in seinem geräumigen Büro.

Man musste vor allem offen sein für Überraschungen, für Unbekanntes, für neue Dimensionen des Seins und Denkens. Ehrlich musste man sein, existenziell berührt und unentwegt selbstkongruent

Authentisch. Authentizität. Kreative Authentizität. Oder doch eher authentische Kreativität?

Wie gut auch das tönte und tönt! Und wie oft blieb und bleibt es nur beim verführerischen Klang.

Aber auch beharrlich. Nachhaltig. Und wenn dabei alle, möglichst alle mitmachten, dann würden auch alle profitieren. Echt, offen, zukunftsgläubig. Aufs Machbare fokussiert. Effektiv und effizient.

Einfach vernünftig.

An die Schätze in der Tiefe des letztlich unergründlichen Unbewussten glaubend. Und unentwegt den erlösend endgültigen nächsten Erfolg erstrebend.

An seinen Früchten sollt ihr ihn erkennen. Oder sie. Uns.

Die wesentlichen lebensnotwendigen Überzeugungen unseres Abteilungs-Chefs hatte er bestimmt nicht nur in verschiedenen Kaderkursen in traumhaften Gegenden und renommierten Unterkünften mitbekommen. Das war ihm von innen her zugewachsen. Und diese wunderbaren Überzeugungen, diese Sehnsucht hatte er immer wieder mit andern Vor- , Gleich- und Nachgesetzten durchdiskutiert, auch in den Kaffee-Pausen. Er konnte damit umgehen, wie man das heute ausdrückt. Er hatte ohne Zweifel den richtigen Umgang mit all diesen Dingen.

Und doch. Was hatte er nicht alles zu diesem Thema schriftlich auf mannigfaltige Weise und doch immer wieder ähnlich auf den Weg nach Hause mitbekommen bis hin zu den Kopien von irgendwelchen Kopien von Kopien. Manchmal änderte nur die Farbe der Blätter, die grafische Darstellung, die Nummerierung der Seiten, das originelle, einprägsame Logo. Wenn nicht verblüffen, wenigstens überraschen musste die Ware, in die Augen fallen. Auffallen.

Aufmerksamkeits-Management. Wie wichtig scheint doch in unserer von Reizen, Signalen und Informationen überfluteten Zeit das Gewinnen oder Erzeugen von so etwas wie Aufmerksamkeit. Auch das wusste unser Abteilungs-Chef. Auch er litt darunter. Nicht nur im Amt.

„Über Bord mit den Juristen!“

Dieser Slogan in den Anfängen der „Wirkungsorientierten Verwaltungsführung“ bereitete ihm, unserem Abteilungs-Leiter, besonderen Spass, so dass er den Spruch bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum besten gab. Besonders wenn Juristen anwesend waren. Und dies war - Wen wundert's? - sehr oft der Fall.

Im Amt war es so – genau wie auch in den übrigen Verwaltungen, in Banken, Unternehmen, Versicherungen und politischen Gremien. Juristen mit ordentlichem Abschluss und andere, die manchmal erstaunlicherweise die tüchtigeren, erfolgreicheren und beliebteren waren. Doch diese lachten meist gutmütig und verständnisvoll, wenn jemand den losen Spruch mit dem Über-Bord-werfen machte. Sie fühlten sich dabei offensichtlich auf keine Weise wirklich angegriffen oder gar bedroht. Sie erlebten sich zwar auf eine leicht unangenehme aber doch ungefährliche Art gehänselt wie manche Lehrer, denen man unbedacht, das heisst ohne weitere Überlegung, völlig unkreativ ihr Ferienkünstlertum bei passenden und vor allem unpassenden Gelegenheiten maliziös unter die Nase reibt.

Die Juristen sind ganz einfach zu wichtig, zu überlegen, ganz einfach zu mächtig und deshalb weitgehend unangefochten, entsprechend respektiert und oft auch gefürchtet.

Er war kein Jurist, unser Abteilungsleiter, weder von der einen noch der anderen Sorte. Er war seinem Wesen nach ein durch und durch redlicher Akademiker, ein Techniker, ein Macher und spürbar allergisch auf diese Recht- und Machthaber, die so viele und vor allem die wichtigen Stellen in Gesellschaft und Wirtschaft einnahmen.

Jurist war auch sein direkter Vorgesetzter, der Amts-Chef, ein lic. iur. , der ihm vor einem halben Jahr den erstrebten höheren Führungsposten vor der Nase weggeschnappt hatte, nicht zuletzt offenbar, so war er überzeugt, weil jener Quereinsteiger eben ein Jurist mit nachgewiesen ordentlichem Abschluss war und weil bei Neuanstellungen der Grundsatz galt: bei Gleichwertigkeit der Kandidatinnen und Kandidaten nehme man den Juristen oder die Juristin.

So wie es neuerdings an vielen Orten üblich ist zu statuieren: bei Gleichwertigkeit eine Frau. Was jedoch unerwünschte Probleme aufwirft, unnütz böses Geschwätz erzeugt, wenn die Frau besonders hübsch oder besonders das Gegenteil davon ist: nicht so hübsch. Er verstand sich also kurz und gut als redlicher Akademiker, der sich seine Dissertation von A bis Z selber abgerungen hatte, uneingeschränkt der Wahrheit und vor allem der Wahrhaftigkeit verpflichtet.

Wenn immer möglich. Die Wahrhaftigkeit hatte bei ihm einen höheren Stellenwerrt als die Wahrheit. So wie Max Frisch offenbar die Überzeugung als stärker eingeschätzt hat als die Wahrheit, dem er einmal nach einer öffentlichen Lesung die Hand reichen durfte und sich entsprechend geehrt fühlte. Falls er ihn überhaupt richtig verstanden hat, das mit der Überzeugung. Wer eine Überzeugung habe, so erinnerte er sich an den Text des von ihm verehrten Schriftstellers, werde mit allem fertig. Diese Worte hatten ihn beeindruckt. Steht es nicht so im „Tagebuch 1946-49“?

Er hatte den Schriftsteller vielleicht nicht richtig verstanden. Oder die Fortsetzung vergessen odere gar unterschlagen: Überzeugungen sind der beste Schutz vor dem Lebendig-Wahren.

Er fühlte sich nicht einfach so als Akademiker, weil er an einer anerkannten Hochschule studiert hatte, sondern grundsätzlich, prinzipiell. Er stellte selbstverständlich auch das „New Public Management“ trotz aller ursprünglichen Begeisterung von allem Anfang an in Frage, wenn nicht als grundsätzlich Zweifelnder, so doch als kritischer Mensch, der er war und sein wollte.

Doch nun endlich zu etwas anderem, Speziellerem. Unser Abteilungsleiter hatte angefangen, Daten zu sammeln und dies überwiegend in seiner beschränkten Freizeit. Denn er verstand seine freizeitliche Forschungsarbeit als Teil seiner Aufgabe, obwohl kein Wort darüber in seinem Pflichtenheft drin stand. Er spielte nämlich ernsthaft mit dem Gedanken, sich doch noch zu habilitieren. Vor seinem Vierzigsten, bevor die ausländische, besonders die deutsche Konkurrenz zu stark sein würde. Oder er zu alt.

Von Verantwortung stand in seinem mehrseitigen Pflichtenheft nur ganz Allgemeines, was ihn ausreichend zu legitimieren und zu motivieren schien, diese nicht nur für ihn interessanten Daten zu sammeln, Daten von zwölf recht unterschiedlichen Gemeinden mit „Wirkungsorientierter Verwaltungsführung“. Daten, welche sachlich begründete Aussagen, echte Schlussfolgerungen ermöglichen sollten über das Verhältnis zwischen gemeindeeigenen Leistungen und dem Steuerfuss der Gemeinde. Zum Vergleich beackerte er parallel dazu zwölf weitere ungefähr gleichwertige Gemeinden, welche sich noch nicht für die wirkungsorientierte Verwaltungsführung entschieden hatten, also der massgebenden Entwicklung seiner Meinung nach nachhinkten, Zauderer. Unkreative Gemeinden. Seldwylas. Zwei angesehene Tageszeitungen und eine Organisation zur Förderung der Wirtschaft hatten bereits verbindlich zugesagt, seine Ergebnisse zu publizieren, was ihn mit stiller Freude und Stolz erfüllte. Worüber er aber mit keiner Person sprach. Noch nicht. Doch seine sonst oft so trüben Augen leuchteten dabei.

Seine methodischen Überlegungen stimmten selbstverständlich mit den mannigfaltigen Lehrbüchern über Lernpsychologie überein. Probleme, die sich ihm stellten, zwar zunächst als ärgerlich, störend zu erleben, als ein innerpsychisches Ungleichgewicht, einfacher als einen spannungsgeladenen Zustand auszuhalten, dann aber ungesäumt aufs Ziel loszusteuern.

Auf die Befreiung hin. Auf die erlösende Lösung.

Auf eine kreative und produktive Veränderung der Situation und damit auch frei zu werden für die Lösung weiterer Probleme.

Aber die Abfolge der Probleme erschien ihm manchmal alles andere als befreiend oder eben nur für kurze, allzu kurze Zeit erlösend, sondern immer wieder von einer unerträglichen Sisyphosartigkeit. Aber er hatte das Sisyphoshafte seines Lebens, des Lebens überhaupt, schon lange geschluckt, akzeptiert.

Auch das seines Liebeslebens.

Er hatte schon früh erfahren, dass zum Leben auch Negaives, Leid gehört, zu einem starken, erfolgreichen Leben, das nicht auf Geschenke aus ist, auf irreguläre oder gar kriminelle Machenschaften, auf Vitamin B, auf irgendwelche Privilegien. Auf Mitleid.

Auf Gnade. Auf Gnade?

So hatte er bereits als Student aus tiefster Überzeugung auf Stipendien verzichtet, obwohl er gesetzlich dazu berechtigt gewesen wäre, weil er der Meinung war, es sei besser, wenn ein Akademiker sich rechtzeitig um seinen Lebensunterhalt kümmere und dabei unverstellt die harte, unerbittliche Arbeitswelt kennen lerne.

Als Werkstudent war er gross und stark geworden, nicht ohne manchmal halt doch seine aus besseren Verhältnissen stammenden Kommilitonen zu beneiden, die merkwürdigerweise mit irgendwelchen Stipendien von weiss woher seiner Meinung nach ein unbeschwerteres Leben führen konnten als er.

Um so mehr schätzte er es jetzt, wenn er als Vertreter seiner Abteilung, bzw. seines Amtes an Tagungen und Konferenzen nicht nur in der Schweiz sondern auch ins Ausland geschickt wurde. Einmal sogar nach Peking, ein anderes Mal nach Tasmanien und auch einmal sogar nach Lappland, weil sein Chef, der Amts-Chef, der Jurist, wieder einmal gesundheitlich angeschlagen war und übrigens für die zur Diskussion stehenden Themen eindeutig weniger kompetent gewesen wäre - trotz seiner einwandfreien, sauberen juristischen Vergangenheit.

Und immer wieder träumte er, hie und da merkwürdigerweise mitten in der strengsten Arbeit, von einem leichteren Leben oder doch wenigstens von Augenblicken unbeschwerter Leichtigkeit, von ferienhaftem Übermut ohne Anstrengung, von Augenblicken des Glücks mit einer attraktiven, hingebungsvollen Frau anders als seine herbe, für ihn in den letzten Jahren so farblos gewordene Gattin, Mutter von zwei bald erwachsenen Mädchen, mit der ihn seit Jahren so viel zweckhaft brave Biederkeit verband, aber keine nennenswerte Leidenschaft.

Die erotische Kreativität hatte sich ihm nach wenigen Jahren Ehe weitgehend versagt.

Seine Schwäche, seine geheime Sehnsucht galt dem urpsrünglichen Feld des Kreativen, den Künsten. Aber nicht nur den Künsten im Allgemeinen. Seine Schwäche, seine Sehnsucht galt immer wieder lebenden, lebendigen, lebensfrohen Künstlerinnen: Grafikerinnen, Malerinnen, Bildhauerinnen, Photographinnen und vor allem Musikerinnen. Hier konnte er durchaus unvernünftig sein, luftig und deshalb manchmal anfällig bis zur Lächerlichkeit.

Aber rasch und unerbittlich stellte er sich dann wie Gustav Aschenbach in „Tod in Venedig“ jeweils rasch und etwas unwirsch gegenüber sich selbst wieder zurück in den harten Berufs- und Familienalltag, rituell am Montagmorgen, wenn er seine engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für eine bis höchstens zwei Stunden um sich scharte, um alles Notwendige für die nächsten Tage und Wochen zu besprechen und die Vorschläge und Ergebnisse auf einer riesigen weissen Mind Map festzuhalten: mit Symbolen, Zahlen, Daten in fast allen üblichen Farben, wobei aber doch neben dem Rot die Farben schwarz und blau dominierten.

Ein Freund, ein alter Studienkollege, hatte ihm das neulich wieder einmal deutlich gesagt, das mit der Lächerlichkeit, der ihn bei einer Serenade im Rieterpark zufällig beobachtet hatte, wie er mit einer Cellistin vom Tonhalle Orchester, die auch im Opernhaus mitwirkte, in aller Öffentlichkeit herumkaressierte. Unbesonnen. Unbedarft. Dämlich.

Er hatte sie zufällig vor einige Monaten während des üblichen Apéros anlässlich einer Vernissage im hiesigen Kunsthaus kennen gelernt und ihr beiläufig mitgeteilt, dass er vermutlich auch die vorsömmerliche Serenade im Rieterpark besuchen werde. Man könne von dort aus an einer bestimmten Stelle sogar ein Stück des Sees sehen, beleuchtete Schiffchen, die irgendwie an Gondeln in Venedig erinnern würden.

Und nun war er berauscht von der nächtlich milden Stimmung und auch von der Musik und nicht zuletzt vom Wein, vom erstaunlich und erfreulich preiswerten, den sie alles andere als im Übermass vor der Villa des Eisenbahnkönigs Alfred Escher im benachbarten Belvoirpark von einem dunkelhäutigen Kellner-Lehrling einschenken liessen.

Sie hatte ihm, obwohl er darüber nur lückenhaft Bescheid wusste, anspielungslustig von Richard Wagner und seiner Verstrickung mit Mathilde Wesendonck, geborene Agnes Luckemeyer, zugeflüstert, die sich vor etwa hundertfünfzig Jahren in der Villa Wesendonck, dem heutigen Rietberg-Museum - Aufenthaltsort jetzt von erlesenen Raritäten fernöstlicher Kunst - einer sehrenden, wahn-sinnigen Liebesleidenschaft hingegeben hatten. Waren beide doch ehelich gebunden. Von dieser allgemein bekannten, todgeweihten Beziehung redete sie ungefragt munter drauf los, von der Eifersucht Minnas, Richard Wagners erster Gattin, vom Ende der Liebschaft zwischen Richard Wagner und Mathilde Wesendonck, von seinem Wegzug aus Zürich. Und wie die Nachwelt von diesen amourösen Verstrickungen profitiert hätte. Schamlos. Musikalisch vor allem. Aber nicht nur musikalisch. Auch wegen des unermüdlichen, ewigen Aufwärmens dieser angeblich ungehörigen Beziehung. Aber vor allem mit der Komposition eines der erregendsten und für die Moderne wegweisenden Musikwerke: Tristan und Isolde. Beginn des Endes der Tonalität. Nicht nur tristanhaft weitergeführt in „Verklärte Nacht“ von Arnold Schönberg, sondern noch weiter bei von Webern, Richard Strauss: Elektra. Alban Berg.

Von den sieben alten Tönen, die umfassen alle Lieder, zu den zwölf neuen, gleichsam demokratischen aber nicht für alle wohlklingenden Tönen der nachwagnerischen Musik. Atonal. Musik ohne Zentrum. Ohne Heimat.

Sie hatte während ihrer munteren, anspielungsreichen Ausführungen den vollen Aschenbecher, den der Kellner auszutauschen oder zu reinigen vergessen hatte, auf den Boden unter den kleinen, runden Tisch gestellt, und dies mit Nachdruck. Denn auch sie war keine Raucherin. Sie hätte es gerne gehabt, wenn überhaupt nicht mehr geraucht würde, weder in einem Café noch in einem Restaurant. Auf jeden Fall nicht in ihrer Nähe. Sie hatte noch nie einen Zug an einem Glimmstengel getan, auch nicht in ihrer Kinder- und Jugendzeit.

Zahlreich die Länder, die sie bereist, unabsehbar die Freund- und Liebschaften, die sie durchlebt und hinter sich gebracht hatte. Meist klag- und folgenlos. Und ohne jemals zu rauchen, ohne eine einzige Zigarette.

Sie liebte jedoch gute Weine. Rote vor allem. Auch Champagner. Noch lieber einen guten Prosecco. Nicht wegen des Preises. Den Prosecco empfand sie einfach bekömmlicher. Besonders zu Beginn eines Abends, der schön oder mindestens interessant zu werden versprach. Hie und da ein oder zwei, drei Gläschen Armagnac oder einen Cognac kurz vor der Rückkehr nach Hause. Ab und zu liess sie sich einen Cognac mit einem Schuss Grand Marnier mischen. Eine Art Assemblage oder Mariage. Etwas zum „verreissen“, wie sie schalkhaft sagte, bevor sie ihrem Auto zustrebte.

Kein Whisky. Bloss kein Whisky. Der schmeckte für sie nach Juchtenleder. Nach Stiefeln. Manche auch nach Tabak. Ein Getränk für alte, stinkende Männer, so ihre Aussage.

Die stinkenden Raucherresten in den meist einfallslosen gesponserten Behältnissen der Restaurants, in fast allen Restaurants dieser Welt, so befand sie, aber noch mehr an vielen Stellen des Parkes, vor allem bei den Sitzbänken, auf Wald- und Bergwegen leider auch, und immer wieder in ekelhafter Anhäufung auf Park- und Aussichtsplätzen, störten sie ungemein bis hin zur Rage. Ihre Freunde wussten das und neckten sie deswegen.

Und sie schwatzte munter weiter drauf los. Richard Wagner sei im Frühjahr 1849 als politischer Flüchtling aus Dresden in Zürich eingetroffen. Ab und zu habe er sich auch mit Gottfried Keller getroffen, der eben aus Berlin in seine Heimatstadt am See zurückgekehrt war. Der grüne Heinrich. Und unser brummige Dichter, ungeschickt und erfolglos im Ungang mit Frauen, habe in wohlgesetzten Worten dessen dichterische Begabung anerkannt, und dies nach der Lektüre von „Die Nibelungen“. Das könne man in Briefen von Gottfried Keller an Ludmilla Assig und Hermann Hettner nachlesen. Mitte der fünfziger Jahre habe Richard Wagner seine überarbeitete Faust-Ouverture der geliebten Frau von Otto Wesendonck, Agnes, bzw. Mathilde gewidmet. Und Agnes habe bei ihrer Heirat im Mai 1848 den Vornamen der vier Jahre zuvor verstorbenen ersten Frau von Otto Wesendonck angenommen. Unglaublich. Wagner habe einige ihrer Gedichte vertont und dabei das Publikum anfänglich im Glauben gelassen, auch der Text dieser fünf Lieder würden von ihm stammen und nicht von der „schönen Märchen-Frau.“ Er habe darauf an Franz Liszt geschrieben, er hätte das eigentliche Glück der Liebe nie genossen, weshalb er diesem schönsten aller Träume ein Denkmal setzen wolle, in welchem von Anfang bis zu Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen solle.

Der Abteilungschef vom Amt hörte nur halbwegs hin und kalauerte unbedacht bedenkenlos, aber offensichtlich zu ihrem billigen Vergnügen drauf los: „Die Musik von Richard Wagner ist besser als sie tönt“ , indem er aber doch ehrlicherweise sogleich auf Mark Twains Urheberschaft hinwies.

Diese Ehrlichkeit auch in kleinen, vermeintlich nebensächlichen Dingen war für ihn selbstverständlich, Verfechter der Wahrhaftigkeit, der seine Dissertation von A bis Z selber verfasst hatte. Seine Freundin hat sie übrigens dreimal auf ihrer kleinen Olivetti eingetippt. Auch das verheimlichte er nicht. Er wollte sich nicht mit fremden Federn schmücken. Das widerstrebte ihm, worüber seine nächst Untergebenen mit einigem Recht anders dachten. Aber das spielt hier keine Rolle. Und er fügte das unvermeidliche „Tristan und sie wollte“ hinzu, flüsternd in ihr linkes Ohr. Das war ihm gerade gut genug in seinem weinseligen Übermut an jenem milden Frühsommerabend im geheimnisvoll rauschenden Park. Sie lächelte dabei abenteuerlustig mit glänzenden Augen in die warme Nacht hinaus.

Aber ihre Augen glänzten fast immer.

Und sie wollte tatsächlich. Und zwar gleich jetzt. Nicht geradewegs im Licht des nahen Kandelabers sondern etwas weiter weg an einer lichtgeschützen, abgeschatteten Stelle des Parkes. Aus schierem Übermut heraus, aus Lust am Ausserordentlichen, am Ausgeflippten, belebt durch die milde, berauschende vorsommerliche Nacht. Und weil sie glaubte, er würde es nicht wagen, dieser bieder gekleidete und hier in der nicht alltäglichen Umgebung etwas scheu wirkende Abteilungschef, der brave Ehemann mit Frau und zwei bald erwachsenen Kindern im kleinen Einfamilienhaus ausserhalb der Stadt, oben an der gleichen Seite des Sees. Und weil es ihr vor allem ganz einfach zu mühsam, zu umständlich gewesen wäre, ihn in ihr Heim, in ein vor Jahren umgebauten Bauernhof draussen vor der Stadt einzuladen, ohne Seesicht, ohne den Blick auf beleuchtete Boote. Kein Venedig. Noch unbequemer und umständlicher wäre für sie freilich das Auto gewesen. Dieses Vergnügen auf Leder- oder anderen Polstern überliess sie schon seit manchem Jahren gern den Jüngeren und Unbehausten.

Die etwas gar aufgeregte Küsserei und Knutscherei, das gegenseitige Belecken der Lippen, der Wimpern, der Nasenlöcherränder, auch der Nasenspitze, der Zähne und Zunge, das blinde Sichbetasten an allen erreichbaren Körperstellen und eifrige Kitzeln brachten durchaus erhofft und erwünscht etwas Aufregung, aber nur eine halbbatzige Erfüllung im nächtlichen Dunkel des Parkes. Aber es war doch etwas durchaus Rauschhaftes bei diesem Getue, etwas Abgehobenes, ein irgendwie abwegiges und auf jeden Fall nicht alltägliches Erleben.

Ein Ausnahmezustand. Ein durchaus nicht unwillkommenes Intermezzo für beide.

Erregend genug verglichen mit dem Alltagstrott als Musikerin in der Tonhalle, als Chef seiner Abteilung des Amtes. Als Ehemann zu Hause mit den verlebten Regelungen und Ritualen. Und dazu gehörten eben auch vor allem die hektischen, völlig unerotischen Momente bei der Arbeit im Amt. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Jahr um Jahr.

Er entwand ihr sanft aber bestimmt das von ihr bereitgehaltene geblümte seidene Taschentuch und wischte sich damit seine zerknitterten Hosen, in den die temperamentvolle Cellistin schliesslich ohne jede Scheu zielbewusst frech hineingegriffen hatte, als wollte sie ohne Zeitverschwendung effizient mit ihm hier und jetzt fertig werden, den Rest der Nacht jedoch allein bei sich zu Hause verbringen. Effektiv.

Es war für ihn wieder einmal alles viel zu rasch gegangen, er, der sonst die Raschheit liebte, die Effizizienz, so dass er erst nachträglich, nach kurzem Zögern, versuchen konnte, nicht ohne einige Umständlichkeiten, auch ihr die erstrebte Erregung, Erleichterung und erhoffte Freude zu verschaffen.

Lächerlich fand ihn am frühen Morgen zum Überfluss und Überdruss auch seine Frau. Die grauen Hosen, fast ohne Bügelfalten, die er in seiner Studentenzeit gekauft hatte und seither jeden Sommer trug, und der linke Schuh waren mit Kot verschmiert, herrührend vermutlich vom natürlichen Nachlass eines unbeaufsichtigten Hundes. Der ungewohnte Gestank hatte die Frau hellnäsig gemacht und daher umso penetranter ihr bohrendes Nachfragen. Sie witterte Ungereimtheiten, Ungehörigkeiten, Schweinereien. Sie wollte ganz einfach die Wahrheit wissen. Nur die Wahrheit. Auch sie.

Die ganze Wahrheit. Wahrhaftig.

Zugegeben. Er hatte den unangenehm befremdlichen Duft eigentlich schon im abgedunkelten Park bemerkt, in dem Richard Wagner und Mathilde Wesendonck vor über hundert Jahren lustwandelten, merkwürdigerweise ohne die Beherrschung ganz zu verlieren, sich offenbar zufrieden gebend mit dem Erlebnis wonniger Gefühle.

Aber unser Abteilungs-Leiter dachte hierbei nicht an jene erregenden Momente, als Mathilde Wesendonck an der Seite von Richard Wagner aufblühte. Er hatte die muntere Cellistin vielleicht unter denselben schattenden Bäumen nach kurzer, eruptiver Gefühlswallung bloss einarmig umfangen gehalten, denn die andere Hand musste ja frei bleiben für gewagtere Zärtlichkeiten und allerhand Schabernack. Und er hatte dabei wohl den Belvoir- mit dem Rieterpark verwechselt.

Kreativ gilt es in jeder Lebenslage zu sein. Auch damals im Park. Er war trotzdem in seiner Benommenheit der Sache mit dem befremdlichen Gestank nicht sogleich nachgegangen, hatte sich instinktiv und impulsiv dem Ursprung und Artung des Gestank verschlossen, hatte es unterlassen, den Kotduft auf sich zu beziehen, hatte für einen kurzen Augenblick an eine Sinnestäuschung gedacht. Dann daran geglaubt. War schliesslich kurz entschlossen, wie es seine Art war, überzeugt, dass es eine Täuschung sein musste. Er wollte sich in seiner ihm mutig ausgelassen anmutenden Begegnung mit dieser Cellistin nicht stören lassen und war anschliessend nach flüchtigem Abschiedskuss auf Mund, Stirne und beide Wangen seiner Partnerin auf dem schnellsten Weg nach Hause geeilt, um unangenehmen Fragen seiner Frau zuvorzukommen.

Vergeblich. Die zweite Scheidung zeichnete sich ab.

Die Cellistin stiess kurz darauf im vollen Scheinwerferlicht der Parkbeleuchtung auf den zweiten Posaunisten des Opernhaus-Orchesters. Auch er ohne Begleitung unterwegs. Auch er leicht angeheitert wie noch manche in dieser wohlig lauen Nacht, was im sanft belebten Getümmel nicht weiter auffiel, an einer grossen, dunklen Cigarre saugend und den Rauch kunstvoll ausstossend.

Sie trank mit ihm zusammen noch manches Glas Rotwein, obwohl sie diese ungehemmte, lustvolle Raucherei störte. Sie liess es einfach geschehen wie ein sanfter Regen nach einem heissen Sommertag. Immerhin war man nicht in einem Raum sondern im Freien, das geheimnisvolle Funkeln unzähliger Sterne über sich. Sie musste sich nicht überwinden. Sie scheute sich, ihm die Freude an seiner grossen, dunklen Zigarre zu nehmen. Zudem blies er ja den würzigen Rauch rücksichtsvoll immer leicht auf die Seite hin zum nächsten Tisch, wo zwei rauchende und eifrig pokulierende Paare offenbar in der Phase des gegenseitigen Witze-Erzählens waren. Schallendes Gelächter, Bassstimmen überhöht von immer wieder neu aufblühenden hohen, kreischenden Frauenstimmen.

In der Morgendämmerung, als die letzten Besucher den Ausgängen des Parkes zustrebten, fuhr sie erstaunlich sicher in ihrem schwarzen offenen Cabriolet nach Hause.

Die Polizeikontrollen fanden in jener Nacht an anderen Orten statt.

In seiner Abteilung jedoch war und blieb er auch nach diesem aufregendem Park-Erlebnis in lauer Nacht der unangefochtene Chef. So auch am darauf folgenden Montag bei der rituellen Team-Sitzung mit seinen noch etwas verschlafen wirkenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Es ging dabei für die Abteilung und insofern für das Amt doch recht wichtige Diskussionen und Beschlüsse, um irgendwie Entscheidendes, fassbar auch im Nachhinein in elaborierten Aktennotizen und den darauf sich abstützenden, sorgfältig abgefassten Verfügungen, papierene Leistungs-Ausweise, Anwärter schliessslich für sorgfältig gehütetes Archiv-Material im weitläufigen Kellergeschoss des Amtes.

Diese Verfügungen hatten fast immer letztendlich mit Finanzen zu tun. Mit Geld. Mit Steuergeldern. Zahlen und nochmals Zahlen bis hin zum fett gedruckten Schlussbetrag in Franken und Rappen. Und all diese Zahlen waren allesamt erratisch, das heisst nicht allzu rund. Es schien, als wollte man damit den Anschein von seriöser Kalkulation nicht nur wecken sondern geradezu verstärken. Da wurde tatsächlich mit einzelnen Franken, ja sogar mit Rappen operiert und nicht einfach mit auf fünf oder null gerundeten Beträgen, auch wenn diese manchmal einige zehntausend Franken betrugen.

Und ebenso wichtig wie die „genauen“ Zahlen immer wieder die Kommas und Semikolons und die Klammern und die Gedankenstriche an der richtigen Stelle und natürlich die Abstände, die Numerierung der Seiten, die Überschriften, das gesperrt Gedruckte, die korrekten Namen der Unterschriftbefugten.

All diese verwaltungstechnischen Köstlichkeiten waren übrigens auf einem grafisch hervorragend gestalteten Merkblatt von mehreren Seiten festgehalten, das neuerdings eben auch, wie schon erwähnt, die sprachliche Berücksichtigung alles Weiblichen forderte.

Da durften also nach neuester Regelung der Verwaltung die Frauen nicht mehr einfach mitgemeint sein, schon gar nicht mit einer präludierenden oder abschliessenden Generalklausel. Entsprechend länger und manchmal wie auf Stelzen kamen die Sätze daher, fast wie auf Stöckelschuhen, nein, viel eher wie in Bergschuhen mit hohen Absätzen: zur Freude und Genugtuung der meisten Frauen, vor allem der jüngeren. Mit interessanten Ausnahmen freilich. Zum Grinsen und da und dort zum Ärger oder müden Lächeln der "männlichen Mitarbeiter".

Nicht selten war der Aufwand für eine Verfügung grösser als die darin geforderte Summe. Das hatte ihm mehr als einmal einer seiner Mitarbeiter vorgerechnet. Oder war es eine Mitarbeiterin? Dieser vermeintlich zeitraubende Unsinn, dieses bemühende Theater, diese unsägliche Bürokratie, dieser elende, verdammte Verwaltungszirkus, wie sich der eine oder die andere einmal entnervt äusserte. Vor allem wenn der Chef wieder einmal auf Vortragstour oder in einem Fortbildungskurs war. Ganz laut und unwidersprochen im Flur draussen oder unter einer der zahlreichen Türen geäussert oder während der Pause in der Cafeteria bei Kaffee, Schokolade, Tee und Gipfeli. Man ärgerte sich immer wieder, bevor man darüber nachsichtig lächelte und zur Tagesordnung überging.

Aber allen war klar: es geht da um Steuergelder. Geld aus der Bundeslade. Der beklagte Aufwand war ärgerlich aber vielleicht doch notwendig.

Er hatte, wie wir bereits wissen, in einem späteren Zeitpunkt versucht, die Chefstelle über ihm, die Amts-Chefstelle zu erklimmen. Doch wurde er von einem Juristen von ruhiger, vornehmer Erscheinung und Wesensart „geschlagen“. Auch dieser Mann immer sorgfältig gekleidet, ab und zu mit Flecken auf den Hosen oder auf der Jacke, jedoch immer mit einer tadellosen Krawatte. Er wäre in einer Bank weniger aufgefallen als hier im Amt. Ein Zauderer jedenfalls, der es mit niemandem verderben wollte.

Und unser Abteilungs-Chef war also von diesem Karriersiten überholt, ausgestochen worden, von einem Juristen, der es ehrlich allen recht machen wollte und sich deshalb immer wieder als erpressbar erwies, wenn man mit dem nötigen Nachdruck und Beharrlichkeit auf ihn eindrang, ihm Angst machte.

Ein Chef darf keine Angst haben. Das war seine Meinung. Aber auch er, der oberste Chef im Amt, war nicht frei davon.

Zurück zu unserem Abteilungsleiter, der in seiner Freizeit die Künste und vor allem Künstlerinnen liebte. Sorgen bereitete ihm immer wieder die Vorstellung, von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht geschätzt zu werden, obwohl er immer wieder Zeichen der Zuneigung empfing: einen Blumenstrauss zum Geburtstag von seiner Sekretärin, pardon, von seiner Sachbearbeiterin, einen Kaffee in der Pause von einem Mitarbeiter, eine Freikarte für die Oper von einer musikliebenden Mitarbeiterin, eine Flasche Wein von einem Untergebenen, der während der Ferien in Südfrankreich wie gewohnt günstig eingekauft hatte.

Er meinte, keine Angst zu spüren, der Abteilungs-Chef, obwohl tiefer stehend im Verwaltungsgefüge als sein braver, zurückhaltender Rivale und Vorgesetzter, der Jurist, der über ihm stand und die dicken Fäden zog. Er glaubte sich in allem Ernst, nicht erpressbar und insofern fähiger als sein direkt Vorgesetzter zu sein, schwierige Situationen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu meistern.

Wenn einmal auch bei ihm eine innere Unruhe aufstieg, Sorgen sich auszubreiten drohten, wurde er instinktiv noch aktiver, zielstrebiger und somit auch aggressiver als gewohnt. Das hierarchische Verhältnis stimmte für ihn deshalb überhaupt nicht. Wenn er nachgab in einer Auseinandersetzung mit dem Amts-Chef, war es in seiner Wahrnehmung bloss kluges Verhalten für den Augenblick, ein taktisches Manöver, was an seiner grundsätzlichen Strategie und seiner Selbsteinschätzung nichts, aber auch gar nichts änderte. Und es schmeichelte seiner Empfindlichkleit, selbst in kritischen Augenblicken als demokratisch vorbildlich und nicht immer wieder als rücksichtslos und autoritär zu gelten. Ihm kam merkwürdigerweise nie in den Sinn, dass Leute mit starkem Machtbedürfnis und Geltungsdrang im Beruf, im Vereinsleben, in der Gesellschaft ganz allgemein, auch in der Familie, in jedem menschlichen System an die Spitze drängen und sehr oft auch dort ankommen. Und dabei nicht selten vereinsamen.

Es gibt jedoch immer wieder führende Männer, welche in ihrer eigenen Familie eine so gänzlich andere Rolle spielen, konträr zum beruflichen oder politischen Alltag, das heisst eine sehr untergeordnete. Es gibt die starken Männer in Wirtschaft und Politik, die sich für anständiges Geld von einer verständnisvollen Domina quälen und finanziell ausbeuten lassen. Oder von der eigenen Frau, von den eigenen Eltern, von den eigenen Kindern.

Was jedoch zu Hause bei unserem Abteilungs-Chef getan werden musste, das bestimmte seine Frau. Meistens. Das hatte sich nicht einfach so ergeben. Das war von Anfang an ausdrücklich und ausführlich beredet und abgemacht und zum Teil sogar schriftlich festgehalten worden. Vieles schon in den flockigen Monaten vor der Ehe.

Es war, wie wir bereits wissen, seine zweite Ehe. Seine erste Frau, mit der zusammen er denselben Kindergarten in R.... besucht hatte, verliess ihn kurz vor Weihnachten. Eine unwillkommene und schmerzliche Erfahrung, nachdem sie ihn mit einer schwarzhaarigen jungen Frau, einer ehemaligen Schulfreundin ihres Mannes, wie sich später herausstellte, beim angeblich harmlosen Zwiegespräch im Wald in der Umgebung des Zoologischen Gartens ertappt hatte. Sie zog vorerst zu ihren Eltern in ihr ehemaliges Mädchenzimmer und setzte von dort in kürzester Zeit die Scheidung durch.

Nicht zuletzt hatte es sie zunehmend befremdet und gestört, dass er vor allem Chef im Amt und insofern nur selten und dann müde und meistens stumm am späteren Abend mit ihr zusammen war. Ihm genügte, so ihr Eindruck, die vielfältige und anspruchsvolle Arbeit im Amt vollauf, um ein erfülltes Leben zu führen. Mindestens ein ausgefülltes.

Die berufliche Arbeit ging bei ihm ohne wenn und aber vor. Sie füllte ihn aus. Das genügte ihr jedoch je länger desto weniger. Sie fühlte sich als Frau und Mensch nicht wahrgenommen, nicht geschätzt, nicht geliebt.

Vernachlässigt und unwert fühlte sich auch sehr bald seine zweite Frau, die er innerhalb eines Jahres nach der ersten Scheidung geheiratet hatte. Die mit der guten Nase. Dies konnten auch die zwei Töchter nicht ändern, die brav die Bänke des Gymnasiums drückten und regelmässig gute Zeugnisse nach Hause brachten. Überhaupt lief die Ehe schon nach den ersten Monaten nicht mehr so gut, wie sie beide selbstverständlich erhofft hatten, obwohl sie ihr Rechtsstudium kurz nach der Trauung aus Rücksicht auf ihn und seine berufliche Karriere abgebrochen hatte. Sie fühlte sich jedoch wenigstens bei ihrem von Zweifeln begleiteten Streben nach grösserer Selbständigkeit in ihrer bunt zusammengewürfelten Selbsterfahrungsgruppe gut aufgehoben.

Sie besuchte diese merkwürdig interessante Gruppe übrigens mit seiner ausdrücklichen Zustimmung, und zwar am Freitag. Und die Freitage wurden für sie immer mehr zu Sonntagen.

In dieser professionell geleiteten Gruppe, in der viel gelacht, aber auch viel geheult, Kissen geworfen und auch auf andere Weide getobt wurde, machten nicht nur Sozialarbeiterinnen und zwei Sozialarbeiter mit, sondern auch Psychologen, Psychiater und zwei Theologen, zwei Chef-Beamte der städtischen Verwaltung, ein Maschinen-Ingenieur und eine Werbeberaterin, ein unlängst promovierter Arzt, ein Psychiater aus dem Berner Oberland, der noch nicht aufs Geldverdienen in der eigenen Praxis aus war, sondern erst einmal nach dem langen, entbehrungsreichen Studium neue und unkonventionelle und vor allem praktische Erfahrungen sammeln wollte.

Alle sehr beredt, manchmal doch auch träge, manchmal munter und immer wieder von neuem mitteilungslustig, besonders die Psychologen und Psychiater. Und unendlich hilfsbereit vor allem gegenüber Teilnehmerinnen, die ihre Hilflosigkeit offenlegten oder gar hinausschrieen. „Ich fühle mich hilflos“ war eine Art Losung, ein Zauberschlüssel in dieser freitäglichen therapieoiden Gemeinschaft. Und „hilflos“ stand zu jener Zeit auch an manchen Hauswänden der Stadt geschrieben oder geschmiert. Spontane und fast unbegrenzte Hilfsbereitschaft der Gruppenmitglieder nach Phasen der ausgestandenen, ausgeheulten, hinausgeschrieenen Hilflosigkeit.Wer nicht mindestens einmal geschieden war oder seinen Eltern oder Geschwistern nach dem Leben getrachtet, hatte anfänglich seine liebe Not, so schien es, mit dem Rest der Gruppe in Beziehung zu treten. So empfand sie es wenigstens zu Beginn. Aber da halfen, so vermutete sie nicht ohne leichtes Schaudern, vor allem noch Inzest, Babyfickerei, ein nicht aufgeklärter Mord oder vermeintlich Schlimmeres, Verwerflicheres, um ungeteilte, engagierte und andauernde Aufmerksamkeit zu erhalten: Steuerhinterziehung, Geldwäscherei, Verbindungen zur Mafia, zur SVP, zur FIFA, geheime Parteienfinanzierung, Schmiergelder. Kurz und gut: nicht einmal mehr ein Seitensprung noch das Bekennen der eigenen Homosexualität garantierten das besondere und nachhaltige Interesse der Gruppe, die spontane, ungespielte Neugier und das ehrlich geäusserte Mitleid. So erschien es ihr zu Beginn ihrer Teilnahme. Und auch lange Zeit danach.

Doch genug davon! Sie hatte in drei sich folgenden Zusammenkünften im Rollenspiel einige mögliche Reaktionen ihres Mannes und ihre Reaktionen auf den Gatten ausprobiert, locker und einfallsreich angeregt vom Gruppenleiter, einem sogenannten Trainer mit vermutlich anerkanntem Diplom vom Venusberg in Bonn, ursprünglich Elektro-Ingenieur, unlustig, in einem entsprechenden technischen Betrieb ein Leben lang zu arbeiten, Zweitausbildung als Berater für alle Lebenslagen, mehrere Jahre allein in Indien und Burma, gewaschen in den Fluten des Ganges und in manch anderen trüben Gewässern. Ein sich ständig ausbildender, gefühlvoller, sympathischer, durchaus nicht eingebildeter, lebenslang lernender Psychologe, der übrigens auch einen Bundesrat mit beachtlichem Erfolg für öffentliche Auftritte, besonders im Fernsehen und an Pressekonferenzen sorgfältig und erfolreich vorbereitete. Aber darüber sprach er selbstverständlich nie.

Sie hatte nach fast einem Jahr des Mithörens, Mitmachens, Sich-Mitteilens und Sich-Öffnens ein spirituelles, ein existentielles – wie es der Trainer feierlich ausdrückte - Ur-Erlebnis in dieser wunderbar wunderlichen Gruppe. Auch dies eine nur für Aussenstehende ungewohnte Rede- und Erfahrungsweise. Sie spielte in einer psychodramatischen Sequenz das Schneewittchen und nicht das Rotkäppchen, wie es der Trainer mit guten Argumenten ideen- und wortreich vorgeschlagen hatte. Sie musste diese Figur einfach spielen und sich dabei selber andere, selbstgewählte Vornamen gegeben, wie es in diesem Kreise gang und gäbe war: Agnes Maria und nicht mehr Annemarie Martha.

Agnes, so hatte sie im Lexikon nachgeschlagen, bedeute „heilig“, „keusch“. Die Agnes-Kapelle im Kanton Aargau kannte sie seit einem Familienausflug in der Kindheit. Und das niedliche Schneewittchen bereits seit dem Kindergarten. Dass sie am gleichen Abend, nach der eigenwilligen Namensgebung, nach dem erregenden Erlebnis ihrer spirituellen Neugeburt sich von einem evangelischen Theologen auf einer Bank auf dem Zürichberg mit Blick auf die Quartierkirche befriedigen liess, ohne ihn freilich in sich eindringen zu lassen - das war ihr zu gewagt und zu umständlich im Freien - , verschaffte ihr keine Gewissensbisse, nachdem sie ihren Gatten wenige Tage zuvor dank ihrer guten Nase entlarvt hatte. Auf Grund des ekelhaften Gestankes, der von seinen uralten grauen Hosen ausgegegangen war.

 

Sauhund!

Scheisse!

Sie hatte ihre ganz persönliche Auffassung von Heiligkeit und Keuschheit. Sie allein bestimmte darüber für sich selbst und nicht die anderen, auch nicht die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihrer sonst so geschätzten Selbsterfahrungsgruppe.

Ein Vorteil war, völlig unbeabsichtigt übrigens, wie sie später, selber überrascht und amüsiert feststellte, dass sie nach dieser Erwachsenen-Taufe die Initialen auf ihrem Briefpapier und auf den Taschentüchern und Bettlaken nicht zu ändern brauchte. Wundersame Fügung auch das.

Kehren wir wieder zurück ins Amt! Kehren wir zurück zur Normalität, in der sich unser Amtschef sich ja zumeist und gerne aufhielt!

Merkwürdig war, dass er in seiner Abteilung immer wieder Lösungen durchführen wollte und Lösungen durchführte, bevor er mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gehörig darüber gesprochen, geschweige denn überhaupt ins Bild gesetzt hatte. Manchmal täuschte er sich wohl darin, meinte, er hätte sich doch mit dem/der oder einem/r andern schon darüber unterhalten. Vielleicht waren es Selbstgespräche, die ihn zu dieser Annahme verleiteten.

Er beurteilte sich ja selber als aktiv, zugreifend und die andern Menschen um ihn herum zumeist als abwartend, passiv, nachfolgend, auf eine etwas langweilige Art brav, ohne nennenswerten Ehrgeiz, ohne inneres Feuer. Er meinte, eine Spur zu hinterlassen, sei ein allgemein ursprüngliches Bedürfnis der Menschen, auch beim einfachen Magaziner, Verkäufer, Hauswart oder Strassenarbeiter. Auch bei einer Hure, einer Liebesverdienerin, wie er sich auszudrücken angewöhnt hatte. Bei allen wachen und vernünftigen Menschen.

Er verfolgte eine Doppelstrategie: rasche eigene Entschlüsse in die Tat umsetzen, zugleich jedoch, bzw. ganz leicht verzögert die Mitarbeiter einzubeziehen, sie zu motivieren. Zunächst die Opinion Leaders, die Meinungsmacher herauspflücken, dann die Meinung der hierarchisch höher Gestellten und politisch Massgeblichen sondieren. Wenn jemand einmal spontan oder ganz bewusst aussagte, von ihm motiviert worden zu sein, verging er fast vor Seligkeit, liess sich aber nichts anmerken, spielte die Sache herunter, sprach ganz selbstverständlich und überzeugend von den bemerkenswerten Verdiensten seiner Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen.

Aber immer wieder, wie schon beschrieben, schritt er unvermittelt zu raschen, die anderen überraschenden, geradezu eilfertigen, brüskierenden Tat. Zur ungeduldigen Lösung, weil der betreffende Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin nicht gleich erreichbar war, und weil er jetzt gerade dazu einige Minuten Zeit hatte, die nicht mit Sitzungen, Besprechungen, Telefonaten und Faxaten und Kontrollgängen durch die Abteilung ausgefüllt war.

Weil er getrieben war, nicht zuletzt mit dem Blick auf seinen Chef, den Juristen, dessen Funktion er so gerne übernommen hätte. Man sollte ihm ja nicht nachsagen, er sei nicht entscheidungsfreudig oder noch schlimmer: nicht genügend durchsetzungsfähig. Das hatte seine erste Frau ihm ständig unter die Nase gerieben und ihn dadurch manchmal - in stressreichen Zeiten - fast zur Raserei getrieben. Nur hatte sie es halt anders gemeint.

Wäre er durchsetzungsfähig gewesen, so war sie überzeugt, dann hätte er es doch fertig gebracht, seine beruflichen Arbeiten zu begrenzen, mehr und vor allem früher zu Hause zu sein oder mit ihr ab und zu etwas zu unternehmen ausserhalb der gemeinsamen Wohnung, statt ständig Überzeit zu leisten im Amt und und dann noch Akten nach Hause zu nehmen, nicht als Ritual wie das doch so viele tun, sondern um die Papierberge daheim in aller Ruhe und in gebotener Gründlichkeit zu bearbeiten, zumeist mit Hilfe des je neuesten Laptops, seines ständigen Begleiters. Selbst in die Ferien verreiste er mit seiner Frau und den Kindern nie, ohne einige Konvolute und seinen Laptop neuester Bauart mitzunehmen, vom Amt zur Verfügung gestellt, mit einseitig bedrucktem Abfallpapier von seinem Büro, zwei, drei Rollen kräftigen weissen Papiers für allfällige mind maps, die er später entweder in seinem Büro aufhängte wie Heiligenbilder. Zur Erinnerung für sich und seine Team und zur distanziert gezielten Mitteilung an seine Besucherinnen und Besucher.

Man sollte ihm ja nicht nachsagen, es gehe in seiner Abteilung alles so lange, sie seien allesamt verwöhnte und langweilige Beamte. Er hasste das Wort Beamte, er konnte es nicht hören. Es weckte seinen Zorn. Und wenn er es dennoch hörte, verfinsterte sich sein Gesicht. Bei öffentlichen Auftritten definierte er den Beamten als einen Menschen gleichsam mit höheren Weihen. Eine Art von Priester. Eine Person mit besonderen Verantwortlichkeiten. Und er bedauerte ausdrücklich die formelle Abschaffung des Beamten.

Immerhin blieben die Ämter und ihm sein Amt erhalten.

Er hasste immer wieder den grossen Zeitaufwand besonders bei Veränderungen, welche die ganze Abteilung betrafen, obwohl er wusste, dass wichtige Veränderungen Zeit brauchen, und dass er jeweils nachher nicht ohne Rührung davon sprechen konnte, etwas sei ganz allmählich herangereift.

Ihm war lieber, wenn etwas sogleich gemacht wurde. Ohne Zeitverlust. Ein Macher trotz allen journalistischen und literarischen Verunglimpfungen, welche die Macher und Macherinnen unserer Zeit über sich ergehen lassen müssen.

Und Zeit ist überhaupt das Wertvollste im Leben. “Nimm dir Zeit und nicht das Leben!“ war einer der bekannten wohl gemeinten Wahrsprüche und in fast jeder Kursunterlage abgedruckt, bereit, goldig eingerahmt zu werden. Er hatte Mühe damit. Er mochte solche Sprüche nicht. Der Spruch über die Zeit hing zwar auch in seinem Büro an der Wand, seitlich von seinem ausladenden, massiven Schreibtisch, auf ein kleines Stück Papier gedruckt, ein Komputerausdruck, den man nur lesen konnte, wenn man sich auf kurze Distanz näherte.

Immer wieder fühlte er sich von seinen Mitarbeitern ertappt bei seiner Ungeduld, die in Spannung stand mit dem Wunsch nach Lob für tüchtige, effiziente und effektive Führung. Es war wichtig für ihn, sich von Zeit zu Zeit, auf die Schultern zu klopfen, besonders wenn niemand anders da war, der dies tat. Dieses selbst bestätigende Schulterklopfen vollzog er manchmal vor dem Spiegel, zu Hause und auf der Toilette im Amt. Selbst noch in den Ferien. Im letzten Sommer in der Umkleidekabine, wo man das eintönige Rauschen des Meeres nicht überören konnte.

Dieses Beklopfen der eigenen Schulter, links oder rechts, wurde auch in den Weiterbildungskursen immer wieder empfohlen. Er tat es wie gesagt, immer wieder, obwohl ihm dieses Ritual manchmal doch etwas läppisch vorkam, auf alle Fälle irgendwie ungenügend. Dennoch gefiel ihm sein Gesicht, wenn es ihm aus dem Spiegel heraus entspannt entgegenlächelte, so weich, so gar nicht herrscherlich und angestrengt. Und schliesslich hatte er, der Chef, die Verantwortung, auch wenn er ein Meister darin war, andere, tiefer stehende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unerbittlich zu belangen und zu belasten für fast jede ihrer Nachlässigkeiten und angeblichen Fehlleistungen.

Aber es erschreckte ihn doch immer wieder, wenn seine sonst so lahm auf ihn wirkenden Mitarbeiter sich plötzlich auf die Hinterbeine stellten und sich gegen ihn, ihren Chef aufmuckten, oder weil er wieder etwas erledigt hatte, sehr rasch, zügig, dynamisch, aber etwas, das eigentlich in die Kompetenz eines Bereichsleiters oder einer Bereichsleiterin gefallen wäre, d.h. auf der nächst unteren Kaderstufe hätte getan werden sollen.

Und dieser Mitarbeiter oder diese Mitarbeiterin hatte immer wieder verblüffend leichtes Spiel, indem er, bzw. sie einfach auf das mehrseitige und mehrfach und immer wieder überarbeitete Pflichtenheft oder auf die vielfältigen, von den meisten gehassten Projektbescheibungen hinwies oder auf zumeist recht ausführlichen Aktennotizen, deren Doppel regelmässig und ohne Verzug ins Fächlein des Abteilungschefs gelegt werden mussten. Manchmal tat dies auch der Abteilungs-Chef. Und dies tat er dann mit Lust: hinweisen auf das Leitbild der Abteilung, auf das Pflichtenheft, auf die Aktennotizen und manchmal sehr kühnen, elaborierten Projektbeschreibungen. Aber dann wehe den Bereichsleitern und Bereichsleiterinnen, dann konnte er mit vollem Recht recht wütend und entsprechend ausfällig werden. Und dann immerhin mit gutem Recht.

Das jüngste Problem, die Hürde, das Hindernis, welches er neulich zu überwinden aufgerufen war, die als unangenehm empfundenen Spannungen betrafen nicht etwas Fachliches, Pflichtenheft-Inhaltliches, Aktennotizliches. Auch im Leitbild der Abteilung stand nichts darüber, etwas, das mit Überschreitung von Kompetenzen oder nicht eingehaltenen Terminen und Absprachen zu tun gehabt hätte. Das Problem bezog sich auf etwas sehr Banales, Persönliches, Privates, speziell auf Soziales, Emotionales, geradezu Menschenrechtliches also somit auch Öffentliches.
Das Rauchen am Arbeitsplatz in der Abteilung. Das amtliche Rauchen. Das Rauchen im Amt.

Am liebsten wäre ihm gewesen, was alle wussten, wenn niemand im Haus während der Arbeit geraucht hätte. Bei den Einstellungsgesprächen war das Rauchen jedoch noch kein Thema. Er hatte auch nie etwa besonders geschnuppert, um Raucher oder Raucherinnen rechtzeitig zu erkennen. Er wollte ganz einfach Leute, die gut und schnell arbeiten. Und ihm möglichst nicht gefährlich werden konnten. Rauchen war für ihn eine Privatsache, eine Nebensache. Aber eben auch eine ärgerliche Sache.

Er selbst hatte schon vor vielen Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Als Schüler und noch früher schon am Ende der Kindergartenzeit, mit fünf oder sechs Jahren hatte auch er seine ersten Erfahrungen mit diesen Glimmstengeln gemacht, das eine und andere Mal geraucht, meist zusammen mit Kollegen: Nielen im Wald, fortgeworfenene Zigaretten- und Stumpenstummel auf Strassen und Plätzen, höchst selten eine angerauchte Brissago oder gar eine Zigarre, manchmal auch eine ganze Zigarette, die er sich von einem Schulkameraden abgebettelt oder sonstwie zugesteckt bekommen hatte. Als Gegenleistung half er ihnen dann beim Lösen von Rechen- und Geometrieaufgaben.

In der Rekrutenschule hatte er noch einmal und sehr ausgiebig geraucht, im Ausgang zusammen mit den Kameraden und auch hie und da verbotenerweise während des Dienstes. Reiner Übermut. Aber nach einigen Monaten war er so weit: er konnte ab und zu auf dieses Vergnügen verzichten, ohne Not, fast spielerisch. Sein Wille war gefordert. Und sein Wille spielte mit. Das reizte ihn. Er fühlte sich gedrängt, seinen starken Willen zu beweisen. Dazu kam, dass ihn die Auslagen fürs Rauchen reuten. Geld wollte er nicht mehr fürs Rauchen ausgeben, sondern für gesündere Dinge. Und ab dem dritten Monat in der Rekrutenschule konnte er sich nicht ohne stillen Stolz seines starken Willens gewiss sein und seine rauchenden Kollegen als Schwächlinge, als willensschwache Menschen hinstellen.

Unbehagen verspürte er von allem Anfang an, wenn Frauen oder Mädchen rauchten, ganz zu schweigen von rauchenden Grosmüttern oder gar Walliserinnen. Hatte nicht Richard Weiss in seiner „Volkskunde der Schweiz“ darüber berichtet? Er hätte sich jedenfalls seine Mutter oder seine beiden Schwestern nie mit einem Glimmstengel zwischen den Lippen vorstellen können. Rauchende Frauen an Bahnhöfen, Tramhaltestellen oder auch sonst unterwegs auf der Strasse waren ihm ein Ärgernis.

Seine schwache Seite lag woanders: bis weit ins Erwachsenenalter hinein verbrauchte er sein Taschengeld für die ständige Erweiterung seiner Modell-Eisenbahnanlage, einmal auch für eine blitzüblanke Dampfmaschine, also für nicht kurzlebige Gegenstände der Lust und der Freude.

Er verabscheute es übrigens auch, im Unterschied zu den meisten seiner Kumpanen in der Rekrutenschule und später im Leichtathletik-Club, für erotische Abenteuer Geld auszugeben, für Freudenmädchen also, für Prostituierte, Liebesverdienerinnen, die damals noch Huren hiessen. Das heisst, er dachte wohl daran, vor allem in einsamen Stunden recht intensiv: an erotische und sexuelle Abenteuer, phantasierte sich in abwegige Situationen hinein, vage aber beharrlich. Erregend waren für ihn unter anderm die vorweihnächtlichen und vorsommerlichen Warenhaus- und Mode- Kataloge mit den zur Schau gestellten Miederwaren, Unterwäsche, Badeanzüge für Frauen, Reizwäsche, wie sich seine Grosmutter mit listigem Lächelen auszudrücken pflegte.

Er hatte andere, seiner Überzeugung nach höhere, wertvollere Ansprüche an sich und die andern. Aber vor allem fürchtete er sich vor gefährlicher Ansteckung beim losen, unbedachten Kontakt mit unbekannten Frauen und Mädchen. Frühzeitig und eindringlich hatte ihn seine Mutter gewarnt. Auch Nietzsche, den er eine Zeit lang fast süchtig gelesen hatte, war ihm da ein mahnendes „Vorbild“. Ganz zu schweigen von Ulrich von Hutten. Auch er an Syphilis erkrankt, wie viele andere auch, hatte auf der Ufenau seine letzte Ruhestätte gefunden.
In seiner Abteilung waren drei Raucher. Das wusste er schon lange, und das lag innerhalb der statistischen Erkenntnisse über die Raucherdichte in Betrieben der Stadt und auf dem Lande. Es waren genauer gesagt drei Raucherinnen
Man hörte die drei nie spontan von einem Lebenspartner oder einer Lebenspartnerin sprechen, geschweige denn von Lustgespielen oder Lustgespielinnen. Die drei bekennenden Raucherinnen im Amt, zwei davon nicht mehr ganz jung und alle drei nicht verheiratet. Ledige Frauen. Singles.
Die älteste, Martha Müller, die zugleich auch am längsten in der Abteilung arbeitete, und zwar gemäss der aktuellen Terminologie als Sachbearbeiterin, nicht bloss als Sekretärin oder Kanzlistin, war auffällig mager. Fahles Gesicht, schulterlanges, dunkelbraunes Haar, durchsetzt von ersten grauen Einzelgängern. Dunkle, fragend wirkende Augen. Sie erschien meistens in schwarzen Beinkleidern und schwarzem Pullovern oder Shirts, was ihr Gesicht fast elfenbeinartig erscheinen liess. Aber unentwegt pflichtbewusst freundlich, hilfsbereit trotz häufig finsterer, abweisender Miene, wenn sie wieder einmal eine Auseinandersetzung mit dem Chef gehabt oder vielleicht ein unerfülltes oder zu anstrengendes Wochenende verbracht hatte.

Eigentlich waren es keine wirklichen Auseinandersetzungen, wenn der Chef ihr kurz und bündig wieder einen unerwarteten Auftrag gab, der „eigentlich schon gestern hätte erledigt werden sollen”, wie er sich auszudrücken pflegte. Auch das ein Ritual. Oder dann handelte es sich um einen Auftrag, den die meisten nicht gerne entgegengenommen hätten. Sie nahm ihn entgegen, ohne erst lange zu diskutieren. Sie wirkte auf den unbefangenen Besucher weder froh noch zufrieden, wie nicht ganz von dieser Welt. Sie fühle sich einfach nicht glücklich, wie sie dem einen oder dem andern bei einer Tasse Kaffee in der kurzen Vormittagspause mitteilte. Aber sie klagte nicht. Die Arbeit war für sie immer wieder dergestalt, dass sie sich überwinden musste. Aber die Arbeit wurde getan.

Sie träumte derweil wohl von anderen Dingen.

Mit ihrem Chef verband sie keine besondere Sympathie. Sie schätzte es zwar, wenn er ab und zu, wenn andere zugegen waren, sie auf eine prononcierte Art und Weise lobte, sie besonders als Frau lobte, dies jedoch in eher trockenem Ton, kaum lächelnd. Und dabei wusste sie ganz genau, dass er ihre und ihrer Kolleginnen Wachsamkeit in sprachlichen Dingen nicht sehr ernst nahm.

Der Regierungsrat hatte vor Monaten ein Papier in Umlauf gesetzt - das Resultat mehrmonatiger Arbeit, von einer Projektgruppe in unzähligen Sitzungen erarbeitet - , in dem genau stand, wie gewisse Wörter hier im Amt verwendet werden mussten, so dass sich keine Frau benachteiligt fühlen konnte. Sie empfand dies alles immer wieder leicht peinlich. Aber sie war die erste, die sich auflehnte, rebellierte, wenn nicht in den Sitzungen, in Texten, die das Amt veröffentlichte, die weiblichen Formen speziell und zuerst an die Reihe kamen: die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Besucherinnen und die Besucher, die Raucherinnen und die Raucher usf.

Zur Erinnerung: in der Abteilung gab es nur Raucherinnen. Drei. Kein einziger Raucher.

Aber Martha Müller wusste Rat, indem sie darauf hinwies, dass immer wieder Leute ins Haus kommen würden, Männer vor allem, also Leute für wichtige und oft sehr lange Besprechungen, Sitzungen, Männer, die rauchten, leidenschaftliche Raucher. Und diese Leute dürften ebenso wenig diskriminiert werden wie die rauchenden Mitarbeiterinnen.

Gefahr der Diskriminierung. Ein Gespenst, das immer wieder, nicht zuletzt auch im Amt, aufzutauchen beliebte.

Die etwas jüngere und etwas kräftiger gebaute Santhia Grumello, aber alles andere als mollig, trug kurzes schwarzes Haar. Schwarz wie ihre Augen. Wie Kohlen. Auch sie trug fast immer, häufiger jedoch als ihre ältere Kollegin, lange, sehr eng enliegende Beinkleider. Die Pullovers und Shirts zumeist schwarz und sehr eng. Die Greco hätte einem in den Sinn kommen können, der Existenzialismus, Paris. Sie war Sachbearbeiterin in einem speziellen Bereich und zudem Fachstellenleiterin.

Die dritte Raucherin, die jüngste von den dreien, etwas über zwanzig, Xenia Meier, arbeitete erst seit einigen Wochen in der Abteilung. Als Kanzlistin. Richtig „gehört“. Als Kanzlistin. Eine auf den ersten Blick erfrischende Ausnahmeerscheinung. Sie war eher klein gewachsen, von jugendlicher Unbekümmertheit und sportlich gewandt, trug einen kecken, kastanienbraunen Rossschwanz, brachte vor allem, was den Abteilungsleiter ganz besonders freute und recht eigentlich begeisterte, bemerkenswerte Computerkenntnisse mit und war von Anbeginn fest entschlossen, nur die Arbeiten zu verrichten, die ihr selber als sinnvoll erschienen. Kein Chef würde sie deswegen umstimmen oder gar zuwingen können. Und der Chef lächelte leicht belustigt und hoffte wohl per saldo nicht nur bei ihr sondern bei der gesamten weiblichen Belegschaft zu punkten.

Xenia Meier arbeitete von Anfang an rasch und zuverlässig, aber sie tat eben nur, was ihr persönlich sinnvoll erschien, und dies hatte sie ehrlicherweise gleich von Beginn weg angekündigt. Dieses Verhalten führte jedoch schon in den ersten Tagen zu lästigen Diskussionen, Überlegungen und Spannungen in der Abteilung. Bemerkenswert und ungewohnt war jedoch für die übrigen Belegschaft, dass sie nicht bereit war, Überzeit zu leisten. Und Überzeit musste man hier im Amt doch schon immer leisten, wenn es besonders dem Chef als notwendig erschien. Sie half also ihren Kolleginnen und Kollegen nicht, wenn diese in der Arbeit fast ertranken. "Frauen Power der neuen Art", so der allgemeine, den Ärger kaum verdeckende Kommentar. Man liess sie trotzdem zunächst gewähren und wartete gespannt auf die Reaktionen des Abteilungs-Chefs.

Sie trug mit einiger Regelmässigkeit nicht nur Hosen sondern auch zum Teil recht kurze Röckchen, setzte sich aber jeweils so hin, als ob sie lange Hosen tragen würde, breitbeinig ungeniert, ohne dass man dabei eine bestimmte Absicht hätte vermuten sollen. Mochten die andern zusehen, wie sie damit fertig wurden. Ihre nächsten Arbeitskollegen, alles Nichtraucher, liessen sich nur auf sie ein, wenn es absolut unumgänglich war, z.B. beim morgendlichen und nachmittäglichen Schwatz in der Cafeteria im Hause.

Und nun sollte an der folgenden Abteilungssitzung mitten in der Woche endlich das Thema Rauchen behandelt werden. Grundsätzlich und abschliessend.

Und zwar exemplarisch kreativ, effektiv und effizient.

So hatte es der Abteilungs-Leiter rechtzeitig angekündigt und auf seiner grossen Mind Map festgehalten. Er wollte wie gesagt einmal mehr exemplarisch vorgehen, vorbildlich, möglichst basisdemokratisch, auf kreative, effektive und effiziente, zielorientierte Weise, und dies überraschenderweise nicht etwa unter seiner Leitung. Die sollte ein Mitarbeiter übernehmen, ein junger Mann, den alle mochten. Auch er ein überzeugter Nichtraucher wie sein Chef.

Diese List des Abteilungs-Chefs wurde von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wohlwollend grinsend zur Kenntnis genommen, umso mehr ja nicht fachliche Entscheide zu fällen waren.

Es ging ja bloss ums Rauchen während der Arbeit, ums Rauchen im Amt. Ein allgemein menschliches, soziales und gesellschaftlches Problem. Aber deswegen nicht weniger lästig.

Doppelt lästig, weil ganz andere Themen, drängendere, und inhaltlich wichtigere seit Wochen schon auf der Traktandenliste und auf der Mind Map des Chefs standen. Zum Beispiel die dringend notwendige Optimierung der internen Abläufe, die strategische Planung für die nächsten Jahre bis zur Jahrtausendwende und weit darüber hinaus ins nächste Jahrtausend, die Optimierung der Kundennähe und Kundenzufriedenheit - was regelmässig mit gezielten Umfragen und Stichproben überprüft und evaluiert werden sollte - , Vernetzung der neuen elektronischen Kommunikationshilfen, der komplett neu zu gestaltende nächste Jahresbericht, die zweckorientierte und doch wohlwollend lockere, nicht aufsässige Zusammenarbeit mit für die Abteilung wichtigen Politikern und mit den Massenmedien, die Gestaltung und Finanzierung von Personalabgängen, insbesondere Pensionierungen, die Kreation eines neuen Logo und so weiter. Und dies alles schon seit Wochen auf einer riesigen Mind Map an der Wand im Büro des Abteilungschefs jederzeit für jedermann und -frau einsehbar.

Am liebsten wäre es ihm freilich gewesen, wenn sich die Frage des Rauchens im Amt auf andere, auf wunderbare Weise in Rauch aufgelöst hätte.

Aber nun war seine klare Absicht unverkennbar und allen bekannt.

Einer Minderheit, die ihm spürbar nicht geheuer war: bekennende dunstgewohnte, rauchverliebte Mitarbeiterinnen.

Da klangen hintergründig Vorwürfe mit, die er nicht vergessen hatte, Vorwürfe, die er sowohl von seiner ersten wie auch zweiten Frau immer wieder hatte anhören müssen: „Du bist so unsensibel meinen Befindlichkeiten gegenüber. Du bist so rücksichtslos. Du bist ein Egoist.“

Die drei rauchenden Mitarbeiterinnen hatten ihn bei den obligatorischen gemeinsamen Besprechungen am Montag wiederholt eindringlich gebeten - ihre Weiblichkeit entschieden zurückstellend - ganz allgemein die Raucher nicht zu diskriminieren. Als wäre das Recht auf unkontrolliertes Rauchen ein Menschenrecht. Und hier wären ja die Frauen fraglos mitgemeint. Sie wiesen mit kühler Forschheit darauf hin, dass juristisch gesehen der Chef nicht einfach generell das Rauchen verbieten dürfe trotz grundsätzlicher im OR nachzulesender Weisungsbefugnis.

Was steht nicht alles noch in diesem Obligationen-Recht!

Der Abteilungs-Leiter hatte sich schon vor Wochen mit einigen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter informell beiläufig besprochen. In der Cafeteria. Im Treppenhaus. So auch mit Willy Wacker, der die komplizierte und nicht immer dankbare Aufgabe hatte, für Fort- und Weiterbildung der Abteilung zuständig zu sein. Auch er dezidierter Nicht-Raucher, wollte aber die Raucher, insbesondere die Raucherinnen im Amt nicht vergrämen. Er wollte überhaupt niemanden vergrämen. Er vergrämte jedoch Santhia Grumello in der warmen Jahreszeit, wenn er bei 25° C und darüber in nackten Füssen in seinen Sandalen die Räume des Amts durchwanderte. Seine Integrität, seine Sorgfalt, seine Beharrlichkeit verschafften ihm jedoch jederzeit den Spielraum im Amt, den er unbedingt brauchte, um seinen Verpflichtungen nachzukommen. Aber leider bekam er dafür nicht immer die verdiente und von ihm erwartete Anerkennung.

Der Abteilungschef erwartete, dass sein Herbeilassen von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gehörig bemerkt wenn nicht gar gelobt werden sollte. Doch wiesen die drei Frauen - mangels rauchender Männer in der Abteilung - leise triumphierend immer wieder aufs Neue darauf hin, wie wohl eine ganze Reihe von wichtigen Kunden des Hauses ein allfälliges Rauchverbot erleben würden. Unter diesen Leuten seien bekanntlich einige starke, sehr starke Raucher. Was für das Amt zählen müsste, sei nicht so sehr deren fachliches sondern vor allem das nicht zu unterschätzende politische Gewicht. Die Sympathie dieser Leute nicht zu verlieren also äusserst wichtig.

Aber zuvorderst und am dringendsten sei die Raucherfrage eine Frage der Diskriminierung.

Santhia Grumello hatte, was im Amt schon durchgesickert war, und worüber wir schon früher berichtet haben, bereits mit zwei von diesen rauchenden Schwergewichten beiläufig, jedoch ganz gezielt darüber gesprochen und hierbei erfahren, wie sehr es geschätzt würde, wenn nicht verbotenerweise in den Toiletten, draussen auf dem Trottoir vor dem Amtshaus oder doch selbstbewusst, trotzig oder rücksichtslos in einem der Büros im Amt geraucht würde. Dies sei erniedrigend. Unwürdig. Inhuman. Im Treppenhaus. Vor dem Haus allen Blicken ausgesetzt. Im weitläufigen Keller. Auch feuerpolizeilich fragwürdig. Vermutlich sogar verboten. Und vor allem im WC.

Und übrigens sei bekanntlich mit Verboten noch selten etwas Befriedigendes erreicht worden. Weder in der Familie noch in der Schule, noch in den Betrieben, noch auf manchen Gebieten des öffentlichen Lebens. Auf Fussballplätzen oder so. Darüber habe sogar die „Weltwoche“ neulich berichtet. Eine ganze Seite lang und breit. Mit sprechenden Bildern und Kommentaren von regionalen Promis und Fachpsychologen.

Im Besonderen sei die Drogenpolitik ein weiteres sprechendes Beispiel. Haschisch. So ein Blödsinn, Haschisch zu verbieten. Warum nicht gleich den Konsum von Alkohol unter Strafe stellen? Ein Witz. Saufbolde würden mit Samthandschuhen oder überhaupt nicht angefasst. Harmlose Haschisch-Geniesser und Leute, die ihre Schmerzen damit lindern wollen, würden sogar verfolgt und unerbittlich bestraft.

Und da gebe noch weitere Beispiele. Unzählige Eltern sollten doch einmal versuchen, ihren heranwachsenden Töchtern zu verbieten, zusammen mit ihren Freundinnen hie und da an einem Wochenende an einer Party in einem der Trendlokale der Stadt teilzunehmen.
Wie weit sei man gekommen mit dem Verbot des Strassenstrichs, mit dem Freier-Verbot?

Der Hinweis auf weitere Beispiele erübrigt sich hier, weil diese strenge und gewagte Aussage über Verbote zum Dogma nicht nur des Amtes sondern auch grosser Teile der ganzen Gesellschaft gehörte. Mit interessanten Ausnahmen.

Aber da stellte sich noch ein anderes Problem. Verbote rufen unweigerlich nach entsprechenden Kontrollen. Bei jedem Verbot, das nicht zum Papiertiger werden soll, sind Kontrollen und geeignete, das heisst nachhaltige Reaktionen unabdingbar. Im Falle eines allfälligen Rauchverbotes seien somit nicht bloss unmissverständliche Strafandrohungen sondern eine nachhaltige Strafverfolgung vorzusehen.

Aber wer sollte dies im Amt tun? Wer würde diese Kontrolle ausüben? Freiwillige? Wohl kaum. Wer müsste darüber hinaus die Kontrollen kontrollieren? Wer würde hierbei wohl in Frage kommen? Wer würde die Täter, die Übertreter strafen? Und worin bestünde die Bestrafung? Die absehbare Folgen: Vergiftung des Arbeitsklimas und weitere Aufblähung der jetzt schon aufgeblähten Bürokratie und Kosten. Mehrkosten. Und dann die Gefahr, sich lächerlich zu machen.

Also noch einmal: Wer sollte im Haus kontrollieren, ob all die Verbote und Verbötchen eingehalten würden? Der Abteilungsleiter selber?

The boss himself?

Warum denn nicht? Bewahre!

Der Hauswart?

Der wird sich bedanken. Forget it! Vergiss es! Das ist ein heimlicher Raucher.

Appell an die sogenannte Eigenverantwortung?

Oder doch lieber mit Hilfe von Überwachungskameras? Video-Überwachung an strategisch wichtigen Orten? Big brother schaut einem womöglich im WC nicht nur von oben sondern gar von unten zu, von allen Seiten gar, wie man oder frau sich abmüht beim Herausklauben einer Zigarette oder sonst eines nikotinhaltigen Stengels. Duftmelder. Odoratoren.

Pfui Teufel!

“Das ist der Teufels sicherlich!“ hörte man jemanden aus dem hintersten Büro singen, der unbemerkt zugehört hatte. Eine bekannte Mozart-Weise.

Fauler Zauber. Zum Teufel!

Der Sitzungsraum füllt sich nur langsam. Es ist ja auch erst kurz vor zehn. Der Abteilungs-Leiter wie gewohnt als erster anwesend, schaut auf seine Uhr, Duplikat einer Rolex, letzten Sommer in Bangkok auf dem bekannten Nachtmarkt erstanden. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eilen aus der Cafeteria herbei. Xenia Meier kaut an der ersten Hälfte ihres zweiten Blätterteig-Gipfelis und versucht mit der linken Hand, die Krümelchen loszuwerden, die sich während ihres Mampfens an ihrem schwarzen Top verfangen haben. Sie bemerkt nicht, dass einige Krumen auf den Boden gefallen sind. Was heisst da einige Krumen? Haufenweise Krumen. Mampft unbekümmert weiter. Santhia mit raschen Schritten aus der nahen Toilette. Mit gewohnter Rauch-Fahne. Nur für Nichtraucher bemerkenswert oder ein Ärgernis. Hat wohl wieder in der Toilette ihre gewohnte Pausen-Zigarette fertig geraucht. Und Rauchen im WC ist doch schon unter dem jetzigen Regime untersagt. Auf Drängen des Hauswartes hin. An der WC-Türe klebt die verschmierte Verbots-Affiche. Seit Monaten. Eine diagonal durchgestrichene Zigarette auf einer Verbotstafel: schwarz, rot, weiss.

Die Tische wie üblich bei allgemeinen Anlässen zu einem grossen Rechteck gefügt. Jeder kann so jedem ins Gesicht sehen, wenn er will, und braucht weder Blicke von hinten zu fürchten noch ungeliebte Hinterseiten anzusehen. Im Rücken der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die weissen, mässig bebilderten Wände, zarte Lithos, Anschaffungen und Eigentum des Staates.

Die Kreisformation wäre besser geeignet, meint der Abteilungs-Chef, wie es so üblich ist in den meisten Weiterbildungs-Kursen, die er besucht hat. Aber dazu ist der Raum wirklich zu klein.

In der Mitte des nichtsdestoweniger wohltuend grossen Raumes, auf einem etwas kümmerlichen Holzstühlchen ein kleines, anmutiges Blumengebinde, von Martha Müller ungeheissen schon um acht Uhr in der Früh hingestellt. Der Abteilungs-Chef wird sie bei passender Gelegenheit dafür ausführlich loben. Aufgeräumt nimmt jeder gerade den nächsten Platz ein, der frei ist. Man ist flexibel. Spontan. Hier gibt es keine Stammplätze. Ausser für den Moderator, für den Leiter oder die Leiterin der Sitzung. Links aussen heute der Abteilungs-Chef, der seine langen Beine unbekümmert unter seinem Tisch hervortreten lässt, als wollte er auf den Moderator hinweisen:“ Zeig' du jetzt, was du kannst!“

Der Moderator, ein junger, sportlich wirkender Mann von einnehmendem Wesen, seit kurzem Nichtraucher, macht sich pünktlich an die Arbeit. Er scheint leicht belustigt. Da drückt sich noch rasch Santhia Grumello an seinen Tisch, denn dort hat sie auf den ersten Blick die Lücke erspäht, die ihr genügend Spielraum gibt.

„Liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich habe die sehr ernste, herausfordernde aber doch auch irgendwie neckische Aufgabe, heute mit euch grundsätzlich über die Rauch-Situation in unserer Abteilung zu diskutieren. Auf vielfältigen Wunsch von euch allen. Auf den dringenden und aufrichtigen Wunsch aber auch unseres Abteilungs-Chefs. Nein, nicht bloss zu diskutieren, nicht bloss zu plaudern, sondern anschliessend abschliessend miteinander demokratisch zu entscheiden, wie wir es bei uns im Amt mit dem Rauchen halten wollen und dann wohl auch müssen.“

Schwaches, aufmunterndes Gelächter. Einige rücken sich in eine neue Position. Einer streckt wie der Abteilungs-Chef seine Beine noch weiter unter seinem Tisch hervor. Man gibt sich unentwegt locker.

„Das Anliegen ist bekannt, und die Sitzung von heute schon vor vierzehn Tagen formell angekündigt“, fährt der Moderator zielstrebig weiter und blickt munter in die Runde, das heisst ins Viereck.

„Sind dazu gleich zu Beginn allenfalls noch irgendwelche Fragen? Unklarheiten? - Keine? - Können wir loslegen?“

Kurze Pause.

„Also, lasst es uns versuchen! Ich schlage euch folgendes Prozedere vor: 1. Schritt: Brain storming . Das kennt ihr ja. 2. Schritt: Diskussion in drei Arbeitsgruppen. Die Fragebogen dazu werden noch ausgeteilt. 3. Schritt: Diskussion im Plenum. 4. Schritt: Fassung von Beschlüssen, welche das Rauchen bei uns im Amt verbindlich regeln möchten, äh, mögen...sollen.“

Schwaches Gelächter.

Die beschworenen vier Schritte erscheinen in grossen schwarzen Buchstaben auf der weissen Projektionsleinwand hinter dem Moderator.

Kurzes Gelächter. Dann erneute erwartungsvolle Stille.

„Aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Ich weiss, ich weiss. Ich weiss. Aber bei uns hier sind es vier. Ein Glücks-Kleeblatt hat bekanntlich auch „nur“ vier Blätter und nicht bloss deren drei oder gar zwei. Oder?“

Kurzes, etwas lauteres Gelächter. Erneute Stille.

Ann der Projektionsleinwand hinter dem Moderator erscheint ein grosses grünes Kleeblatt, ein Glückskleeblatt mit vier Blättern, schön und vor allem leserlich beschriftet.

„Die meisten von euch kennen das vorgeschlagene Vorgehen, den ersten Schritt vor allem, von irgendwelchen Kursen her, die ihr habt besuchen dürfen oder müssen.“

Der muntere Moderator lässt es sich trotzdem nicht nehmen, in aller Kürze ausführlich zu erklären, was ein Brain Storming sei: unzensiert, also unkontrolliert alles zu sagen, was einem beim Thema Rauchen in den Sinn komme, keine Rücksicht auf Brauchbarkeit, auf Moral, Schicklichkeit, Nützlichkeit zu nehmen, keine moralische, intellektuelle oder ästhetische Bedenken hegen. Sigmund Freud habe bekanntlich diese Methode in seiner Psychoanalyse eingeführt, die freie Assoziation. Und nicht zu vergessen C. G. Jung, die Assoziations-Psychologie überhaupt, die Tiefenpsychologie ganz allgemein.

Und so weiter.

Einige beginnen sich zu langweilen und mit demNachbar oder der Nachbarin leise zu schwatzen.

Der Gesprächsleiter schweigt eine kurze Weile, blickt geradeaus, denn er weiss ja, dass seine Kolleginnen und Kollegen schon längst wissen, was er zu sagen sich bemüht, schaut erneut erwartungsfroh in die Runde, bzw. ins Viereck und greift mit einer demonstrativen Geste zu einem der vorsorglich bereitliegenden Filzstifte.

“Also los! Keine Hemmungen! Heraus mit der Sprache! Ich schreibe.“

Kurze Pause

„Wer macht den Anfang?“

Längere Pause

Etwas lauter: „Wer fängt an?“

Pause

„Wer bricht das Eis?“ tönt es unbestimmt aus der entfernten linken Ecke. Leichtes Gelächter. Tönt etwas gelangweilt.

Stühlerücken. Da und dort begrüsst man sich noch, gibt sich flüchtig die Hand. Man sieht sich ja nicht jeden Tag. Man gibt sich unentwegt locker. Santhia schlürft den letzten Tropfen Kaffee aus ihrem Plastikbecher, den sie aus der Cafeteria mitgenommen hat, trippelt in Richtung Papierkorb und wirft den noch warmen Becher geschickt aus beachtlicher Distanz hinein. Jemand klatscht in die Hände. Kurzes, aber unverkennbar anerkennendes Raunen.

Aber wenigstens hat sie heute ihr Strickzeug nicht mitgenommen. Sie arbeitet seit einer Woche an neuen Bettsocken. Für sich selbst.

„Rauchverbot“

Aha, der Chef als Eisbrecher. Vorbildlich. Der konnte nicht warten. Dem geht's wieder zu lange bis etwas geschieht. Typisch.

„Bei Verbot seh' ich rot.“

„stinkt“

„ekelhaft“

„Genuss“

„Scheisse“

Der Abteilungsleiter zuckt leicht zusammen und ruft nun etwas gar laut:

„Zickezacke, Zickezacke!“

Damit zeigt er wohl, dass er ebenso spontan sein kann wie die Jungen und dass er die Regeln fürs Brainstorming internalisiert hat. Martha Müller schüttelt leicht den Kopf. Er, der wohl brav der Aufforderung nachgekommen ist, alles zu sagen, was ihm in den Sinn gekommen ist und nicht weiter überlegt, ob dies hierher gehöre oder nicht, schicklich sei oder nicht. Er scheint aber doch leicht erschrocken über seinen spontan sein sollenden Ausruf. Spürbare Erleichterung, dass es gleich weitergeht.

„Krebs“

“Sucht“

„Lungenkrebs“

Pause

„AHV“

„Aha“

„dumm“

„selbstmörderisch“

Pause

„Diskriminierung“, ruft da unsere Santhia und fügt rhythmisch gleich noch zweimal bei: „Diskriminierung, Diskriminierung ". “

„Scheisse“

Der Abteilungsleiter zuckt erneut zusammen. Nicht mehr so stark wie kurz zuvor.

„Gestank“

„Brissago“

„Ascona“

„Toscanelli“

„Toscanini“

„Furtwängler“

"Furzzwängler"

Pause

“Lebensfreude“, tönt's von der anderen Seite. Martha Müller. Eine bekennende Raucherin. Aber sie blickt drein wie bei einer Beerdigung.

„Jersey, Jersey, Jersey“, tönt's plötzlich von Willy Wacker. Willy, der jährlich einmal nach dieser kleinen Kanal- Insel reist, um das Amt zu vergessen und das einfache, ungestörte, unbeobachtete Leben weit weg vom Amt zu geniessen.

Wohlwollendes Gelächter.

„Jersey, Jersey, Jersey“, ahmt jemand unbedarft nach.

Erneutes Gelächter.

Und so geht es munter weiter, anschwellend, abschwellend. Mit Pausen, manchmal pausenlos.

„Capitol“

„Casimir raucht Capitol“

Und prompt fangen einige der ältesten Mitarbeiter an, den einst populären Werbespruch zu singen:

„Wänn dä Casimir nöd wäär', wär' de Stubewage läär“....“.

Anschwellendes, leicht ausgelassenes Gelächter, das nun erfreulich viel lockerer tönt als zu Beginn der Sitzung.

Der Moderator schreibt behende fortlaufend alles auf die grosse, weisse Tafel. In grossen Lettern. Er greift eifrig bemüht bereits zum dritten Filzstift. Rot. Beim Werbespot für Capitol pfeffert er einen grossen Violinschlüssel hin. Gelächter. Der vierte und letzte Filzstift bleibt unberührt.

„Scheisse“, ruft jemand noch einmal.

Niemand lacht. Eigenartige Stille.

„Lungenkrebs“

Pause

„Krebsforschung“

„Ist heilbar“

Pause

„Heilsarmee“

„Arme Heiler“

„Armin Heller

„Auf Rappen und Heller“

"Plattenteller"

Keine Reaktion.

Bevor das Interesse am belangvollen Spiel völlig erlahmt, bricht der Moderator ab, bedankt sich kurz und routiniert freundlich bei seinen Kolleginnen und Kollegen, nickt eifrig mit dem Kopf.

Nun fordert er seine Kolleginnen und Kollegen wie angekündigt auf, drei ungefähr gleichwertige Gruppen zu bilden. "Die drei Raucher ja nicht zusammen, pardon, sorry, die drei Raucherinnen nicht zusammen, bitte, hört bitte zu, hallo, möglichst gleichmässige Verteilung, möglichst gleichmässig nach Geschlecht und Alter, möglichst gleichmässig".

Der Moderator, dessen Wangen sich leicht gerötet haben, ruft die drei Sitzungszimmer in Erinnerung, wo nun während einer vollen Stunde diskutiert werden soll, schaut, dass jede Gruppe den zu bearbeitenden Fragebogen bekommt. „Hier sind sie!“ ruft er, munter die Blätter über seinem Kopf schwenkend. „In genau einer Stunde, in genau sechzig Minuten treffen wir uns wieder hier zum Plenum. Fenster öffnen, bitte! Wir brauchen genügend Sauerstoff für das Finale. Je ein Gruppensprecher wird dann rapportieren und die erarbeiteten Gruppenergebnisse vortragen. Anschliessend Diskussion im Plenum. Anschliessend abschliessend die Abstimmungen. Geheime Abstimmung. Wir sind nicht in Appenzell oder Glarus an einer Landsgemeinde. Aber doch streng demokratisch. Basisdemokratisch".

Wir ersparen uns die genaue Beschreibung der nun einsetzenden Diskussionen, obwohl über manche lustige Begebenheit zu berichten wäre.

In aller Kürze über den 4. Schritt: die Abstimmungsergebnisse. Das Glückskleeblatt wird vervollständigt.

Punkt 1: grundsätzlich gilt das allgemeine Rauchverbot im ganzen Haus. Primär aus gesundheitlichen Gründen.

Punkt 2: im geräumigen Büro 22, wo Martha Müller und Santhia Grumello arbeiten, wird ein Rauchertisch eingerichtet, d. h. der bestehende stillschweigend hingenommene illegale Rauchertisch weitergeführt. Vor allem wegen einiger Gäste des Hauses, die bekanntermassen starke Raucher sind. Aber sie haben - und das ist eine unbestrittene Tatsache - erhebliches Gewicht, vor allem politisches, d. h. wenn es um gesetzliche Regelungen geht und deren finanziellen Konsequenzen. Die Belüftung dieses Raumes wird als genügend effizient erachtet. Keine zusätzliche Massnahmen oder Anschaffungen. Verantwortlich für möglichst gute Luft im Büro 22 sind die beiden genannten uns bekannten Mitarbeiterinnen, verantwortliche und verantwortungsvolle Raucherinnen.

Punkt 3: alle WC-Anlagen des Hauses werden mit einem hoch empfindlichen Rauchmelder neuester Bauart versehen. Rauchmelder auch im Keller.

Punkt 4: vor dem Haupteingang des Amtes wird ein massiver Aschenbecher aus Chromstahl aufgestellt und der soll mit Sand gefüllt sein. Der Hauswart besorgt die regelmässige Reinigung des Behältnisses und die Erneuerung des Sandes nach Massgabe der Verschmutzung. Kontrolle durch den Abteilungschef.

Es dauerte beinhahe neun Monate, bis alle diese Beschlüsse in die Tat umgesetzt werden konnten.

Der Rauchertisch im Büro 22 freilich wurde schon am selben Tag in bisheriger vertrauter Weise weiter benützt. Einige Probleme brachten die Rauchmelder in den Toiletten und - rein technisch - der massive Aschenbecher aus Chromstahl vor dem Haus. Künstlerisches Ungemach kam freilich auch hinzu: Fragen zum Design. Offerten mussten eingeholt und verglichen werden. Die Platzierung der Rauchmelder und des Chromstahl-Behältnisses führten zu manchmal ausufernden Diskussionen in den Arbeitspausen in der Cafetiera und in zahlreichen Besprechungen am Montag.

Aber zuvor galt es selbstverständlich, die Verfügungen mit den genauen, erratischen Frankenbeträgen für die Anschaffung von Rauchmeldern und Aschenbenbecher zu verfassen. Die Raucherinnen wehrten sich wohlweislich nicht, diese aufwendige, unbeliebte Arbeit zu übernehmen, freilich nicht ohne verhaltene Zeichen des Widerwillens.

Endlich klappte es dann doch mit der Installation all dieser Hilfsgeräte. Und das war kurz vor Pfingsten.

Weiteres Ungemach gab es jedoch bald einmal mit dem Aschenbecher vor dem Haus, mit dem massiven Behältnis aus Chromstahl, einer kostspielige Spezialanfertigung. Nach wenigen Wochen begann es dort beim Haupteingang zum Amt recht unangenehm zu stinken. Vorbeispazierende Hunde strebten unweigerlich auf dieses auffällige Metall-Behältnis zu, um dort ganz natürlich das linke oder rechte Hinterbein zu heben. Einige Leute hielten das metallene Ding gar für Kunst am Bau. Reklamationen erfolgten. Mündliche und schriftliche. Leserbriefe im Quartierblatt und Anzeiger der Stadt. Neues Ungemach. Witzeleien im Haus. Witzeleien und Kopfschütteln in den Nachbarhäusern, im ganzen Quartier. Der Abteilungs-Leiter erwirkte unverzüglich in eigener Regie und wieder einmal ohne seine Leute zu fragen eine gut lesbare Alu-Tafel mit der Anschrift „Hier darfst du nicht!“ Hunde können jedoch nicht lesen, auch wenn sie in Not sind. Und viele Hundehalter wollen nicht. Auch wenn sie nicht in Not sind. Der sattsam bekannte ekelhafte Uringestnk blieb, verstärkte sich je nach Wetterlage erheblich. Das konnte man einfach nicht so stehen, bzw. in der Luft hängen lassen.

Aber nicht schon wieder eine basisdemokratische Veranstaltung!" so die Meinung der Mehrheit im Amt.

An einem milden Frühsommerabend trifft der Abteilungs-Leiter zu später Stunde den Hauswart im ersten Stock des Hauses. Dieser scheint an einem dunklen Ding zu kauen. Der Abteilungsleiter traut seinen Augen nicht, noch bevor seine Nase die Wittrerung aufnehmen kann. Leicht sträubt sich ihm das Haar. Der Hauswart mit einem dunklen Stängel im Mund, wo möglich eine stinkenden Brissago, eine Toscanelli oder gar eine Brasil Cigarre. Und das hier im ersten Stock des Amtes, wo es bekanntlich keine WC-Anlage gibt. Unvermittelt spricht er ihn recht unwillig an: „ Jetzt rauchen auch Sie noch während der Arbeit, sogar eine, eine … Seit wann rauchen Sie denn überhaupt?“ Der Hauswart, ohne das dunkle Ding aus dem Mund zu nehmen: „Freilich. Schon immer. Seit der Rekrutenschule. Warum denn nicht? Meine Arbeiszeit ist übrigens schon lange rum. Ich bin in meiner Freizeit hier.“ Und er lächelt verschmitzt.

Erst jetzt, nach genauerem forschendem Hinsehen gewahrt der Abteilungs-Leiter, dass der dunkle Stängel im Gesicht des Hauswartes weder glüht noch raucht. Nichts da von einer stinkenden Brissago, Toscanell oder Brasil. Leicht schwindelt ihm. Er hat sich tatsächlich täuschen lassen, zu rasch überzeugt, eine Brissago zu riechen oder wenigstgens zu sehen. Er tritt vewirrt entschlossen näher, schnuppert und sieht noch genauer hin. Kaum zu glauben. Eine Stängel aus Schokolade, aus Bärendreck vielleicht, der da aus dem Mund des Hauswarts ragt. „Die rauche ich mir auf dem Heimweg fertig“ , meint der Hauswart lachend, „ aber da ist noch etwas anderes, wenn Sie schon da sind, eine alte Sache, ein wirkliches Problem, das mir schon lange zu schaffen macht. Ich hab' Sie doch schon einige Male darauf aufmerksam gemacht. Sie erinnern sich? Das mit den Brösmeli, das heisst mit den lästigen Krumen, die verdammten Brösmeli der Blätterteig-Gipfeli. Den ganzen Tag werden im Haus und in der Cafeteria Gipfeli gegessen, besonders natürlich am Vormittag, Croissants, Blätterteig-Kipfel, wie die Österreicher oder Deutschen sagen, die beliebten Gipfeli aus Blätterteig. Kaum haben meine Leute oder ich den Boden gewischt, schon sind wieder Brösmeli auf dem Boden. Besonders lästig in den Büros mit dem dunkeln Spannteppich. Das sollte wirklich geändert werden“, ereifert sich der Hauswart weiter, „unbedingt sollte das geändert werden. Und das möglichst ab sofort. Ich wäre froh drum. Auch mein Putzpersonal.“

Als Abteilungschef muss er die Probleme lösen oder doch versuchen, möglichst effizient und effektiv einer Lösung näher zu kommen. Das weiss auch der Hauswart.

Der Abteilungs-Leiter scheint einen Augenblick verlegen, ratlos, das ist ungewohnt, erinnert sich dann kurz, wie das Raucherproblem unter seiner Leitung zufriedenstellend für fast alle gelöst werden konnte. Kurz entschlossen sagt er:“ Herr Müller, ich werde morgen das Problem mit den Krümeln unverzüglich auf der Mind Map in meinem Büro festhalten. Rot. Nein schwarz. Unverzüglich. Zusammen mit dem Problemfall Chromstahl-Behältnis“, drückt ihm kurz die Hand und lässt den Hauswart Meier stehen, bevor der so Überraschte reagieren und sich bedanken kann.

Erst jetzt nimmt Herr Müller, der Abwart des Amtes, eine echte Brissago aus der rechten Innentasche, zündet sie in aller Ruhe genüsslich an und verschwindet im Innern des Amtes, steigt hinunter ins weitläufige Kellergeschoss, um sicher zu gehen, dass alle Fenster geschlossen sind.

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