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FRIDOLIN

Im tiefen, düsteren Wald hoch über dem See, der von hier aus in der Nacht wie eine riesige schwarze Wurst oder eine riesige überreife Banane aussieht, wohnte einst eine Familie. Und diese Familie war arm, sehr arm. Der Vater fand kaum Arbeit in den umliegenden Dörfern jenseits des Waldes oder in der fernen Stadt, die eine stattliche Kirche mit zwei Türmen besass, zierliche Zwillingstürme, bewohnt von gurrenden Tauben, welche die Gewohnheit hatten, nicht nur auf das Denkmal der Stadtheiligen sondern auch auf die Krone der Statue des Kaisers Karl des Grossen zu scheissen. Der eine Turm war weiss, der andere rot. Und der Vater nicht mehr der jüngste. Seine einst gewaltigen Kräfte kaum mehr zu erkennen. Zudem humpelte er, statt aufrecht zu gehen wie die meisten anständigen Leute. Seine Frau nannte ihn deshalb Humpeli. Das war nicht gut. Das hörte er nicht gern. Dann verfärbten sich seine Wangen plötzlich rot, bevor sie nach einer langen Weile ihre ursprüngliche blass weisse Farbe zurückbekamen.

Vor Jahren hatte ihn das älteste Pferd des reichsten Bauern weit und breit ins linke Bein getreten, als er dem schweissnassen Tier nach einem langen und arbeitsreichen Tag den frühmorgens umgebundenen Hafersack abnehmen wollte, während es noch am Fressen war. Auch das war nicht gut. Deswegen wollten ihn der reiche Bauer und all die Bauern in der Umgebung, die davon gehört hatten, nicht weiter als Knecht, Gärtner oder Fuhrmann anstellen. Sie trauten ihm nicht, einem Mann, den ein altes Pferd ins linke Bein getreten hatte, und der nun durch die Gegend hinkte. Dieser Mann war ihnen nicht geheuer, auch wenn er noch so inständig und anständig um Arbeit bat. Und sie wussten nicht einmal, dass ihn seine Frau manchmal Humpeli nannte.

So kam es, dass seine Familie immer öfter nur wenig und manchmal überhaupt nichts zu essen hatte. Auch das war nicht gut.

Das war besonders schlimm im Winter, wenn der Schnee die Felder und Wälder bedeckte und die eisigen Winde bliesen. Die Bise. Der gefürchtete Ostwind, der alle und alles im tiefen dunklen Wald hoch über dem See während Monaten erstarren liess.

Im Frühling und Sommer war das Leben im tiefen dunklen Wald hoch über dem See leichter zu ertragen. Auch im Herbst, wenn die roten Äpfel aus dem Grün der Blätter hervorlugten, die reifen blauen Zwetschgen von den Bäumen fielen, die Trauben in den grossen Pressen der Weinbauern landeten und geschäftige Eichhörnchen Eicheln und Buchennüsschen für den Winter sammelten und in geheimnisvollen Baumhöhlen hoch über dem Waldboden versteckten.

Mitten im Jahr aber konnte es geschehen, dass die Eltern Sohn und Tochter nach dem kargen Frühstück an die Hand nahmen, einige aus Stroh geflochtene Körbchen aus einer Küchenecke hervorholten und in den Wald stapften und nach kurzer Zeit die lichten Stellen fanden, wo die reifen Beeren und die strammen, modrig riechenden Pilze ungeduldig darauf warteten, dass man sie pflücke, bevor sie verfaulten oder von den hungrigen Vögeln und anderem Getier gefressen wurden. Und wenn sie dann zusammen genügend Beeren und Pilze nach Hause brachten, die so wundervoll dufteten, dass allen der Speichel im Munde zusammenlief, wurde der Vater unternehmungslustig und übermütig wie in früheren Jahren, als er noch nicht hinkte, fing an zu pfeifen, ahmte gar die Laute der Vögel im Walde nach, den Kuckuck zum Beispiel oder den Buchfink, versuchte mit kleinen Steinchen einen bestimmten Baumstamm zu treffen, vergass schliesslich völlig sein getretenes linkes Bein und humpelte mit neuem Mut zum nächsten Hof jenseits des Waldes, klopfte kräftig an die nächstbeste Türe in der Hoffnung, einer der wohlhabenden Bauern mit den wohlgenährten Kühen und Schweinen und den grossen Miststöcken werde ihn anstellen oder doch wenigstens etwas zu essen geben, warum nicht auch etwas vom Weggeworfenen. Meist vergeblich. Die Schweine der reichen Bauern hatten den Vorrang bei all den schwarzen Kartoffeln, verschimmelten Beeren und angefaulten Früchten, die nicht mehr für den grossen Schiefertisch der reichen Bauern in Frage kamen.
Von all diesen stattlichen Bauernhöfen mit den dicken Schweinen und wohlgenährten Kühen aus konnte man weit unten in der Ferne den langen, schmalen See sehen, der am Abend, wenn die Sonne untergegangen war, wie eine grosse überreife Banane oder wie eine grosse schwarze Blutwurst aussah. Das fanden die Kinder geheimnisvoll und weckten deren Wunsch, den tiefen, dunklen Wald für immer zu verlassen. Sie wollten sehen, wie gross diese Wurst oder diese Banane wirklich war. Und vor allem, ob es anderswo auch solche Bananen oder schwarze Würste gäbe.

Die Mutter arbeitete unermüdlich von früh bis spät, auch wenn alles in der Hütte und darum herum sauber und in Ordnung schien. Ihr Mann nannte sie deshalb Putzi. Auch das war nicht gut. Das hörte sie nicht gerne. Denn sie spürte darin so etwas wie Geringschätzung. Dann röteten sich auch bei ihr die meist so bleichen Wangen, um gleich darauf wieder die gewohnte helle Farbe anzunehmen. „Mit Geringschätzung hat das nichts zu tun“, behauptete er mit Bestimmtheit, wenn sie reklamierte und rot anlief. „Putzi ist doch ein schöner Name, oder?“ - „Du siehst einfach aus wie ein Humpeli“, erwiderte sie dann trotzig und fuhr fort in ihrer Arbeit in und hinter und selbstverständlich auch vor der armseligen Hütte.

Während Humpeli immer öfter müde und müssig herumsass, schüttelte sie zum zweiten- oder gar schon zum dritten Mal alle kleinen und grossen und auch mittelgrossen Kissen aus, so dass die Federn nur so flogen. Dann nannte er sie prompt Frau Holle ohne zu lächeln. Und das hörte sie freilich lieber als Putzi. Sie schaltete dann mit Nachdruck den kleinen Fernseher im Wohnzimmer ab, was Humpeli am Abend vergessen hatte, und fegte kräftig weiter, fegte ein weiteres Mal den Boden, wenn ihr nichts anderes in den Sinn kam, feuerte den kleinen, schwarz verrussten Herd mit trockenem Holz aus dem Wald, kochte, wenn etwas Essbares da war, fütterte vor dem Nachtessen zum zweiten oder gar dritten Mal das Rudel schmaler, rosiger Schweinchen hinter dem Haus und das halbe Dutzend magerer Hühner samt struppigem Hahn neben der Hütte sowie einige muntere Kaninchen, die ihre engen Verschläge, vom Vater liebevoll gezimmert, gleich neben dem Eingang der kleinen, baufälligen Hütte bewohnten und sich laufend fröhlich vermehrten, was die ganze Familie mit grosser Freude und Zuversicht erfüllte, denn sie dachten sogleich an den nächsten duftenden Sonntagsbraten, der ihre knurrenden Mägen immer wieder auf so angenehme Weise zum Schweigen brachte. Aber leider jeweils nur für kurze Zeit.

Die grösste Freude jedoch, die Vater und Mutter hatten, so sagten sie allen, die es wissen wollten oder nicht, waren ihre zwei Kinder, ihre Zwillinge: ihre Tochter Lachesis, „die Weisse“, und ihr Sohn Windjammer, „der Rote“. Zwei brave Kinder, welche ihren Eltern fast immer aufs Wort gehorchten. Zwei brave Kinder, die ihre geflickten aber sauber gewaschenen Kleider ohne Murren trugen, denn sie kannten nichts anderes.

Lachesis, „die Weisse“, war mit einer auffallend hellen Haut zur Welt gekommen und blickte trotzdem vom ersten Augenblick an munter in die Welt. Und auch später trug sie am liebsten helle, wenn möglich weisse Kleidchen, allesamt von der Mutter geschneidert und genäht. Kaum hatte sie gehen gelernt, hüpfte sie den lieben langen Tag herum, machte dazwischen putzig zierliche Schrittchen, und das sah so aus, als ob sie tanzen wollte. Und dabei achtete sie stets darauf, dass ihr Kleidchen hübsch in Ordnung und sauber blieb.

Humpeli, ihr Vater, konnte sich nicht sattsehen an seinem Töchterchen, denn sie lachte oder lächelte bei allem, was sie tat. Das gefiel ihm, der nur selten lachte. Sie half schon von klein auf ihrer Mutter, wo sie nur immer konnte: bei der täglichen Arbeit im Haus, beim Suchen von reifen Beeren, steifen, modrig riechenden Pilzen und dürrem Holz, beim Füttern der mageren Schweinchen, der Hühner, des struppigen Hahns und der munteren Kaninchen.

Lachesis lachte oder lächelte, ob sie traurig oder hungrig war. Auch wenn sie durch den Wald hüpfte oder rannte. Wie ein munterer weisser Schmetterling sah sie dann aus von weitem, denn ruhig gehen konnte sie nicht. Und dann flatterten ihre goldfarbenen Zöpfe im Winde links und rechts um ihr zierliches Köpfchen.

Sie hiess tatsächlich Lachesis. Da gab's nichts zu meckern, muhen, grunzen, furzen oder lächeln oder gar lachen. Das störte sie aber überhaupt nicht, dass sie so hiess, denn sie kannte ja nichts anderes. Und das ist wohl bei den meisten Kindern auf dieser Welt nicht anders.

Der Vater hatte ihr einmal gesagt, als sie noch kaum lesen und schreiben konnte, der Name Lachesis habe etwas mit einer Göttin zu tun. Und sie fragte neugierig, was eine Göttin sei. „Eine Göttin ist eine..... ist eine.....ist ein mächtiges Wesen“, antwortete der Vater und strich sich langsam über die faltige Stirne, „ ein mächtiges Wesen, das hoch oben über uns Menschen und hoch über den höchsten Wolken im Himmel lebt. Kein Mensch hat sie je gesehen. Auch du nicht. Auch ich nicht. Kein Mensch. Niemand.“

Eine Göttin könne nicht sterben wie Tiere, Menschen und Pflanzen sterben, wenn diese genug gelebt hätten. Nur Menschen, Tiere und Pflanzen sterben. Und er fuhr in Gedanken verloren fort: „Diese Göttin bestimmt die Länge des Lebens einer Pflanze, sie bestimmt die Länge des Lebens eines Tieres, und sie bestimmt auch die Länge des Lebens eines Menschen. Sie trägt ständig einen langen schwarzen Faden auf sich, der sogleich nachwächst, wenn sie jeweils ein Stück davon abgeschnitten hat. Warum das so ist, weiss ich nicht. Darüber habe ich nicht nachgedacht. Ich muss an andere Dinge denken.“

Das sei halt so eine Sache, die zu denken gebe. Er müsse, wie schon gesagt, an andere Dinge denken. Er müsse an seine Familie denken, an das alte Pferd, das ihn ins linke Bein getreten hat, an die reichen Bauern, die ihn nicht mehr anstellen wollten. Und immer wieder ans fehlende Essen und ans Trinken. Ans Brennholz, an den struppigen Hahn, der es wohl nicht mehr lange machen werde, und nicht darüber, wer von diesem Faden jeweils ein grosses oder kleines Stück abschneide. „Aber ich bin doch nicht blöd, ich weiss natürlich, dass der Faden unendlich lang wäre, wenn nicht immer wieder ein Stückchen abgeschnitten würde. Dann würde ja die ganze Welt letzten Endes nur aus schwarzem Faden bestehen“.

Lachesis schwieg und staunte, wenn der Vater so sprach, und bewunderte ihn, denn er sprach gewöhnlich nicht viel. Meistens schwieg er. Auch wenn seine Augen offen waren.

Eines Tages sagte er nach dem Sonnenuntergang in feierlichem Ton: „Ein Zauberer hat mich schon einige Monate vor deiner Geburt aufgefordert, diesen lächerlichen Namen für dich zu verwenden: Lachesis. Er würde, so sagte er mir, garantiert Glück bringen. Ich glaubte ihm. Denn ich wollte nichts anderes glauben. Ich wollte das Glück.“

Und Lachesis fragte neugierig geworden: „Wo wohnt denn dein Zauberer?“ Der Vater erschrak, verbarg sein Gesicht hinter dem geflickten und leicht beschmutzten rechten Ärmel. Sein linkes Bein, in das ein altes Pferd vor Jahren getreten hatte, zuckte zusammen. Am liebsten hätte er sich in diesem Augenblick unsichtbar gemacht. Lange schwieg er und kratzte sich dabei mit seiner rechten Hand an seinem linken Bein. Dann sagte er mit fast tonloser Stimmme: „Fifaz“.
Nach einer kurzen Pause fuhr er weiter: „Fifaz, dieser böse Zauberer wohnt allein und ohne Frau und Kinder in einem riesig grossen Haus, in einem Schloss, in einem Palast mit so vielen Fenstern, dass man sie gar nicht alle zählen kann, umgeben von Gärten, Büschen und Sträuchern und hohen Bäumen“.

Nach einer kurzen Pause, nachdem sich sein linkes Bein beruhigt hatte, fuhr er weiter: “ In diesem tiefen, dunklen Wald, wo wir hausen, wohnt auch er, dieser verdammte Fivaz“. Und er zeigte zitternd mit seinem ausgestreckten rechten Arm in die Richtung weit weg von der Hinterseite der Hütte. „Ich habe damals von diesem Zauberer Fifaz feines Essen und Trinken für eine halbes Jahr bekommen: Hammelfleisch, Landjäger, gebratene Tauben, getrockneten Fisch, reife Früchte, süssen Honig und zwei Eichenfässchen, das eine gefüllt mit herrlichem Rotwein, das andere mit süssem Weisswein. Das war vor mehr Jahren als meine beiden Hände Finger haben“.

Da hat sie nicht nur gelächelt. Sie hat gelacht. „Lachesis! Eine Göttin? Mit langem, schwarzem Faden? Einem Faden, der ständig nachwächst, wenn man davon abschneidet. Oder gar jemand, der über den andern Göttern und Göttinnen steht. Eine Art Ober-Göttin, eine Königinnen-Göttin“. Das erschien ihr alles so seltsam. Das verwirrte sie. Sie fragte darum nicht weiter und lächelte, wie sie eben immer lächelte, auch wenn sie nichts zu fragen hatte.

Die Haut ihres Zwillingsbruders Windjammer hingegen war rauh und schimmerte rötlich, sein starkes Haar dunkel und gekraust. Er stapfte schon als kleiner Junge oft allein durch den weiten, düsteren Wald, sammelte Holz oder spitzte Haselruten zu Pfeilen. Er konnte seit seinem dritten Lebensjahr tüchtig und laut zwischen Daumen und Zeigefinger der linken und rechten Hand hindurchpusten, so dass die Menschen in seiner Nähe sich wegen des schrillen Pfeiftons die Ohren zuhalten mussten. Das war einer der seltenen Augenblicke, wo auch er lachte.

Windjammer hatte, und das überrascht uns wirklich nicht, seinen ebenso seltsamen Namen zusammen mit seiner Zwillingsschwester Lachesis vor mehr Jahren zugelost bekommen als beide Hände von Humpeli Finger aufwiesen. Zur gleichen Zeit mit Lachesis. Kein Wunder bei Zwillingen. Und freilich auch vom bösen Zauberer Fifaz, der allein und ohne Familie in einem riesengrossen Haus, in einem Palast, in einem Schloss mit grossem Park und vielen mächtigen Bäumen im selben tiefen, dunklen Wald wohnte, in dem sie selber hausten. So behauptete es wenigstens Humpeli, der Vater. Die Mutter mochte es nicht mehr hören.

Lachesis zeigte, als sie grösser geworden und nicht mehr so viel herumhüpfte, eine merkwürdige Gewohnheit. Sie musste manchmal laut herauslachen, auch wenn es den anderen nicht ums Lachen war. Sie konnte nichts dafür. Manchmal erschrak sie selber ob ihres Lachens. Manchmal musste sie selber über ihr Lachen lachen. Es lachte manchmal ganz einfach und gewaltig aus ihr heraus. Und sie wusste nicht warum. Und sie erschrak jedes Mal aufs Neue. Und so lachte sie eben, wenn immer sie lachen musste, und das war wahrlich nicht immer zum Lachen.

Auch Windjammer hatte es nicht leicht, als er älter und seine Stimme von einem Tag auf den andern tiefer und rauer wurde und er immer weiter in den Wald eindrang, den Vögeln zuhörte und ihnen keck zuückpfiff und mit seinen selbst geschnitzten Pfeilen nach Rehen, Hirschen, Wildschweinen, Luchsen, Füchsen und Mardern jagte. Immer wieder geriet er dabei in eine recht ungemütliche Lage. Manchmal musste er nämlich fürchterlich furzen, ohne dass er das gewollt hätte, das heisst Wind lassen, wenn es anderen Menschen, vor allem seinen Eltern und Lachesis nicht ums Furzen, das heisst ums Windlassen war. Und das tönte manchmal wie bei einem mächtigen und überraschenden Gewitter. Tassen und Gläser fielen dabei klirrend zu Boden. Und hier lachte auch Windjammer jedes Mal und wurde dabei noch röter im Gesicht.

Einmal an einem trüben Morgen fasste Windjammer Lachesis an der Hand. Sein Magen knurrte hörbar lauter als sonst. Und ihr Magen knurrte auch, nur etwas schwächer. Doch sie lächelte nur still in sich hinein. „Komm mit, Schwesterchen! Wir wollen Beeren und Früchte suchen und unsere Eltern damit überraschen, aber auch unsere beiden Mägen füllen, vielleicht auch einen Vogel fangen, ein Reh oder einen Hirsch erjagen.“ Lachesis war sogleich einverstanden, denn auch sie hatte Hunger und gerade nichts anderes zu tun. Und sie lächelte dabei wie sie eben meist lächelte.

Brüderchen und Schwesterchen suchten in der nächsten Umgebung ihrer Hütte, fanden aber nichts Essbares. Dann entfernten sie sich immer weiter von ihrer Hütte, weiter als gewohnt, immer weiter und weiter, standen oft neugierig still, horchten in den Wald hinein und schauten immer wieder angestrengt rundherum, sahen aber nichts als Bäume und Büsche, grosse und kleine, dicke und dünne, mit Moos und Efeu bewachsene und andere. Buchen, Eichen, Tannen, Eschen, Eiben und auf dem Boden dürres Holz, Eicheln und Buchennüsschen. Aber davon gab es genügend zu Hause. Also drangen sie neugierig noch tiefer in den Wald ein und immer tiefer, dorthin, wo sie noch nie gewesen, hörten das Gezwitscher von Vögeln, die sie nicht kannten, das an- und abschwellende Rauschen des Windes in den Bäumen, das hier so ganz anders klang als daheim. Und Windjammer pfiff zurück, so dass manche Vögel erschreckt davonflogen und das Pfeifen und Quinkilieren vergassen.

Es wurde dunkler und kühler, die Geschwister enttäuschter und müder. Der Abend brach herein. Das Gezwitscher der fremden Vögel verstummte. Mond und Sterne versteckten sich hinter dichten Wolken. Lachesis und Windjammer waren müde und niedergeschlagen, weil sie nichts Essbares gefunden hatten, keine reifen Beeren, keine steifen, modrig riechenden Pilze, kein Reh und keinen Hirsch, und so legten sie sich erschöpft zusammen unter eine tausendjährige Eibe. So die Schätzung von Windjammer, der sich aufs Schätzen verstand. Das hatte er von Humpeli, seinem Vater, gelernt. Sie knabberten an einem Stückchen hartem Brot, das sie von zu Hause mitgenommen und zerkauten einige Buchennüsschen, die sie bei ihrer Suche eingesteckt hatten, tranken Wasser vom klaren Bach, der in der Nähe fast lautlos vorbeifloss. Sie assen aber auch von den wundervollen roten Eibenbeeren, denn sie wussten genau, dass nur die schwarzen Kerne in den Beeren und die Nadeln der Eibe giftig sind, die roten Beeren aber süss und saftig, wenn auch merkwürdig schleimig.

Trockenes Laub lag genügend herum, um sich ein bequemes Lager herzurichten. Sie legten sich, ohne weiter zu sprechen, ermattet nieder, hielten sich an den Händen fest, horchten noch eine ganze Weile angestrengt in den Wald hinein und schliefen schliesslich ein.

Mitten in der Nacht wurden sie aus dem Schlaf gerissen.

Was war los? Dieser eigenartige Lärm. Sie starrten ins Dunkel der Nacht hinaus, konnten jedoch nichts erkennen. Verwirrt erhoben sie sich und rieben sich die Augen. Aber da war doch dieser seltsame Lärm, ein seltsames Geräusch: ein Wimmern, ein Wehklagen war das. Das war nicht der Wind. Das war auch kein Vogel, nein, das war überhaupt kein Tier. Auch kein Kind. Oder doch ?

Schlaftrunken wankten sie im Dunkeln einige Schritte im Kreis herum. Die Wolken hatten sich inzwischen gelichtet und der Mond leuchtete matt durch das Geäst der Bäume. Lachesis und Windjammer folgten dem kläglichen Wimmern neugierig, zögerten, blieben sehen, gingen eneut behutsam vorwärts und gelangten so nach ein zwei drei Schritten zu einer dunklen Stelle, einem Loch von der Grösse eines Kopfes oder Fussballs. Und hier hörten sie nun deutlich die kläglichen Rufe: „Hilfe! Hilfe! Hilfe!“.

Windjammer kniete nieder und rief: „Wer da?“, wie er das bei seinem Vater gelernt hatte. “Ich bin's“, tönte es mit hoher Stimme zurück. „Wer bist du?“ rief nun Lachesis in die eindringliche Stille ohne zu lachen. „Wer bist du?“. Stille. Kein Laut. Sie rief ein drittes Mal: „Wer bist du?“- „Ich bin's. Holt mich heraus, bitte, holt mich heraus! Hilfe! Wir sind heute kurz nach Sonnenaufgang in dieses dunkle Loch hineingefallen. Und dass ihr's nur wisst, Fifaz heisst der Bösewicht. Sein Zauberstab. Plötzlich sind wir hinuntergefallen. Holt uns bitte heraus! Sonst verhungern wir hier. Und wenn wir nicht verhungern, so verdursten wir wenigstens, und das ist noch schlimmer. Wir müssen sterben, wenn uns niemand aus diesem Loch herausholt. Aber wir wollen noch nicht sterben. Wir wollen leben. Hilfe!“

Lachesis und Windjammer erschraken zutiefst und riefen bekümmert und aufgeregt ins dunkle Loch hinunter: „Wie heisst du?“

„Flidolin, so heisst man.
Weiss und rot, so scheint man“.

Lachesis und Windjammer zuckten erneut zusammen als ob sie fröstelten. „Flidolin, hat er gesagt, so heisst man. Heisst er nicht Fridolin? Und weiss und rot. Weiss und rot, so haben uns doch die Eltern einst gerufen daheim in der Hütte und draussen im tiefen Wald“, rief Lachesis aufgeregt und vergass zu lächeln.

„Wie heisst du?“ fragte nun Windjammer laut und mit seiner gebrochenen tiefen Stimme. Und noch einmal bekam er die selbe Antwort:

„Flidolin, so heisst man,
Weiss und rot, so scheint man“.

Lachesis und Windjammer fuhren erneut zusammen. Heftiger als beim ersten Mal. Und nun rief Lachesis noch ein Mal laut und deutlich, fast drohend: „Wie heisst du?“

„Flidolin, so heisst man.
Weiss und rot, so scheint man“.

So tönte es zum dritten und auch vierten und letzten Mal aus der Tiefe herauf. Laut und deutlich. Unheimlich unheimlich.

Lachesis und Windjammer wussten nicht nur, was Hunger und Durst bedeutet. Sie wussten auch, was es heisst, allein und verlassen zu sein. Flidolin oder Fridolin, das war doch eigentlich gleichgültig. Flidolin war in Not. Oder Fridolin. Er war am Verhungern und Verdursten und konnte sich nicht selber aus dem Loch befreien. Er hatte Angst. Er brauchte Hilfe. Und zwar so rasch wie möglich. Aber warum sagte er „wir“, „wir sterben hier“?

Es war noch stiller geworden im tiefen, dunklen Wald. Lachesis und Windjammer hörten sich selber heftig atmen und das Klopfen ihrer Herzen. Sie starrten auf das fussballgrosse Loch in der Erde, als ob da jeden Augenblick ein wunderliches Wesen hervorkriechen könnte.

Da hielt es Windjammer nicht mehr aus. Er schritt zur Tat. Zuerst mit seinem rechten Arm dann mit seinem linken Arm versuchte er das unheimlich wimmernde Wesen aus dem fussballgrossen Loch herauf zu holen. Ohne Erfolg. Schon wollte er enttäuscht aufgeben, seine Schwester an die Hand nehmen und mit ihr zum Schlaflager unter der tausenjährigen Eibe zurückkehren. Da kniete Lachesis kurz entschlossen hin und schob ihren rechten Zopf ins dunkle Loch hinunter und wartete. Sie zählte langsam bis zehn. Dann bis zwanzig. Ohne Erfolg. Sie lächelte trotzdem, denn sie hatte die Hoffnung nicht aufgegeben.

„Du hast doch immer einen langen schwarzen Faden bei dir“, rief plötzlich Windjammer ganz aufgeregt, „versuch es doch mit dem schwarzen Faden!“

Daran hatte Lachesis nicht gedacht. Wie sollte sie auch. Sie hatte den schwarzen Faden ganz einfach vergessen, diesen blöden schwarzen Faden, den sie von klein auf immer auf sich trug ohne zu wissen warum. Sie suchte aufgeregt in all ihren Taschen, bis sie schliesslich mit den Fingern der rechten Hand auf den aufgewickelten schwarzen Zwirn stiess. Hastig wickelte sie das eine Ende einige Male um ihre rechte Hand, beschwerte das andere Ende mit einem grünlichen Stein, den sie neben dem Loch entdeckt und den sie mit dem Faden umwickelt hatte und liess den gestreckten Faden ins dunkle Loch hinunter bis sie spürte, dass etwas oder jemand daran festhielt. Dann zog sie den Faden langsam, sehr, sehr langsam in die Höhe. Immer höher und immer höher. Das war kein Riese, nein, das merkte sie sofort, das musste etwas sehr Kleines sein, ein Zwerg, ein Troll, ein Wichtelmännchen, ein Kobold, ein Winzling, ein Winzling mit der Stimme eines ausgewachsenen Menschen, und dieser Winzling nannte sich Flidolin oder Fridolin.

Da erschien unerwartet etwas Weisses aus dem Loch im Waldboden. Weisse Federn. Lachesis und Windhammer waren verblüfft und begannen am ganzen Leib noch stärker zu zittern als zuvor. Das war ja kein Zwerg, das war kein Wichtelmann, kein Troll, das war ein ausgewachsener Vogel, ein Huhn, nein, ein Schwan sogar, nein, kein Schwan, es war eine Gans, wahrhaftig eine Gans mit weissen Federn, ein Gänserich vielleicht, ein Ganter, eine Böhmische Gans mit dickem, rotem Schnabel und kräftigen roten Beinchen. Und um das linke Beinchen war ein feines grünes Seidenband geschlungen. Eine kleine Gans. Nicht zu fassen. Eine Gans. Eine Böhmische Gans. Flidolin oder Fridolin: eine Gans. Eine ausgewachsene Gans mit einem grünen Seidenband am linken Beinchen.

„Wie heisst du denn wirklich?“ fragte nun Windjammmer aufgeregt, „Fridolin, Flidolin oder gar Violin?“ -“Ich heisse Flidolin und habe weit, weit weg von hier in China gelebt. Und dort spricht man halt das „r“ eben auf chinesisch“. Und als Fridolin dies gesagt hatte, sah Lachesis, dass da zwei winzig kleine Entchen vom Rücken der Gans herabgehüpft waren, das eine weiss, das andere rot. Die spazierten munter umher und suchten sogleich eifrig nach feinen Gräsern, Körnern oder Samen.

Flidolin oder Fridolin mit seinen zwei Entchen war offenbar auf dem Weg und auf der Suche nach dem Schloss des Zauberers Fifaz. Das erfuhren Windjamner und Lachesis allsogleich, wunderten sich und schüttelten ihre Köpfe. Fifaz allein auf dieser Welt, dieser schreckliche Zauberer, so erfuhren Windjammer und Lachesis von Flidolin weiter, konnte Menschen in Vögel verwandeln. Aber er konnte sie nicht mehr zurückverwandeln in die Menschen, die sie zuvor waren. Nun hätten sie vor einigen Wochen im fernen China vernommen, dass Fifaz zu einem grossen Fest eingeladen, und zwar alle echten Zauberer und Hexen dieser Welt, die etwas auf sich hielten. Dem besten Zauberer oder der besten Hexe winke als Preis ein Sack voll Gold, den weniger guten wenigstens ein Goldtaler. Und damit könne man sich immerhin ein schmuckes Häuschen kaufen.

Lachesis und Windjammer beschlossen also gleich, zusammen mit Flidolin oder Fridiolin und den beiden Entchen den berüchtigten und gefürchteten Zauberer Fifaz aufzusuchen und an diesem Wettbewerb der besten Hexen und Zauberer teilzunehmen. Dann würden sie endlich den bösen Zauberer von Angesicht zu Angesicht sehen. Sie verliessen sich ohne weiteres auf ihr Gefühl und auf den Hinweis ihres Vaters, den die Mutter Humpeli nannnte, der ihnen einmal mit zitternder Hand gezeigt hatte, in welcher Richtung von ihrer Hütte aus der gosse Zauberer Fifaz wohne. Und nun erfuhren die Geschwister überrascht, dass Flidolin wusste, im tiefen Wald auf Lachesis und Windjhammer zu stossen, auf Weiss und Rot. Und diese Zwillinge wüssten den Weg zum geheimnisvollen Schloss des grossen Zauberers, der Menschen in Vögel verwandeln konnte aber sich weigerte, die Vögel wieder zu Menschen werden zu lassen, weil er dies offenbar nicht konnte. Oder nicht wollte. Weil er es nicht konnte, wollte er wohl nicht.

Und wirklich. Nach einem kurzen, mühsamen Streifzug durch den dichten Wald erblickten sie im schwachen Schein der aufgehenden Sonne durch Büsche, Sträucher und schlanke Bäume hindurch das grosse, riesige, prächtige Schloss, in dem Fifaz wohnen musste und seine Gäste aus aller Welt erwartete: die besten Zauberer und die besten Zauberinnen.

Und die waren tatsächlich in hellen Scharen aus allen Ecken der Welt herbeigeeilt: Zauberer, Hexen, Magier, Hellseher und Hellhörer. Aber auch Bluffer, Angeber, Charlatane, Leute, die unverschämt vorgaben, zaubern zu können, Unsichtbares sehen zu können. Rosstäuscher und Rosstäuscherinnen mit ihren Rosstäuschertricks. Aus allen Kontinenten der Welt. Man konnte gespannt sein auf die Wettkämpfe. Lachesis und Windjammer waren verständlicherweise sehr aufgeregt. Sie zitterten am ganzen Leib. Und Lachesis vergass wieder einmal zu lachen oder doch wenigstens zu lächeln.

Noch am selben Abend wurde Party gemacht, ausgiebig gegessen, getrunken und ausgelassen getanzt bis weit in den folgenden Morgen hinein. Fifaz liess ein Feuerwerk nach dem andern abbrennen, Raketen und sonstiges Feuerwerk aus China und Hinterindien. Drei Musikkapellen wechselten sich nach jeder vollen Stunde ab. Bevor die eine ermüdet war, rückte die nächste Kapelle nach. Da gab es für die zahlreichen Gäste Dinge zu essen und zu trinken, wovon Lachesis und Windjammer noch nie gehört, gesehen, gerochen, geschweige denn gegessen hatten: Ananas, Mangos, Kiwis, Bananen, Physalis, Datteln, Feigen, Lebkuchen, Süssholz, Bärendreck, Gummibärchen, Nugat, Schokolade und Marzipan in allen Farben des Regenbogens. Einige Gäste assen und tranken gar so viel, dass sie plötzlich aufspringen und in den weiten Park hinausrennen mussten, um sich zu übergeben. Die Zeit hätte nicht gereicht, im grossen, weitläufigen Schloss rechtzeitig ein freies Klo zu finden.

Tags darauf mussten die Gäste schon kurz nach dem ausgiebigen Frühstück, das die meisten unberührt stehen liessen, antreten und vor einer gestrengen Jury - angeführt von Fifaz - ihre Kunstfertigkeit zeigen. Doch einer nach dem andern fiel durch. Die Jury, von Fifaz sorgfältig ausgewählt, war streng und unerbittlich. Sie spürte jeden faulen Zauber auf und überliess dann den Bewerber oder die Bewerberin dem Gelächter und Pfui-Rufen des übermütig ausgelassenen Publikums. Da machte zum Beispiel ein alter, weisshaariger Bauer in kurzen, speckigen Lederhosen vor, wie man aus Honig spritziges Bier machen kann. Met nannte er dieses Getränk. Eine Frau aus dem Säuliamt in Bauerntracht zeigte begeistert und wortgewandt, wie man aus frischen Waldbeeren Konfitüre „herzaubert“. Und ein eifriger Koch richtete eine prächtige Ente aus Böhmen so her, dass sie sich in kurzer Zeit in eine duftende Pastete verwandelte. Auch er nannte das unverblümt „zaubern“. Er hätte doch eine feine Pastete auf den Tisch gezaubert, meinte er, ohne rot zu werden. „Das ist keine Zauberei!“ schrie die Jury einstimmig, und Fifaz rief am lautesten, und seine Wangen färbten sich dunkelrot und dann auch noch unheimlich violett.

Besser lief es mit den Wettkämpferinnen und Wettkämpfern, die wirklich zauberhafte Dinge taten, was sogleich allgemeine Bewunderung und helles Erstaunen erregte. Dann wurde wie wild in die Hände geklatscht und laut gejohlt:“ Olé- olé- olé!“ Auch bei der sonst so gestrengen Jury. Und Fifaz zog seine goldgewirkte Jacke aus und warf sie in hohem Bogen übermütig hinter sich. Eine junge Bedienstete mit weissem Mäschchen im Haar, die gerade dort stand, haschte geschickt darnach und brachte das kostbare Kleidungsstück blitzschnell in ein grosses Zimmer im dritten Stockwerk in Sicherheit.

Geschwindigkeit ist keine Hexerei.
Da machte zum Beispiel einer aus dem fernen Potokudien aus weisser Milch dunkelrotes Blut. Ein anderer schlug mit seinem lächerlich kurzen Zauberstab, so lange oder so kurz wie ein erwachsener Daumen, an ein Felsstück im Park, und schon sprudelte frisches Wasser hervor. Lautes Gegröle. Beim zweiten Mal sogar Weisswein, beim dritten Mal Rotwein. Ein Mann aus dem fernen Pfefferland liess seine Frau, gekleidet in festlich prächtiger Robe, vor aller Augen blitzschnell verschwinden. Die Jury und auch Fifaz johlten und klatschten noch lauter in die Hände, so dass die Wände zitterten, und riefen laut:“Da capo!“ Und die frisch ausgewechselte und daher ausgeruhte Kapelle schmetterte den weisswievielten Tusch.

Aber keiner war da, der einen verzauberten Vogel in einen Menschen zurückverwandeln konnte. Darauf war Fifaz ja aus. Er suchte wütend nach einem Zauberer, einem Hexer oder einer Hexe, die das tun konnte, was ihm verwehrt war: einen von ihm verzauberten Vogel in den Menschen zurückverwandeln, der er zuvor gewesen war.

So ging das Stunde um Stunde, ein Zauberer nach dem andern, eine Hexe nach der andern, ein Bluffer nach dem anderen bis Windjammer endlich am Abend des dritten Wettkampftages an die Reihe kam.
Atemlose Stille. Viele der Gäste sichtbar ermüdet. Enige am Tisch bereits eingeschlafen. Da wurde die Kapelle von Fifaz mit lauter Stimme entschieden aufgefordert, die Instrumente wegzulegen. Windjammer bat artig mit tiefer, rauer Stimme um vier schöne grosse Kerzen: zwei weisse und zwei rote. Dem Wunsch wurde nach einigem verwundertem Zögern entsprochen. Die vier Dochte entzündete er mit einem grünen Span, von einer der hübschen Bediensteten beflissen dargereicht, und stellte die Kerzen ganz hinten im grossen Festsaal des Schlosses an die gold- und spiegelverkleidete Wand. Dann ging er zurück an seinen Platz neben Lachesis, die endlich wieder einmal fröhlich lächelte, aber nun in helles Lachen auszubrechen drohte. Windjammer setzte sich hin. Atemlose Stille. Die Musiker sassen mit gespreizten Beinen und offenen Mündern da und warteten sprungbereit für den nächsten Tusch. Für den ultimativen Tusch vielleicht.

Windjammer schaute nochmals ruhig in die Runde, blickte hinüber zur Jury mit Fifaz in der Mitte, der immer noch ohne seine goldgewirkte Jacke dasass. Dann erhob er sich erneut, liess langsam seine geflickten Hosen herunter und furzte so fürchterlich darauf los, dass es allen Anwesenden wie ein Vorspiel zu einem grossen und gefährlichen Gewitter vorkam. Die Kerzenflammen an der entfernten Wand flackerten wild und erloschen auf einen Schlag. Draussen im tiefen, dunklen Wald war ein schreckliches Gewitter heraufgezogen und fegte nun mit grosser Wucht über das Schloss und seine Gäste hinweg. Blitze zuckten und unheimlicher Donner erschütterte die Gegend. Viele bekreuzigten sich oder krochen hastig unter die immer noch voll beladenen Tische.

In diesem Augenblick brach Fifaz in ein grenzenloses Gelächter aus. Er war auf einen Tisch geklettert und konnte sich dort oben nicht mehr aufrecht halten vor Lachen, stürzte nach wenigen Augenblicken krachend zu Boden und blieb erstarrt liegen. Erneut atemlose Stille im grossen Saal.

Fifaz hatte sich zu seiner und aller Verwunderung zu Tode gelacht. Und dies in seinem seidenen Hemd, ohne seine goldgewirkte Jacke. Die Musiker waren allesamt aufgesprungen und schmetterten endlich den ultimativen Tusch, obwohl kein Mensch das Zeichen dazu gegeben hatte.

Und o namenloses Wunder! In diesem Augenblick verwandelte sich Flidolin oder Fridolin in eine schöne Frau, zierlicher und bezaubernder noch als die schöne Venus aus dem sagenhaften Hörselberg, in den einst der rüde Tannhäuser übermütig eingedrungen war. Am linken Arm trug sie ein feines grünes Seidenband. „Hier bin ich endlich wieder, eure Josephine“, sagte sie mit dem bezauberndsten Lächeln der Welt, „ und hier sind meine lieben Kinder Ay und Oy, Weiss und Rot. Ich sterbe vor Glück!“.

Aber sie dachte Gott sei Dank nicht ans Sterben. Sie wollte endlich wieder als anständiger Mensch unter anständigen Menschen leben.

Und alle Welt erfuhr noch am selben Tag zu deren unendlichem Erstaunen folgendes : Fifaz hatte vor mehr Jahren als Humpeli Finger an beiden Händen hat, Josephine in eine Böhmische Gans verzaubert, in einen Ganter, einen Gänserich mit dem Namen Fridolin, weil er überzeugt war, seine Frau sei ihm untreu geworden. Statt ins Pfefferland hatte er sie mit dem dreifachen Schlag seines Zauberstabes zusammen mit den beiden Kindern Ay und Oy ins ferne China gezaubert. Zu spät hatte er gemerkt, dass er weder Josephine noch seine Kinder zurückverwandeln konnte. Das konnte allein durch seinen Tod geschehen.

Ay und Oy verliebten sich noch am selben in Windjammer und Lachesis. Die unvermeidliche Doppel-Hochzeit wurde zügig aber ohne Hast vorbereitet. Und alles und alle sollten in rot und in weiss erscheinen, rote und weisse Blumen sollten gestreut werden und zum Trinken selbstverständlich Rotwein und Weisswein, nicht nur Champagner, sondern auch Prosecco und Mineralwasser mit und ohne Kohlensäure.

Windjammer und Lachesis schickten jedoch zuerst einmal zweihundert Leute aus, um Humpeli und die Mutter in ihrer Hütte tief im dunklen Wald zu suchen. Ohne Erfolg. Auch nach drei Tagen ohne jeden Erfolg. An einigen Stellen fand man verkohlte Balken und Bretter, zwei leere Weinfässchen, merkwürdigerweise auch einen kleinen kaputten Fernsehapparat sowie einen zerlöcherten Fussball. Aber niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, wie es dazu kommen konnte. Auch die aufgebotene Polizei nicht. Die gut geschulten Polizeihunde hatten sich laut knurrend geweigert, mit in den Wald zu kommen.

Und so ging die prächtige Doppelhochzeit mit grossem Pomp aber ohne die Eltern von Lachesis und Windjammer über die Bühne. Und darum hatte Lachesis begreiflicherweise Mühe zu lächeln und verzichtete bei ihrem Fest auch aufs Lachen.

Windjammer und Ay fuhren bereits in der folgenden Woche mit einem stark rauchenden Ozeandampfer von Hamburg nach China. Lachesis und Oy blieben mit Josephine im Schloss des Zauberers Fifaz. Und wenn sie immer noch jedes Jahr ihre Verwandten aus China einladen, einige Wochen im grossen Schloss von Fifaz zu verbringen, leben sie heute noch.

Auch die Bauern mit ihren prächtigen Kühen, fetten Schweinen und mächtigen Miststöcken hatten vergeblich nach Humpeli und Putzi im tiefen Wald gesucht, nach ihnen gerufen und ihre prächtigen Hunde immer wieder ausgeschickt. Aber auch diese weigerten sich merkwürdigerweise laut knurrend, tiefer in den Wald zu kommen, so dass die Bauern schliesslich kopfschüttelnd ganz darauf verzicheten.

Die reichen Bauern hoch über dem See in der Nähe des grossen, dunklen Waldes hätten jedoch dringend jemanden gebraucht, der sich auf Pferde versteht und mit dem Hafersack sorgsam umzugehen weiss.

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