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MIRABELL

Der goldene Griff. Goldig glänzend auch der Klingelknopf. Das Tor zum Haus blendend weiss und um einiges grösser als die hier üblichen. Kurz vor Mittag. Nun steht er vor der herrschaftlichen Pforte der Villa MIRABELL hoch über dem See, den entsicherten Revolver in der Linken, sein zerknülltes weisses Taschentuch in der Rechten. Hier und jetzt wird er sich für seine Hildegard in die Schanze werfen. Der Atem. Er hört seinen Atmen, spürt seinen Puls. Nur jetzt kein Zurück, denkt er, streckt seine Rechte aus, drückt heftig auf den golden schimmernden Klingelknopf, tritt einen Schritt zurück. Diese merkwürdige Stille. Eine graubraun getigerte Katze nähert sich lautlos, schleicht hinter seinem Rücken durch, kommt zurück zu ihm, bleibt stehen und reibt ihr Köpfchen sanft aber bestimmt an seinem rechten Bein. Heftig tritt er dagegen und stösst ins Leere. Die Katze zieht sich lautlos in den parkähnlichen Garten zurück.

Die verschlossene Tür vor ihm protzig auffallend weiss. Wie in einem Film, denkt er, wie in einem Film, den er letztes Jahr gesehen hat. Oder war es vor zehn Jahren am internationalen Krimi-Film-Festival im herbstlich milden Sitges, im noblen Badeort südlich von Barcelona? Wie in einem Film. Und er Schauspieler und Regisseur in einem.

Diese Vorstellung stört ihn sogleich. Er macht eine rasche Bewegung, als ob er sie abschütteln wollte, besorgt, seine Entschlossenheit zu verlieren. Er schaut nochmals auf die Uhr an seinem linken Handgelenk und erschrickt. Fünf vor elf.

Seit Monaten versprach sie in der Regionalzeitung nicht nur den Frauen sondern auch den Männern jeden Alters, seit kurzem auch den Eltern von dicken Kindern, dass diese mit Sicherheit und garantiert nicht nur in kurzer, nein, in kürzester Zeit abnehmen würden. So die Anzeige von MIRABELL. Fett gedruckt:

FETT WEG!

In kürzester Zeit!

Sie wirkte auf die meisten ihrer Kundinnen und Kunden dermassen überzeugend - wie eine erfahrene Astrologin, Kartenlegerin, Sektenführerin oder wie einige der wortgewaltigen Politikerinnen im Lande - , dass viele nach auffallend kurzer Bedenkzeit nicht nur mit dieser rabiaten Abmagerungskur hoffnungsfroh begannen, sondern später während Monaten, ja sogar in einigen Fällen während Jahren daran festhielten, obwohl manche der Abhilfesuchenden schon nach wenigen Tagen oder Wochen am Nutzen des angewandten Verfahrens zu zweifeln begannen und einige sogar in ihrer Not erneut anfingen, mehr und vor allem fetter und zuckerreicher zu essen.

Wenige Stunden nach dem ersten Besuch dort oben über dem See, dem üblichen Informationsbesuch, wurde Hidegard plötzlich nachdenklich. Warum hatte sie diesen Vertrag so rasch und ohne Bedenkzeit unterschrieben? Und weshalb musste das überhaupt schriftlich geschehen? Wäre es nicht besser gewesen, sich vorher mit ihrem Mann zu besprechen? Mit ihren Freundinnen? Und nicht zuletzt mit ihrem Hausarzt?

Einige Klientinnen und Klienten wurden - und dies scheint uns doch bemerkenswert - nicht bloss von zunehmenden Bedenken, sondern von eigentlichen Angstattacken heimgesucht. Sie waren nicht nur besorgt, ihren zu schwer gewordenen Körper, sondern vor allem ihre psychische Gesundheit allzu leichtfertig aufs Spiel gesetzt zu haben. Und dies um sehr viel Geld. Schlimmer noch: mit dem Verlust auch eines grossen Teiles ihrer Freizeit.

Man sollte sich etwas gönnen,auch im fortgeschrittenen Alter, sagte sich Hildegard wie so viele andere Frauen auch, man sollte doch endlich etwas liebevoller, grosszügiger mit sich selber umgehen. Man war es sich doch wert.

Und da war auch die Notiz in der hauseigenen trendigen Broschüre, die allen Interessentinnen und Interessenten abgegeben wurde, die nicht zu übersehende eingerahmte Notiz von der medizinischen Unbedenklichkeit dieser einzigartigen Abmagerungskur. Ein Hauch von Wissenschaftlichkeit wehte durch diese geschickt und schick aufgemachte Werbebotschaft.

Und da waren eben auch immer wieder die nicht gerade bescheidenen, Erfolg versprechenden Inserate in der in letzter Zeit dünner gewordenen regionalen Zeitung. Die zeigten offenbar, dass diese Angebote wider, nein, zum recht verstandenen Wohle der Fettleibigkeit, das heisst wider das unerwünschte Übergewicht etwas waren, das viele Leute offenbar für gut und nützlich hielten, entsprechend schätzten und zu belohnen bereit waren, etwas, so durfte man ohne Bedenken annehmen, das einem verbreiteten Bedürfnis entsprach.

Oder musste dieses Bedürfnis erst eigentlich geschaffen oder doch verstärkt werden?

Wohl kaum. So jedenfalls die Meinung von Hildegard.

Keck wurde also von MIRABELL Erfolg versprochen. Jede Menge Erfolg. Erfolg in kürzester Zeit.

Das hätte trotzdem hellhörig machen müssen, dieses „in kürzester Zeit“. Es machte hellhörig, aber oft nicht im positiven Sinn, im für den Kunden bekömmlichen Sinn. Denn nur wenige Menschen, so meinen wir zu wissen, erleben heute, in unserer gesundheits- , wellness-und fitnessverliebten Zeit das Schwerer- und Fetterwerden als Erfolg im lobenswerten und erstrebenswerten Sinne wie zum Beispiel bei den Rats- und anderen Herren vergangener Zeiten oder den Sumo-Ringern in Japan, die mit 48 verschiedenen Griffen den Gegner umzuwerfen und aus dem 3.66 Meter messenden Wettkampfkreis zu drängen versuchen, aus der heiligen Wettkampfarena, inmitten von Tausenden von heftig mitfiebernden, kreischenden
Zuschauerinnen und Zuschauern, aus der hitzigen Wettkampfarena, von Säcken begrenzt, von Säcken, die mit Erde gefüllt sind. Dicksäcke von Ringern, von Säcken umstellt.

Frauen sind bei diesem Sport freilich nur als Zuschauerinnen zugelassen. Der aktuelle Weltmeister bringe gemäss einem Bericht des Boulevard-Blattes „Das Auge“ über zweihundert Kilogramm auf die Waage. Kein Kunde für das trendige MIRABELL hoch über dem See, eher ein Schreckgespenst, ein regelrechter Spielverderber.

Aufgepasst! Bei Misserfolg in den meisten Fällen kein Geld zurück. Selber schuld, so die Meinung des Instituts. Zu wenig für den Erfolg getan. Dem inneren Sauhund leider nicht gewachsen, die Eigenverantwortung missachtet. Selbst verschuldet, also kein Geld zurück.

Darüber stand jedenfalls nichts in der Broschüre oder in den Inseraten. Diese Auskunft erhielt man von der Chefin höchst persönlich, sofern man bei der kritischen Nachfrage zu insistieren wagte.

Doch merkwürdig: die volle Anschrift des oder der Mediziner war auch in der Zeitung nicht auszumachen. „Bodyland“ warb, wie schon erwähnt, auch mit Broschüren. Und diese graphisch einwandfreien Heftchen lagen im kleinen, luftig und hell gehaltenen Raum auf einem kleinen, hübschen Glastischchen, wo die Kundinnen und Kunden warteten, bis sie bei der Chefin oder deren Mitarbeiterinnen vorgelassen wurden. In einem Wartezimmer, das so etwas wie klinische Seriosität, Sauberkeit, Professionalität auszustrahlen berufen war. An den schneeweissen Wänden etwa ein Dutzend mehrfach unterschriebener Diplome in allen Farben, aber immerhin alle im gleichen Format. Kleine grafische Kunstwerke, zugegeben, welche diese hellen, weissen Wände schmückten. In zierlichen goldenen Rähmchen, als würde es sich um wertvolle Stiche handeln.

Später verschwand von einem Tag auf den andern der Hinweis auf das Gratis-Angebot in der Regionalzeitung. Aber nur für kurze Zeit. Neue Köder wurden gelegt: “Schlank und gesund in den Frühling” hiess es jetzt. Oder etwas später: „Ihr kluger Entschluss: Jetzt nehme ich ab!“ Und wiederholt war, wie schon erwähnt, zu lesen: “Wir garantieren Ihnen, dass Sie Ihr Übergewicht in kurzer Zeit verlieren” oder “Und wir garantieren, dass Sie das neu erreichte Gewicht halten werden. Kein Jo-Jo-Effekt!”

Wir gewähren einen Einführungsrabatt von 10% für die erste Sitzung. Aber nur bis Ende des laufenden Monats.

Das Halten des Gewichtes war inzwischen ebenso wichtig geworden wie das Abnehmen und wurde offensichtlich immer wichtiger. Nachhaltigkeit wurde jedenfalls nicht nur angemahnt sondern kurz und bündig versprochen. Es gab keine Jahreszeit, kein Lebensabschnitt, in dem es nicht angezeigt gewesen wäre, mit dieser modern trendig aufgemachten, erfolgversprechenden Kur zu beginnen, besonders aber nach Weihnachten und Neujahr, was uns nicht wundert, nach Ostern und dann auch jeweils im Frühsommer, kurz vor der Öffnung der Frei- und Strandbäder. Und das verwundert uns noch weniger..

„Im Sommer gibt es kein Verstecken-Spielen“. Das wussten nicht nur die heutigen Werber, als sie selber noch den Kindergarten oder die Primarschule besuchten, zu einer Zeit, da man im Kindergarten noch unbedenklich „Ist die schwarze Köchin da?“ gesungen hat und zu Weihnachten das Kinderbuch „Zehn kleine Negerlein“ auf den Gabentisch legte und so etwas wie Wellness gänzlich unbekannt war, das Wort wenigstens.

Hildegard, die unweit von diesem klinisch sauberen Institut MIRABELL wohnte, war kürzlich, das heisst vor etwas mehr als einem Jahr pensioniert worden, ganz gewöhnlich und ordnungsgemäss nach Ablauf der entsprechenden, gesetzlich und vertraglich geregelten Arbeitszeit. Keine versilberte oder gar vergoldete Frühpensionierung wie beim vorbildlich gehaltenen Kaderpersonal der renommierten und erfolgreichen Grossbank, wo sie am Ende ihrer beruflichen Laufbahn während etwas mehr als zehn Jahren gearbeitet hatte. Eine Bank, welche damals noch ungetrübt und mit Recht stolz war nicht nur auf ihr neues Logo sondern auch auf ihre amerikanische, das heisst aggressive, erfolgshungrige, gläubige Geschäfts- und Personalpolitik. Keine Rede da vom Abnehmen, von Schlankheit als Ideal, mindestens was die Umsätze, Gewinne und himmlischen Boni betraf. Ganz im Gegenteil. Vom Blutgold oder Blutgeld aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, vom Holocaust und seinen nicht leicht zu durchschauenden eidgenössischen Verwicklungen und Verwirrungen, wie die Medien später oft etwas zu reisserisch berichteten, war in der Öffentlichkeit noch nicht gross die Rede. Die besorgt zornigen Äusserungen eines Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt zu manch happigen Vorwürfen vor allem aus dem Ausland hatten keine unmittelbare Wirkung. Die beiden Schriftsteller liefen eher Gefahr, in bürgerlich anständigen Kreisen als Aussätzige ausgegrenzt zu werden, als widerliche Nestbeschmutzer.

Von einer Finanzkrise nicht die geringsten Vorzeichen. Ganz im Gegenteil. Goldgräberstimmung. Nach jedem erfolgreichen Tag Champagner-happy-hour in bekannten Lokalitäten, in vornehmen Bars, wie das Boulevardblatt „Das Auge“ genüsslich regelmässig zu berichten wusste und dazu aufregende Bilder zeigte. Und immer wieder Prominente in verfänglichen Situationen.

Goldgräberstimmung nicht nur bei den bewunderten und damals noch geachteten und bewunderten Börsenhengsten. Erfolgsverwöhntheit weit und breit, das Paradies auf Erden nicht mehr aufzuhalten.

Man hatte Hildegard also ordentlich verabschiedet mit einem für solche Momente vorgesehenen Steh-Apéro, der zwar um mehr als eine halbe Stunde hinausgeschoben werden musste, weil sie noch zwei äusserst wichtige Dokumente erstellen musste, um auch an ihrem letzten Arbeitstag den allgemein bekannten und von ihr wohlwollend tolerierten Dringlichkeitsdrang des Chefs noch ein allerletztes Mal zu befriedigen.

Ihr Chef räumte indes wie gewohnt in all den Jahren das Büro auf, leerte sorgfältig, beinahe schuldbewusst, den Papierkorb, klaubte vorsichtshalber ein unbeschriebenes Zettelchen vom Boden auf, gewissenhaft wie es seine Art war, zeigte auch heute auf diese zupackende Weise seine persönliche Anerkennung und Dankbarkeit gegenüber seiner von ihm und allgemein geschätzten Mitarbeiterin, telefonierte dazwischen geschäftlich wie zumeist auf Englisch, ausschliesslich geschäftlich und geschäftig wie immer, vor allem auf Effizienz bedacht, aber korrekt. Wie gewohnt. Wie immer, wenn seine Sekretärin in wie üblich dringenden Angelegenheiten noch anwesend war und, im Gegensatz zu ihm, den neuen Apparat im Büro, den Computer bereits spielend beherrschte. Computer, so vermuteten ihr Chef und viele Chefs in jenen Tagen, Computer seien ganz einfach sehr effiziente Schreibmaschinen und deshalb äusserst willkommen. Keine Chef-Sache.

Der Apéro im Haus also wie üblich gepflegt und ausgiebig, ruhig und ohne Hast. Keiner ist vorzeitig nach Hause oder in die nächste Bar gelaufen, wo vermutlich schon einige Fotografen lauerten. Die üblichen nicht allzu steifen Förmlichkeiten. Einige Herren hatten sogar kurz nach dem Eintreffen des Chefs ihre Jacke ausgezogen und über die nächstbeste Stuhllehne gelegt, die gestreifte Krawatte indessen unberührt am Hals baumeln lassen. Man war ja unter sich. Ohne die verdammten, immer gieriger und anmassender werdenden Kundinnen und Kunden aus aller Welt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung endlich wieder einmal im locker gedämpftem Gespräch unter sich.

Wie beiläufig dann nach etwa einer
halben Stunde die Übergabe der sorgfältig ausgesuchten und hübsch verpackten Abschiedsgeschenke des Chefs, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und wie zu erwarten im richtigen Augenblick goldene Worten der Anerkennung seitens ihres Chefs, eines stattlichen, sportlich schlanken, sprachgewandten und verbindlich wirkenden Mannes mit schütterem, leicht ergrautem Haar. Worte, die durchaus verdient waren, Worte von einem selbstbewusst wirkenden Mann, der damals noch nicht ahnte, dass er wenige Monate später ebenfalls in den Ruhestand versetzt würde, und zwar frühzeitig - und seine Stelle endgültig gestrichen. Dazu gab es dann freilich nicht nur einen gediegenen Apéro und goldene Worte des Dankes von allerhöchster Stelle.

Die Grossbank, das soll hier nicht verschwiegen sondern nochmals betont werden, liess sich bei ihrem frühpensionierten Kaderpersonal nicht lumpen. Die scheidenden Direktoren und stellvertretenden Direktoren sollten nach ihren so erfolgreichen Leistungen keinen Grund zum Klagen haben.

Bei Sekretärinnen, den letzten, bevor die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter endgültig Einzug hielten, war das doch ein bisschen anders. Aber Hildegard störte das nicht. Sie lebte in einer anderen Welt als die erfolgsverwöhnten bieder wirkenden, aber stets korrekt gekleideten und mild parfümierten Kaderleute ihrer Bank.

Es störte sie eigentlich schon, vor allem wenn sie in einem ruhigen Augenblick daran dachte, dass nach ihrem Abgang zwei Personen herangezogen wurden, zwei junge Frauen, welche dieselbe Arbeit verrichteten, und dies, ohne Überzeit zu leisten, was für Hildegard doch all die Jahre hindurch selbstverständlich gewesen war, über die Zeit hinaus zu arbeiten, wann immer dies nötig erschien.
Aber für Hildegard waren nun endgültig andere Dinge wichtiger geworden: die neu gewonnene Freiheit und die persönliche Befindlichkeit. Sie blickte ganz entschieden wie schon immer oder meistens zuversichtlich und erwartungsfroh in die neue Zukunft und freute sich darauf, endlich das tun zu können, was sie während vieler Jahre wegen ihrer familiären und beruflichen Verpflichtungen hintangestellt hatte. Etwas für sich selber tun, ohne sich des Egoismus bezichtigen zu müssen. Und ohne die Franken genau zu zählen.
Man sah ihr die frische Pensionierung wie bei so vielen Frauen von heute nicht an. Sie war immer noch erfüllt von fast jugendlichem Elan, wie eh und je sorgfältig nach der jeweils neuen, nicht neuesten Mode gekleidet.

Sie entwickelte vom ersten Tag ihrer frisch gewonnenen Freiheit an eine leicht aufgekratzte Aktivität, wie man das heutzutage nicht selten bei frisch Pensionierten feststellen kann, aber vermutlich nur bei solchen, die schon in früheren Jahren lebendig, neugierig und unernehmungslustig waren. Entsprechende witzig sein sollende Sprüche hierzu zirkulieren bei jeder sich bietenden Gelegenheit, besonders wenn es sich um knapp noch nicht oder kurz nach der Pensionierung stehende Personen handelt. Nicht vom Ruhe- sondern vom Unruhestand ist da die Rede. Man schmunzelt und verweist auf die sagenhaften Agenden der jungen Rentnerinnen und Rentner, angeblich ausgefüllter als die in jüngeren und vielleicht ruhigeren Jahren.

Endlich hatte sie also so etwas wie freie Zeit, Musse, Zeit für sich selbst und nicht nur wie früher, während Jahrzehnten, fast ausschliesslich für die Familie, für die Kinder, für den Hund, für den Beruf und für selbst auferlegte Verpflichtungen, welche der Allgemeinheit zu Gute kamen, zum Beispiel die Mitgründung eines privaten Kinderhütedienstes auf der anderen Seite des Sees, wo sie mit ihrer Familie während einiger Jahre wohnte. Nachfolgend Mitwirkung in diesem wöchentlich wiederkehrenden Dienst an den Müttern. Oft ermüdet, manchmal der Erschöpfung nahe, nie aufgebend, aber immer wieder nahe am Aufgeben bei der Aufrechterhaltung dieser allgemein geschätzten Einrichtung, weil viele, besonders die noch sehr jungen Mütter, sich nicht gerne der Allgemeinheit regelmässig zur Verfügung stellten.

Da war auch die Mithilfe im Wahlbüro der Gemeinde am vorletzten Wohnort, dort, wo sich das Institut MIRABELL befand, das Bodyland für leib- , gewichts- und gesundheitsbewusste Männer und Frauen. Später vielleicht, sagte sie sich immer wieder, später vielleicht, wenn sie nach dem frühmorgendlichen Duschen regelmässig auf die Waage stieg, um ihr Körpergewicht zu überprüfen.

Und sie hatte zusammen mit ihrem Mann drei Kinder grossgezogen, drei muntere Buben, die zu stattlichen, arbeitsfreudigen und sehr selbständigen Männern herangewachsen waren und seit kurzem in der nahen Stadt in verschiedenen Quartieren eine eigene Wohnung gemietet hatten. Die Burschen hatten daheim schon früh gelernt zu kochen, zu backen, die persönliche Wäsche selber zu besorgen und vor allem auch ihr eigenes Zimmer in Ordnung zu halten. Nichts da von Hotel Mama. Aber stets war sie zur Hilfe bereit, wenn es nötig wurde. Und es wurde immer wieder einmal nötig. Immer wieder. Besonders beim Zweitgeborenen. Später dann auch beim Ältesten.

Heirat mit einem leicht introvertierten und nur wenige Monate jüngeren Mann, der seinen kurvenreichen Weg als Psychologe, Pädagoge und Agoge angetreten hatte, nachdem ihm während des Praktikums in einer angesehenen Fabrik in der Stadt klar geworden war, dass für ihn das Studium eines Elektro-Ingenieurs nicht das Richtige war. Er hatte zum sichtbaren Entsetzen und grossen Enttäuschung des Personalchefs einer weltbekannten Firma für Telekommunikationsmittel sein mehrmonatiges Praktikum von einem Tag auf den andern abgebrochen. Er wollte einfach weg, einfach raus aus dieser Fabrik, die zwar international sehr erfolgreich auftrat, die er leider vor allem als Gefängnis erlebt hatte, rein in eine ungewisse aber lebendigere und insofern erfreulichere Zukunft. So dachte er. Und so fühlte er. Und Männer hatten
damals begonnen, vermehrt auf ihre Gefühle zu achten, auch Gefühl zu zeigen.

Der junge Leiter der damals neu geschaffenen Akademischen Berufsberatung hatte nach Wochen der Prüfungen und Erwägungen mit ernster Stimme gesagt, sein Rat suchender Klient könne eigentlich alles studieren. Nichts sei da auzuschliessen. Er selber vermöge auf Grund der umfangreichen Tests und der Gespräche keine eindeutige Tendenz zu erkennen. Das müsse er ehrlicherweise als wissenschaftlich ausgebildeter Psychologe und Berufsberater sagen. Und blickte dabei wie zufällig auf die Diplome, die hinter ihm an der Wand hingen. Auch aufgrund des Rorschach- und Szondi-Testes nicht, welche er zusätzlich durchgeführt hatte, um sich vermutlich erst selber einmal mit diesen nicht ganz unbestrittenen Methoden vertraut zu werden.

Das war noch zu einer Zeit, wo Lehrer und Eltern überzeugt waren, dass man ohne Fachleute wisse - ausgenommen die betroffenen Lehrer selber - , was ein junger Mensch einmal werden sollte. Wenn nicht, da wusste vor allem der Vater Bescheid. Vielleicht auch die Mutter. Oder dann der Grossvater. Und dies zumeist sehr deutlich. Und die Mütter waren froh, wenn ihre Männer klar und deutlich sagten, wo’s lang gehen sollte mit den unschlüssigen, zögerlichen Söhnen und Töchtern.

Es war in jener Zeit tatsächlich etwa Neues, zunächst etwas Befremdliches: die professionelle Berufsberatung. Und gar die akademische Berufsberatung. Vorbehalte hegten nicht nur viele Eltern, Vorbehalte hatten auch die Lehrer an den Gymnasien. Man hatte doch, besonders als zukünftiger Akademiker, der so viel mehr wusste als die anderen, zu wissen, was man werden wollte.

Das Entscheiden, der Entschluss sei schliesslich das Entscheidende, und dies sei nicht, wie viele irrtümlicherweise annehmen würden, Aufgabe des Berufsberaters. Der könne wirklich nur beraten. Diese Verantwortung für eine so wichtige existenzielle Weichenstellung hätte nicht er, sagte der Berufsberater, könne und wolle er nicht haben. Dies sei allein Sache des Klienten, des Ratsuchenden. Der Berater könne im besten Fall darauf hinweisen, dass ein geäusserter Berufswunsch auf Grund der Tests und mündlichen Befragungen auf keinem guten Boden stehe, vielleicht sogar auf Sand gebaut sei. Er selbst könne nur eine Art von Katalysator sein, der im besten Fall etwas in Gang setze, einen Prozess, eine Entwicklung, einen Lernprozess, ohne selber aber dabei involviert zu sein, involviert natürlich schon, aber nicht letztlich entscheidend, das heisst existenziell, das wäre eine Anmassung und insofern absolut unprofessionell, dilettantisch im negativen Sinn.

Vom geheimen Wunsch, Sänger zu werden, nicht ein elektro-technisch verstärkter, ein Mikrophon-Sänger mit ständig so einem Ding vor dem Gesicht, sondern Opernsänger, Sänger ohne technische Krücken, Sänger auf allen grossen Bühnen dieser Welt, hatte der junge, unsichere Mann dem Berufsberater gegenüber nichts verlauten lassen.

Hildegard hatte ihren Psychologen, Pädagogen und Agogen, den verhinderten Opernsänger auf den grossen Bühnen dieser Welt unentwegt begleitet, zunächst weg von der heimatlichen Stadt in eine Privatschule auf dem Lande mit Internat und Externat. Als Frau des Direktors. Eines Tages beschloss er jedoch, auf die Fortsetzung der teuren Gesangsstunden zu verzichten. Die sängerischen Erfolge waren ihm zu gering erschienen, die Gessangslehrerin, einst eine gefeierte Königin der Nacht im hiesigen Stadttheater, seiner Meinung nach für ihn ungenügend. Und niemand schien das zu stören, am allerwenigsten Hildegard. Und das störte ihn doch ein wenig.

So um das fünfzigste Altersjahr herum hatte Hildegard auf Grund des frühmorgendlichen Blicks auf die Waage nach dem Duschen bemerkt, dass sie ziemlich regelmässig Jahr für Jahr etwa um ein Kilo zunahm. Das war für sie nicht nur bedenklich. Es war unheimlich. Sie, die in jungen Jahen eher dünn als schank gewesen war. Sie begann zu rechnen, wie schwer sie dann mit sechzig sein würde. Sie hatte wohl auch das Format der eigenen Mutter vor Augen, die im Alter schwergewichtig und zudem oder eben deswegen auch noch zuckerkrank geworden war.

Über achtzig Kilo! Diese Vorstellung bereitete ihr nicht bloss zunehmendes Unbehagen, diese Vorstellung verfolgte sie bis in ihre Träume hinein. Sie trieb zwar mässig Sport, unternahm regelmässig mit Mann und Hund Spaziergänge und in den Ferien ausgedehnte Bergwanderungen von bis zu acht Stunden. Vor allem im Engadin, in Lech am Arlberg, einmal auch im Wallis wegen des Aletsch-Gletschers mit dem berühmten Märjelensee. Leider war dieses Gewässer mit dem schönen Namen nicht nur eisfrei sondern überdies nahezu ausgetrocknet und die Enttäuschung entsprechend gross. Von Klimawandel war jedoch noch nicht die Rede.

Zudem hatte sie sich schon lange vorgenommen, nach der Pensionierung endlich mit dem Klavierspielen weiterzumachen. Die berufliche Arbeit und der anspruchsvolle Haushalt hatten dazu geführt, dass dieses Instrument weitgehend unbenutzt im Wohnzimmer stand und trotzdem regelmässig abgestaubt sein wollte. Und sie kannte den Spruch von Wilhelm Busch:

Mit Recht erscheint uns das Klavier
Wenn's schön poliert als Zimmerzier.
Ob's ausserdem Genuisss verschafft
Bleibt hin und wieder zweifelhaft.

Kurz nach der Pensionierung telefonierte sie kurzerhand dem Institut Mirabell und nicht der Klavierlehrerin, die sich in derselben Regionalzeitung in einem klein gedruckten Inserat angeboten hatte. Rückblickend konnte sie nicht mehr feststellen, was den Ausschlag gegeben hatte. Sie hätte da in der Zeitung gelesen, sagte sie leicht aufgeregt am Telefon, das Inserat an prominenter Stelle, nein, ganz einfach: das Inserat vom Institut Mirabell hätte ihr Interesse erweckt. Ja, sie sei besorgt wegen des eigenen Körpergewichts. Ja, auch ihre Mutter sei übergewichtig gewesen. Vielleicht sei sie erblich vorbelastet.

Das eigene Körpergewicht, die tägliche Kontrolle auf der Waage und die drohende Zunahme an Gewicht waren bei ihr gleich nachder Pensionierung in den Vordergrund getreten und deshalb gewichtiger geworden als alles Musische. „Eins ums andere wie in Paris“, so lautete ein geflügeltes Wort bei ihr zu Hause, als sie noch Kind war, eins ums andere wie in Paris wollte sie nach ihrer Pensionierung all die Dinge tun, für die sie vorher keine Zeit hatte. Erst viel später erfuhr sie zufällig von ihrem Mann, was dieser Ausdruck eigentlich bedeutet. Aber sie gebrauchte ihn trotzdem unbekümmert immer wieder .

Einen Termin im Institut Mirabell erhielt sie zu ihrem Erstaunen und ihrer Freude noch am selben Tag. Das überraschte sie. Noch am selben Tag. In ihrem Kopf begann es zu summen, und sie fing an zu singen, ein Liedchen aus uralten Zeiten. Ihr schien, ihr eigener, freudig wahrgenommener Schwung hätte auf die Eigentümerin des Institutes Mirabell übergeschwappt. Oder war das Institut doch nicht so ausgelastet? Jedenfalls belebte sie die rasche positive Reaktion ungemein. Sie hatte das unsagbar gute Gefühl, dass da etwas nicht nur läuft, sondern gut läuft, für sie läuft, nun, da sie wünschte, dass endlich etwas geschieht, das nur ihr galt oder doch in erster Linie für sie. Auch ihr Mann freute sich darüber, freilich nicht überschäumend, denn er teilte die Sorge seiner Hildegard ums zunehmende Körpergewicht nicht. Es reizte ihn immer wieder, sich darüber lustig zu machen.

Nachmittags um vier Uhr läutete sie leicht aufgeregt dort an der grossen, blendend weissen Türe des angesagten kultigen Gesundheitszentrums, im Bodyland, im für sie so geheimnisvoll anmutenden und viel versprechenden Institut Mirabell.

Nicht mehr zunehmen, in kurzer Zeit sogar an Gewicht abnehmen, dann vor allem das Gewicht halten, das tiefere. Erhöhte Beweglichkeit erlangen und Steigerung des eigenen Wohlbefindens. Wellness erleben. Grössere Sicherheit gewinnen. Anerkennung. Neue Lebensfreude. Erhöhte Lebensqualität. Auch dieses Wort kannte sie erst seit kurzem.

Das modische Wort „Wellness“, so sei hier nachgetragen, hatte sie zwar von allem Anfang an als blöden Ausdruck empfunden. Ein unsäglicher Anglizismus mehr, so ihre Meinung, aber die Sache, um die es ging, die Sache erschien ihr dennoch vielversprechend. Und vor allem, das Wichtigste, wir wiederholen es gerne: es ging um etwas, das nur sie etwas anging, das sie ganz für sich allein in die Wege leiten und entwickeln konnte, etwas, das ihr und nur ihr gehörte oder vielmehr fehlen würde: überflüssiges Fett. Und vor allem würde sie jetzt endlich Zeit für sich haben, für ihr eigenes Wohlbefinden, meinetwegen eben auch für ihre persönliche Wellness, für ihren gefährdeten Körper. Meinetwegen auch für ihren Geist als durchaus erwünschte Zugabe, als Geschenk. Und bedeutsam war für sie eben auch, in den ihr noch verbleibenden Jährchen nicht eine übergewichtige, unbeholfene alte Frau zu werden, eine ungünstig alternde Frau, anfällig für noch höheren Blutdruck, für den gefürchteten Herzinfarkt, für den Altersdiabetes. Und sie dachte dabei immer wieder auch an ihre allzu früh verstorbene Mutter.

Was Hildegard erlebte, möchte ich mit den Worten ihres Mannes, Rolf, wiedergeben, jenes Pädagogen, Psychologen und Andragogen, der eigentlich am liebsten Sänger geworden wäre, Sänger auf allen grossen Opernbühnen dieser Welt. Einladungen an die schönsten Orte dieser Welt, so viele, dass man die beneidenswerte Lage geniessen konnte abzulehnen, dankend natürlich, freundlich, aber entschieden dankend. Seine unsägliche, seine das Innerstes ergreifende Vorstellung, die mit dem Älterwerden, lange vor der Lebensmitte, endgültig verblasst war: einmal, nur ein einziges Mal den Tristan unnachahmlich einmalig vollkommen zu singen und dann auf der Bühne zu sterben, nicht hinter den Kulissen, nein, ganz vorne auf der Rampe, im Scheinwerferlicht unter den erschreckten Blicken einer zuvor andächtig lauschenden Menge. Vollkommenheit für einen Augenblick erleben und dann sterben. Ewigkeit im Nu.

Aber so weit ist es ja bekanntlich nicht gekommen. Er arbeitete am Ende seiner Laufbahn als Lehrer, psychologischer Berater, Leiter einer pädagogischen Fachstelle, Organisator von Kursen für Erwachsene. bildete freiwillige Vormünder aus, Personal für den Dienst in Strafanstalten und anderes mehr. Und er sang im fortgeschrittenen Alter in einigen Chören mit. Hin und wieder luden er und Hildegard zu Hauskonzerten ein. Und manch einer der Verwandten und Bekannten waren erstaunt, nicht zuletzt auch über den reichhaltig, ja üppig zu nennenden Apéro, zu dem anschliessend aufgefordert wurde. Ein Freund der Familie, ein hoch begabter Musiker, begleitete jeweils am Klavier oder bei sich zu Hause am gossen, schwarzen Konzert-Flügel vor allem altitalienische Arien und immer wieder Schubert. Und immer wieder Stücke aus der „Winterreise“, ausgenommen das letzte Lied, die Nummer 24, den Leiermann. Er lieferte sich deswegen während vieler Jahre schalkhafte Kämpfe mit seinem Freund und Begleiter, der sich ebenso strikte weigerte, mit ihm „Die Uhr“ von Carl Loewe einzustudieren: „Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir, wie viel es geschlagen habe, genau seh' ich an ihr“. Das Stück, so sein Freund, der ausgewiesene Musiker und Musikkenner, dieses Stück sei musikalisch minderwertig, nicht würdig, von ihm gespielt zu werden. Und Rolf fügte sich notgedrungen auch hier.

Ihr Mann wird dabei vermutlich etwas ausholen, wie ich nicht nur vermute sondern vielmehr befürchte, hoffentlich nicht zu weit, wie es immer wieder seine Art ist, bis er dann unweigerlich, wie auf einem erlebnisreichen Spaziergang oder auf einer ganz gewöhnlichen Tanzfläche plötzlich stille steht und sich wundert, dass er nicht gestolpert oder gar hingefallen ist.

Meine erste und vermutlich letzte Frau in meinem Leben, meine besorgte, liebevolle und treue Hildegard, welche sich nach ihrer Pensionierung schon in der zweiten Woche nach ihrer ordentlichen Pensionierung ins Institut Mirabell hoch über dem See verirrte statt zunächst einmal Klavierstunden zu nehmen, weil sie dermassen besorgt war, ständig dicker und gewichtiger zu werden, das heisst ihr Gewicht nicht halten zu können. Meine erste und vermutlich letzte Frau liebte ich und liebe, verehrte und verehre ich, obwohl sie mir vor vielen Jahre mit Tränen in den Augen zornig mit der Scheidung drohte. Und das zu Recht. In ihren Augen zu Recht. So auch die Meinung vieler unserer Verwandten und Bekannten. Auch ich fand sie im Recht, obwohl auch ich mich im Recht empfand. In meinem Recht. Und ich hoffte nicht nur, sondern ich kämpfte dafür, dass sie von ihrem Recht nicht den Gebrauch machen würde wie so viele Frauen in unserem Bekanntenkreis.

Ich hatte mich bei einer meiner damaligen Geliebten verschlafen, übermüdet, und Hildegard fiel aus allen Wolken, als sie mich daheim nicht erreichte.

Meine Hildegard hatte ich im Spital kennen gelernt unweit von meinem damaligen Wohnort. Ich lebte damals noch daheim bei meinen Eltern, versuchte mich sowohl als Sänger ohne Mikrophon, als Lieder- und Opernsänger, aber auch als Student, der neugierig und unendlich wissensdurstig alle möglichen Vorlesungen und Seminarien besuchte, eifrig stenographierte, was ihm von Bedeutung erschien, bald einmal Daten sammelte für seine Dissertation mit dem Titel „Freizeit in der Strafanstalt“ und während Monaten in einer Strafanstalt wohnte, um auch dort Erfahrungen vor Ort zu sammeln. Nicht als „verdeckter“ Sträfling. Alle in jenem riesigen Gebäude Haus waren im Bild, auch die Häftlinge.

Was mich dabei im Kern interessierte, war der Zusammenhang, das heisst eigentlich die vermutete Unvereinbarkeit von Zwang und Freiheit. Was für einen Sinn haben Freizeit und Freizeitangebote in einer Strafanstalt, die doch den Freiheitsentzug sicherstellen sollte?

Diese Frage beschäftigte mich während Jahren.

Erstaunlich im Nachhinein. Fast alle meine Liebschaften, auf die ich hier nicht weiter eingehen werde, hatten etwas Gemeinsames: die Frauen arbeiteten in einem Spital. Sie hatten es alle mit der Gesundheit, mit dem Wohlbefinden von anderen zu tun. Zwar an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Funktionen. Auch die Lebenspartnerin meines ältesten Sohnes arbeitet als Schwester in einem Spital - in demselben, in dem ich Hildegard, meine Frau kennen lernte - , das heisst als Pflegefachfrau, wie man heute zu sagen genötigt ist. Und die Tochter meines Zweitgeborenen, die demnächst ihre Lehre als Zahnarzt-Asstistentin abschliesst, will sich gleich anschliessend zur Operations-Schwester, das heisst vermutlich zur Operations-Assistentin ausbilden lassen, bzw. zur Fachfrau für Operationstechnik.

Und noch etwas ist gemeinsam, und dies ist bedeutsamer für mich als der Arbeitsplatz in einem Spital und das Wohlbefinden von anderen Menschen. Ich habe diese Frauen nicht gesucht, habe keiner aufgelauert, habe keine Inserate aufgegeben - das Internet war noch nicht bekannt - , habe niemanden beauftragt oder bloss angeregt, für mich eine Partnerin zu suchen. Nie war ich in meinem ganzen Leben, was man bei uns „auf dem Aufriss“ nennt. Dancings waren für mich ein Greuel - oder wie man heute sagt - , ein „no go“, Gefahrenherde. Der Pöbel traf sich dort, der sittenlose, dumpfe, schmutzige oder schmuddelige. Bei Huren konnte man sich man anstecken wie schon Ulrich von Hutten oder Friedrich Nietzsche erfahren mussten und auch so viele andere. Ich wollte alles andere als auf billige und übliche Weise meine Männlichkeit beweisen, meine überschüssige Kraft ausleben, schon eher meine Liebe zu Frauen ausleben, zu Frauen, denen ich von Anfang an nicht gleichgültig war.

Mit Hildegard hatte ich, wie man so sagt und dabei vielleicht verständnisvoll blinzelt, endlich die Liebe kennen gelernt, um Jahre später als meine umtriebigeren und mutigeren Kollegen. Ich erlebte in jenen Tagen so etwas wie einen überwältigenden Sonnenaufgang, sah des Nachts beglückt hinauf zur Venus, Hildegard, mein Morgen- und Abendstern. So empfand ich jedenfalls die Begegnung mit ihr. Und ich habe dieses Gefühl des Unerhörten, Überwältigenden all die Jahre nie ganz verloren.

Unsäglich schön und befreiend hatte ich die Zeit kurz nach meinem zwanzigsten Geburtstag erlebt. Wärme, Zufriedenheit, Freude und endlich die Gewissheit auch, nicht schwul zu sein. Aber nicht nur das. Ich konnte endlich meine Selbstzweifel, meine Ansätze von Selbstverachtung loswerden, Selbstverachtung wegen Dingen, die meine Mutter fast drohend Willensschwäche genannt hatte, Selstzweifel, weil ich als junger Mann so lange die Liebe einer Frau entbehren musste.

Kurz vor Mittag steht er vor dem herschaftlichen Eingang von MIRABELL, hoch über dem See, in der rechten Hand den entsicherten Revolver, in der linken sein zerknülltes Taschentuch, die Zähne zusammengebissen, sprungbereit, sich für seine Frau, für seine Venus in die Schanze zu stürzen, ihr seine Liebe mit einer Tat und nicht nur mit Worten zu beweisen. Er hört seinen Atem, spürt seinen Puls. Kein Zurück! Er drückt heftig auf den grossen goldig schimmernden Klingelknopf rechts im schneeweissen Türrahmen, tritt einen Schritt zurück und lauscht. Sein Atem. Der heftige Puls. Eine getigerte Katze nähert sich von links, lautlos, schleicht hinter seinem Rücken durch, kommt zurück, bleibt stehen und reibt ihr Köpfchen sanft aber bestimmt an seinem rechten Hosenbein. Er tritt heftig nach hinten und stösst ins Leere. Das Tier hat sich instinktiv in den Garten hinein entfernt. Die Türe öffnet sich lautlos. Eine grosse Frau im weissem Mantel, wie eine Ärztin, denkt er, steht vor ihm und schaut ihn erstaunt an. Er will sprechen, doch die Stimme versagt ihm, er drückt ab – und erwacht.

Alles nur geträumt? Er reibt sich die Augen. Alles nur geträumt!

Hildegard berichtet ihrem Rolf noch am selben Abend und mit strahlenden Augen, wie es mit MIRABELL und dem Abmagerungs-Vertrag stehe, den sie spontan, abgeschlossen habe, allzu spontan, einen Vertrag im Wert von mehreren Tausend Franken. Ihre Bedenken seien stetig stärker geworden, sie hätte ihren eilfertigen Entschluss bereut und ratsuchend ihrem Hausarzt telefoniert. Und dieser habe ihr mit guten Gründen davon abgeraten, diese Rosskur anzutreten. Der Vertrag könne seines Wissens ohne Not und ohne Kostenfolge aufgelöst werden.

Dann sei sie unverzüglich beim Insitut MIRABELL hoch über dem See vorgefahren, habe geläutet und bei der Bediensteten sogleich nach der Chefin verlangt. Und die sei nach kurzer Wartezeit unter der Türe erschienen, erstaunt aber nicht unfreundlich. Als sie vom Rat des Arztes hörte, sei sie ohne zu zögern bereit gewesen, vom schriftlichen Vertrag zurückzutreten.

 

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