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JOSEF

Auf dem üblichen Kontrollgang nach einer der immer selteneren Abdankungen unterwegs in der Kirche, dann auf dem Kiesweg um das eindrückliche neugotische Gebäude herum, bemerkte Adam Ott, der umsichtig besorgte Sigrist, links in der Mitte der dritten Reihe zwischen den leeren Bänken etwas, das ihn zusammenfahren und heftig auf seine dicke Unterlippe beissen liess.

Josef blickt in die Höhe, räuspert sich kurz, führt sein weisses Taschentuch erneut zur Nase, blickt auf zum Dirigenten. Leicht gekrümmt und doch irgendwie feldherrlich steht dieser vor ihm aufrecht auf einem zierlich gezimmerten hellbraunen Holzpodest. Angespannt blickt er in die Runde der ansehnlichen Chorschaft. Die hat ihrerseits bereits vor einer Stunde auf einem improvisierten Podium Aufstellung genommen, einem freilich viel grösseren, dreistufigen.

Noch einmal! Von Anfang an! Mehr Spannung, meine Lieben, mehr Spannung! Nicht einfach lauter! Spannung! Und deutlicher sprechen! So! Bewegt eure Lippen! Schaut doch mal her! So! Nein, so! Von Anfang an, bitte! Von Anfang an! Takt sieben, nein, Takt dreizehn! Und alle schauen zu mir, Kopf hoch, wirklich alle! Schaut bitte her! Josef! Hierher! Joooseff!

Der zierliche Taktstock, die kräftige Rechte des Dirigenten zittert, stärker als sonst in einer der ordentlichen Proben. Die Sängerinnen und Sänger sind das jedoch gewohnt. So ist es doch immer vor ihrem so geliebten und weit herum beliebten Konzert am Jahresende. Alle zwei Jahre im Dezember. Im Advent. Ein regelrechtes Konzert in der neugotischen Kirche hoch über dem See. So verlangt es die Verfassung des Vereins, die Statuten des gemischten Chores, Artikel 2, der Zweckartikel: Jedes zweite Jahr mit ungerader Endziffer findet ein „grosses Konzert“ statt, zwei Aufführungen während des Advents, verbunden mit einem regelrechten Billett-Verkauf. Die Mitgliederbeiträge reichen nicht hin, die Bilanz des Chores auszugleichen. Mehrkosten vor allem wegen der Solisten. Die Auswahl des aufgeführten Werkes erfolgt nach Absprache im Vereins-Triumphirat (Präsident, Aktuar, Dirigent) ein Jahr im Voraus.

Da geschieht es, das Unfassbare. Entsetzlich. Ein dumpfer Aufschlag. Schreie. Einige Sängerinnen und Sänger haben ihre schwarz gefassten Partituren fallen gelassen, greifen sich sich an den Kopf.

Josef ist vornüber auf die grauen Steinfliesen gestürzt, bleibt reglos liegen, als ob er den grauen, staubigen Steinboden küssen würde.

Dann diese Ruhe. Unheimliche Stille.

Josef, ein kräftig gebauter Tenor, hat seit vielen Jahren immer stramm in der vordersten Reihe gestanden und eifrig mitgesungen. Ein vorzeitig Pensionierter. Ein passionierter Sänger, stolz darauf, keine Probe auszulassen. Fast keine. Beliebt, umworben und immer wieder auch belächelt. Schon seit vielen Jahren. Wunsch-Sänger einiger Dirigenten und vermutlich jeder Dirigentin in dieser Gegend.

Tenöre sind rar. Und selten treu, so die augenzwinkernden billigen Anspielungen von Nichttenören.

Gute Tenöre noch rarer. Aber nicht alle sind sie so treu und zuverlässig wie Josef.

Und Tenöre sind nicht einfach dumm oder gar eingebildet. Dafür gibt es genügend Beweise. Ein unfein billiges nicht auszurottendes Vorurteil. Ebenso unfein, billig und manchmal halt doch zutreffend wie all die Sprüche über Blondinen. Gute Tenöre, das ist hingegen unbestritten, sind gesucht wie die Nadel im Heuhaufen, wie der weisse Trüffel auf die langgezogenen Anhöhe über dem See. Edelsteine. Raritäten. Nach ihnen wird eifrig gesucht. Man beneidet sie, hofiert sie, wenn man wieder einen ausfindig gemacht hat, der vielleicht bereit sein könnte, in diesem oder jenem Chor mitzusingen.

Warum in aller Welt nicht eine Sopranistin?

Sopranistinnen können begeistern, sie können auch verwirren, besonders in gemischten Chören. Aber es sind keine Raritäten. Das Gegenteil ist richtig. Es fällt meistens nicht ins Gewicht, wenn eine mal aus- oder hinfällt. Die Lücke wird kaum bemerkt. „Die Lücke, die sie hinterlässt, ersetzt sie vollständig!“ so der allen bekannte wiederkehrende Spruch von Josef. Aus welchem Grund auch immer. Sie sind keine Rarität. Sie bilden ganz einfach in jedem Chor die klar sicht-, spür-, riech- und hörbare Mehrheit.

Josef, urplötzlich vornüber gestürzt, aus heiterem Himmel, vom untersten Absatz des dreistufigen hölzernen Podestes, das vor einigen Tagen im Blick auf die geplanten zwei Konzerte in harter Arbeit von freiwilligen Sängern, also vor allem mit Bässen, in der grossen Kirche aufgebaut worden ist. Vornüber direkt vor die Füsse des erschreckt, jedoch geschickt zurückweichenden Dirigenten, der vom kleinen hölzernen Schemel gehüpft ist und nun einen kurzen Moment hilflos dasteht. Und es sieht tatsächlich so aus, als ob Josef den Boden küssen würde. Und er hört nicht auf zu küssen.

Der gelbliche Taktstock ist dabei mit hellem Ton auf den Boden gefallen, auf die Seite gerollt und schliesslich auf den grauen, staubigen Steinfliesen liegen geblieben.

Aber da fährt plötzlich etwas durch den Raum. Was ist denn das? Ein Summen. Ein Summen? Es summt. Nicht draussen. Nein, hier drinnen in der Kirche. Eine Hummel? Oder bloss eine Biene? Eine Hornisse gar? Ein Handy vielleicht? Es summt jedenfalls. Stille. Es summt erneut. Mal stärker, mal schwächer. Fast alle scheinen es zu hören. Nicht alle. Vor allem die mit den Hörgeräten nicht. Und das sind nicht wenige. Doch keiner sagt etwas. Man blickt sich wortlos an, kratzt sich da und dort am Hinterkopf oder am Bein. Es summt in vielen Köpfen von wachsendem Entsetzen.

Eilfertig neigt sich nun der Dirigent und doch leicht zögernd über den massigen, reglosen Körper vor ihm, erkundigt sich mit seltsam fremder Stimme nach dessen Befinden, schaut Hilfe suchend in die Runde. Blickt erneut auf den reglosen Körper. Sucht Kontakt zu seinem Chor. Der gelbliche Taktstock bleibt ungerührt am Boden liegen. Die Probe mit der Chorschaft zu Ende, bevor sie richtig angefangen hat.

Schon nach wenigen Schrecksekunden bewegen sich zuerst einige couragierte Sopranistinnen und Altistinnen, die hurtig vom Podium herabgesprungen sind, hin zu Josef. Der liegt noch immer unbeweglich auf dem Boden und scheint ihn unentwegt zu küssen.

Sopranistinnen, Altistinnen, die nicht nur beim lokalen Zivilschutz sondern auch im Samariter-Verein mitwirken. Muntere Wesen. Mehrheitlich Mütter. Frauen, auf die man sich verlassen kann. Und die an zahlreichen Notfall-Übungen des örtlichen Zivilschutzes teilgenommen haben. Zuvorderst Mirjam, eine zierliche nicht mehr ganz junge blondhaarige Frau. Sie kniet als erste neben Josef hin und ergreift nun seinen linken Arm, der schlaff auf dem kalten Boden aufliegt.
Josef, wie geht’s? Hörst Du mich? Wie geht’s? Hast du Schmerzen? Ich bin so aufgeregt. Atmet er überhaupt noch? Josef, hörst du uns? Josef, hörst du mich? Josef! Josef! Jooosef! Lieber Josef!

Sprache, Atmung und Puls. Diese drei Lebensäusserungen muss man zuallererst überprüfen in einem solchen Fall: nach einem Unfall. In einem Notfall.

In wenigen Wochen schon ist das grosse Konzert. „Die Schöpfung“. In der neugotischen Kirche hoch über dem See, erbaut zu einer Zeit, da noch ganze Scharen vom Dorf Erholung und Trost in de Kirche suchten. Nicht nur an Sonn- und Feiertagen. „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn. Alle freuen sich, stellen sich hingebungsvoll dieser selbst auferlegten Herausforderung, sagen in diesen anstrengenden Wochen manche private Verpflichtungen ab. Ja, diese von vielen geschätzte „Schöpfung“ von Joseph Haydn ist in diesem Jahr an der Reihe. Nach zwanzig Jahren wieder einmal. Nicht die „Schöpfungsmesse“, nein, die steht frühestens in sechs oder acht Jahren zur Diskussion. „Die Schöpfung“ hier hoch über dem See und nicht unten in der fernen grossen Stadt, wo das beliebte Oratorium gewöhnlich ein bis zweimal im Jahr angeboten wird. Hier am See jedoch sind es Amateure. Laien, überwiegend Amateure, Liebhaber von Gesang, Musik und Geselligkeit.

Der Dirigent, ein schlaksiger, dunkelhaariger Mann in den Vierzigern hat sich da wieder einiges mit einem seiner Lieblings-Chöre vorgenommen. Anspruchsvolles. Das war allen klar. Und sie waren stolz auf ihr Unternehmen und auf ihren Mut. Alle zwei Jahre ein herausforderndes Werk. Zusammen mit einem Amateur-Orchester. Dazu auswärtige Solisten. Klar. Ein regelrechtes Konzert, für das Eintritt bezahlt werden muss. Zu diesem besonderen und besonders feierlichen Anlass nicht einfach Musik zur Anlockung und Ergötzung von Kirchgängern wie sonst üblich an den herausragenden christlichen Feiertagen: Ostern, Pfingsten, Weihnachten. Ein Konzert mit allem Drum und Dran aber ohne anbiedernde Kollekte. Eines mit angeheuerten professionellen Solistinnen und Solisten, wenn gleich der eine oder die andere glücklicherweise noch in Ausbildung, was dann nicht nur die Kosten tief hält sondern regelmässig zu einem Zustupf für die Vereinskasse verhilft.

Der Kassenwart meist eine Frau mit Stellvertreterin. Da geht’s um gutes Geld. Nicht nur um Kunst und Geselligkeit. Die Eintrittskarten können einige Wochen im Voraus in einem alt eingesessenen Dorfladen bezogen werden, auch wenn dessen Eigentümer nur unregelmässig die Kirche aufsucht, ein zweiter Tenor. Graphisch einwandfrei gestaltete hellblaue Eintrittskarten, hergestellt von einem Chormitglied, das keine Rechnung stellt, sondern in der ersten Probe nach dem Konzert als Dank aus der Hand des Präsidenten jeweils ein prächtiges Blumengebinde überreicht bekommt, gestiftet vom hiesigen Gärtnermeister, zweiter Bass. Der Graphiker dankt hierauf in artigen Worten für die Blumen. Und der Präsident, der den Namen eines Erzengels trägt, dankt dem Gärtner. Und dieser schaut dann für einige Augenblicke etwas verlegen zu Boden dann zum Himmel. So geht das eben zu und her bei diesen grossen Konzerten mit nur wenigen freien Karten an der Abendkasse, vielen Blumen, lang anhaltendem Applaus und ausführlichem Bericht in der Lokalzeitung schon am übernächsten Tag.

Josef. Ein kräftig gebauter Mann mit immer noch dunklem, erst schwach angegrautem, leicht gewelltem, gesundem Haar. Nicht die Spur einer Glatze. Seit drei Jahren Früh-Rentner. Kein lustiger Witwer. Ein gemütlicher Lediger, ein Single, wie man heute sagt, ein gut erhaltener Lediger aus Überzeugung. Aus Überzeugung? Und meist mit einem manchmal etwas angestrengt wirkenden Lächeln im Gesicht. Aus Angst? Angst wovor? Vielleicht aus Vorsicht. Aus Gewohnheit. Ein Lediger beinahe aus Überzeugung. So musste man annehmen, wenn man ihn sprechen hörte. Und das konnte man an vielen Orten und bei manchen Gelegenheiten. Das sahen einige seiner Freunde und Bekannten jedoch anders. Doch lassen wir das!

Er wohnt in einer grossen, hellen Drei-Zimmer-Eigentumswohnung, die er gleich nach der Pensionierung bezogen hat. Als stolzer Erstbewohner. Seine beiden Hypotheken bei der aufstrebenden regionalen Bank ungewöhnlich bescheiden. 80% Prozent die stolze Selbstfinanzierung Es roch noch nach Farbe, frischem Holz und den gewohnten Reinigungsmitteln, als er im Herbst vor drei Jahren einzog, in ein neu erstelltes Haus unweit der Stadt, wo er während Jahrzehnten gearbeitet hatte. Ein Mann aus den Bergen, leicht untersetzt, Sohn eines Bergbauern und einer Bergbäuerin, aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen zusammen mit seinem um drei Jahre jüngeren Bruder, der jedoch nach Schulabschluss bei den Geissen, Kühen und Schweinen, bei Mist und Gülle in den Bergen geblieben ist. Er könne seine Eltern nicht enttäuschen, hörte man ihn immer wieder sagen. Besonders wenn Josef anwesend war. Er fühle sich verantwortlich für den kleinen Bergbauernhof. Dieser dürfe auf keinen Fall in fremde Hände fallen.

Josef hatte es nicht erst nach Schulabschluss und gut bestandener kaufmännischer Lehre in die grosse Stadt am See gedrängt. Schon als Junge hatte es ihn weggezogen, einfach weg von daheim, weg von Geissen, Kühen, Schweinen und Hühnern. Weg vom Geruch des Mistes und der Gülle, weg vom strengen Alltag einer Bergbauernfamilie mit all den harten Verpflichtungen. Weg auch von der ständig lauernden elterlichen Kontrolle.

Vor allem die Mutter. Nicht einmal in Ruhe onanieren konnte er im eigenen kleinen Zimmer, das aber immerhin ein kleines Fenster aufwies, welches er jedoch nur selten öffnete. Das machte ihm zu schaffen, diese Kontrolle der Mutter, das machte ihn immer wieder aufs neue wütend und verdrossen. Noch mehr sein schwacher Wille. Die Scham. Mehr als einmal hat ihn seine Mutter bei unfrommem Tun erwischt und entrüstet schwere Vorwürfe erhoben, Hölle und Fegefeuer beschworen, ihn gar mit drohenden Worten zum Pfarrer geschickt, obwohl dieser bei einigen im Dorf, besonders bei den Jungen, nicht den besten Ruf genoss. Ein gleichaltriger Ministrant, einer aus der Nachbarschaft, hat wiederholt allerlei Merkwürdiges über diesen leutseligen Geistlichen mit den seltsam leuchtenden Augen berichtet, Andeutungen gemacht auf dem Schulhof und daheim. Aber rasch und entschieden von seinen Eltern zur Ordnung und zum gebührenden Anstand ermahnt, hat es dieser Knabe nicht mehr gewagt, sich öffentlich darüber zu äussern. Erst viel später, nach bestandener Lehre als Zimmermann, mit anderen Burschen zusammen, die ebenso jahrelang geschwiegen hatten.

Dort in der grossen Stadt arbeitete sich Josef als Beamter im Tiefbauamt während Jahrzehnten immer höher hinauf bis zum Abteilungsleiter, brav und tüchtig. Und immer gesund und munter. Kerngesund sogar. Er brauchte nur selten den Arzt. Höchstens wegen eines Unfalles. Einmal ein Wadenbeinbruch bei einem Grümpel-Tournier, Zerrungen nach Stürzen beim Skifahren. Einen Arzt benötigte er eigentlich erst so recht nach seiner Pensionierung. Der Blutdruck. Die Blase. Die Augen. Eine plötzlich aufgetretene Allergie nach dem Konsum von Shrimps aus Italien. Oder aus China? Ein richtiger Bergler, sagten die in der Stadt aber auch in seiner Gemeinde, ein Urchiger. Ein Macho auf den ersten Blick. Aber wirklich nur auf den ersten.

Auch lohnmässig war's all die Jahre ständig aufwärts gegangen, nicht steil, aber stetig und gemäss dem fortschrittlichen städtischen Lohnreglement. Und er sah mit Behagen seine Bankguthaben stetig wachsen. Bei seiner bescheidenen Lebensführung die Einnahmen stets grösser als die Ausgaben. Seine bescheidene Lebensführung. Das hatte er von seinen Eltern, den spar- und arbeitsamen Bergbauern von klein auf gelernt. Und schon früh hatte er sich aus seinem Wilhelm Busch-Buch, einem Weihnachtsgeschenk seiner Gotte, aus „Die Haarbeutel“ den Vers nicht nur herausgeschrieben sondern auswendig gelernt:

„Mein lieber Sohn, du tust mir leid.
Dir mangelt die Enthaltsamkeit.
Enthaltsamkeit ist das Vergnügen
An Sachen, welche wir nicht kriegen.
Drum lebe mässig, denke klug.
Wer nichts gebraucht, der hat genug.“

Konti schliesslich bei vier verschiedenen Banken. Bewusstes Risikomanagement ohne professionelle Beratung.

Und da war stets auch die ursprüngliche Lust, mit anderen, immer wieder mit neuen Menschen in Kontakt zu treten. Auch mit Leuten aus einem für ihn fremden Lebensbereich. Mit Leuten, die zum Beispiel in einer Bank arbeiteten.

Banken kamen ihm von Anfang an - als er als junger, weltoffener Mann in die Stadt zog - vor wie Kirchen. Diese Stille in den grossen Hallen. Die Menschen so andächtig. Dieser Duft. Und alles so sauber. Und erst der Marmor. Echter Marmor. Das konnte er rasch feststellen. Bloss anklopfen mit dem gekrümmten rechten Zeigefinger. Nicht wie in der Kirche in seinem Dorf in den Bergen und in vielen anderen Kirchen, die den Marmor geschickt vortäuschen. Das war hier ein anderes Anklopfen. Das passte zum leisen Sprechen in den Bankhallen. Diese beruhigende Bedächtigkeit und Andacht der Leute bei ihren finanziellen Verrichtungen. Das plötzliche Klingeln eines Telefons: fast wie eine Botschaft aus einer noch geheimnisvolleren Welt.

Zu einer Verlobung oder gar Heirat ist es in all den Jahren nicht gekommen. Wenn wieder mal eine Hochzeit anstand, und das kam immer wieder vor, dann war er dort nur als geladener und von den meisten gern gesehener Gast dabei. Er zeigte sich jeweils als sehr spendabel. Äusserst korrekt im Smoking und stets mit derselben seidenen Silberkrawatte, die er von seinem Vater geerbt hatte. Und der hatte sie wiederum von seinem Vater bekommen.

Er hätte es jedoch schon gerne getan. Heiraten. Verschiedentlich und immer wieder. Das wusste man. Darüber kursierten allerhand Geschichten, meist mutwillige, die jedoch zum grössten Teil von Josef selber stammten. Auch das wusste man.

Möglich, dass sein Wunsch zu heiraten einfach zu schwach war. Zu gross vielleicht seine Angst, seine Sorge, sein Respekt, sein mulmiges Gefühl, wenn sich Frauen in bestimmter Weise etwas zu eingehend mit ihm zu befassten versuchten.

Und er war ja auch in seinem gossen Bekanntenkreis mit ach so vielen ehelichen Zerwürfnissen und Katastrophen vertraut, was ihn manchmal doch zu trösten schien. Auch dann kam ihm immer wieder der von ihm so geschätzte Wilhelm Busch in den Sinn.

Das war auch so mit Mirjam, dieser zierlichen Sopranistin, mit der er sich immer wieder traf, was nicht unbemerkt blieb und zu entsprechenden Spekulationen Anlass gab. Er traf sich mit ihr und anderen Chormitgliedern nach einer Chorprobe zum gemütlichen Schwatz in einer der zahlreichen Gaststätten des Dorfes. Und fast immer ergab es sich dabei wie von selbst, dass er neben sie zu sitzen kam. Und stets zahlte er dann auch den Kaffee, den Münzentee oder den Wein für sie, aber immer wieder auch für die andern, die sich an seinen Tisch gesetzt hatten.

Ab und zu lud er sie spontan zu einem feinen Essen zu sich ein, das er selber sorgfältig aber etwas umständlich zubereitete, so dass sie das eine oder andere Mal hilfreich einsprang, mit einer launigen Bemerkung in seine Küche eindrang, um ihm Gesellschaft zu leisten, wie sie sagte, was ihn erst einmal störte und doch auch freute.

Auch sie lud ihn dann das eine und andere Mal zu sich ein, denn sie war eine erfahrene Köchin, brachte ihren Gast immer wieder zum Staunen. Mit einem ausgefallenen Fischrezept zum Beispiel, der Fisch aus dem nahen See. Auch sie liebte gute Weine. Auf einen Calvados zum abschliessenden Kaffee verzichtete sie selten. Und nie fehlte bei ihr daheim auf dem sorgfältig gedeckten Tisch eine gekühlte Flasche „Veuve Cliquot“ zum animierenden Apéro. Harmlos listige Anspielung, so empfand und genoss es unser Josef und lachte fröhlich. Auch dazu kannte er selbstverständlich den anzüglichen Vers von Wilhelm Busch. den er hierbei auch nie zu rezitieren vergass.

Wie leicht und lieblich glänzt die Blase
Der Witwe Klicko in dem Glase.

Mirjam war verwitwet, eine sehr fröhliche Witwe sogar, und dies seit Jahren. Sie lebte immer noch im selben Haus, das sie mit ihrem Mann, einem angesehenen Arzt, und ihren zwei Töchtern bewohnt hatte. Acht Zimmer, prächtige Terrasse, ein grosser, sehr gepflegter Garten, Dreifachgarage. Das hatte sie all die Jahre allein bewältigt. Die beiden erwachsenen Töchter, beide seit Jahren verheiratet und im nahen Ausland wohnend, hatten wiederholt versucht, ihre Mutter zu überreden, eine kleine - sie dachten an drei bis vier Zimmer - , praktisch eingerichtete Eigentumswohnung zu kaufen. Weniger Raum zum Wohnen zwar, sagten sie, aber auch viel weniger Arbeit. Und daher mehr freie Zeit. Du wirst nicht jünger, Mama, drangen sie auf ihre Mutter ein. Du wirst den Wechsel garantiert nicht bereuen. Früher oder später. Lieber früher. Aber zugleich waren sie stolz auf die Tüchtigkeit und Selbständigkeit ihrer Mutter, die so lebensfroh war und sich immer noch so interessant zu kleiden wusste.

Frauen erschienen Josef trotz allen vordergründigen und harmlosen Vertraulichkeiten immer wieder seltsam umtriebig und fordernd, was ihn beunruhigte und sehr oft nicht durchschlafen liess. Mirjam bildete hierbei keine Ausnahme. Fordernd und spionierend wie seine Mutter droben in den Bergen, die ihm aufgelauert hatte und immer wieder feststellen wollte, was er jetzt gerade tue im Stall, in der Scheune, im engen, karg eingerichteten Zimmer, das er mit seinem Bruder teilen musste. Sie hatte regelmässig seine und seines Bruders Wäsche und die Leintücher überprüft, so erinnerte er sich immer wieder, und ein merkwürdiger Unwille stieg in ihm dabei auf. Und dann die elende Fragerei jedes Mal, diese elende Fragerei, wenn sie wieder einmal etwas Verdächtiges festgestellt hatte. Und die umgehende Aufforderung, sich an den Pfarrer des Dorfes zu wenden. An den Herrn Pfarrer, ausgerechnet an diesen Pfarrherrn mit den glänzenden Augen, von dem im Dorf so Merkwürdiges erzählt wurde.

Aber Josef mochte sie durchaus irgendwie, all diese Frauen, alte und junge, diese seltsam reizenden und zumeist emsigen Geschöpfe. Und diese mochten auch ihn - mit wenigen Ausnahmen. Er hielt es mit zunehmendem Alter offensichtlich doch eher mit den nicht mehr ganz jungen aber noch gut erhaltenen Weibsbildern. Er mochte eigentlich auch seine Mutter. Ihr begegnete jedenfalls bis zu ihrem Tod mit allem Respekt und Nachsicht. Sie, die sich ein Leben lang unermüdlich für ihre Familie und den Hof abrackerte.
Er mochte sie besonders nach dem Wegzug von den Bergen, nachdem er in die Stadt am See gezogen war, zumal sie ihn dort nicht mehr kontrollieren, überwachen und ermahnen konnte, auch wenn sie, schweigsamer als sonst, gebückt und manchmal ächzend, aber nie laut klagend, weiterhin ihrer täglichen harten Arbeit nachging

Aber Josef kam auch gut mit Männern aus. Manchen schien es, er komme auffallend gut mit Männern aus. Allein unter Männern war er meist unbeschwerter, so schien es, derber und zugleich lockerer als in Gegenwart von Frauen. So meinten einige, die von sich behaupteten, Josef gut zu kennen.

Die Mehrheit in seiner Abteilung in der grossen Stadt waren Männer. Die meisten schon in jungen Jahren verheiratet, hatten zum Teil eigene Kindern. Das gab jeweils genügend Gesprächsstoff neben den aktuellen Sportereignissen und den Wetteraussichten. Kinder entwickeln sich rascher als die Erwachsenen, geben daher eher Anlass für Überraschungen, Neuigkeiten und entsprechende Geschichten, die man auch Fremden gerne erzählte.

Und dennoch war ihm bei alledem seine Unabhängigkeit, seine Freiheit, wie er sich ausdrückte, schliesslich wichtiger als beruhigtes Beieinandersein mit einer Frau. In seiner eigenen Wohnung, darüber liess er niemanden im Zweifel, in seiner eigenen Wohnung wollte er Herr und Meister bleiben, in seiner kleinen, etwas altmodisch aber zweckmässsig eingerichteten Mietwohnung mit Blick auf den träge dahingleitenden Fluss. Und das wollte er auch später als Pensionierter in seiner schmucken Eigentumswohnung am See: Freiheit und Unabhängigkeit. Und dieser Wunsch nach Freiheit und störungsfreiem Leben hatte nichts, fast nichts mit seinen politischen Überzeugungen zu tun. Da war er seit jeher vorsichtig mit dem Äussern von so etwas wie einer persönlichen Meinung. Er wäre ihm auch nie in den Sinn gekommen, einer politischen Partei beizutreten.

Über sein privates Leben kursierten, wie wir schon wissen, immer wieder widersprüchliche Gerüchte. Das war nicht verwunderlich. Mehr als über das seiner Arbeitskollegen und -kolleginnen. Auch das war nicht verwunderlich. Josef galt doch irgendwie als ein Besonderer, ein Mensch, der nicht so war wie die meisten. Und nicht selten war er, auch davon sind wir unterrichtet, selber der Urheber von manch spassigen Gerüchten, willkommenes Futter in entspannten, belanglosen Rauch- und Arbeitspausen in der Kantine. Diese Geschichtchen und Gerüchtchen waren näher liegend und vor allem reizvoller als das Gerede bloss über das Wetter, über die Chefs, über die Bluse und Hose der neuen Sachbearbeiterin oder über die neuesten kritischen und oft gehässigen Leserbriefe an die Adresse des Tiefbauamtes.

War er vielleicht doch einer vom andern Ufer? Verkehrte er gar im alt bekannten, international bekannten und geschätzten Milieu der Stadt? Im Niederdorf? In einem ihrer Nebengassen, international bekannt? Oder war er gar ein heimlich unheimlicher Liebhaber von Kindern oder Jugendlichen? Wo und mit wem verbrachte er überhaupt seine Ferien? War er im letzten Sommer nicht in Thailand? In Thailand? Oder in Sitges, Spanien, unweit von Tarragona?

Nein, das kann nicht wahr sein. Nein, das stimmt ganz bestimmt nicht. Das ist eine bewusste und böswillige Unterstellung. Wer hat das behauptet? Wer hat da so unbedarft geplaudert? Und wenn schon! In welchem Jahrhundert leben wir denn eigentlich? Wer war das, der diese anrüchigen Gerüchte in die Welt gesetzt hat?

Er besitzt ja gar keinen Pass, unser Josef. Er besitzt tatsächlich keinen Pass. Er hat nie einen besessen und will auch nie einen besitzen. Grundsätzlich. Wisst ihr denn das nicht? Unsinn! Aber nach Sitges braucht man doch gar keinen Pass. Wirklich! Aber es ist so. Früher war das anders.

Josef hat tatsächlich die Schweiz während seines ganzen Lebens kein einziges Mal verlassen. Kein einziges Mal. Kaum zu glauben. Er ist auch kein einziges Mal in seinem Leben geflogen. Flugzeuge, Ballone und Zeppeline kannte er nur vom Sehen und Hörensagen. Auch darauf war er auf eine merkwürdige Art stolz.

Aber Patthaya gibt es doch nicht nur in Thailand, oder?

Hinter seinem Rücken wurde jedenfalls immer wieder getratscht. Geschwätzige, nicht Übel wollende Rituale seiner Kolleginnen und Kollegen, aber immer wieder durchaus ganz offen und manchmal unbedarft in seiner Anwesenheit in lockerer Atmosphäre in den Kaffee-Pausen, an der Bus- und Tramstation, bei den alljährlichen manchmal recht ausgelassenen Mitarbeiter-Ausflügen.

Nicht wenige Frauen verwöhnten ihn ganz offensichtlich auf ihre Weise, das wusste man, ohne genauer hinzusehen. Oder man hörte davon sagen. An seinen Geburtstagen vor allem, auch an seinem Namenstag und vielfach auch an Ostern, an Pfingsten, dann aber vor allem an Weihnachten.

Er war trotz allem ein treuer, unauffälliger Anhänger der Kirche geblieben.Trotz einiger verständlicher Vorbehalte. Er hatte auf jeden Fall nichts gegen den Papst, wer immer das sein mochte. Nichts gegen das Schuhwerk, das der jeweilige Besitzer des Heiligen Stuhles trug. Er war ihm ganz einfach gleichgültig, dieser Pontifex in Rom, dieser vergoldete Popanz, so äusserte er sich einmal nach einer Probe, dieser schmächtige Deutsche mit den roten Schuhen. Und der so gescheit schreiben konnte.

Aber es gab doch einige Leute, das kann man nicht bestreiten, die hatten ihre liebe Mühe mit ihm, mit unserem Josef. Er redete jeweils so viel, so ausschweifend, liess die andern kaum zu Wort kommen. Und er schien manchmal überhaupt nicht richtig hinzuhören, was die andern sagten, schaute im Gespräch nicht auf seinen Partner oder seine Partnerin sondern in die Runde, als ob er jemand erwarten würde. Er wusste so viel über so vieles und viele Bescheid. Berühmt auch sein Ausspruch: „Gott sieht alles. Dein Nachbar sieht mehr“. Hatte er da vielleicht persönliche Erfahrungen?

Und er phantasierte und dachte über so vieles nach in seinen freien Stunden, wenn er sich allein in seiner schmucken, etwas altmodisch eingerichteten Wohnung aufhielt, im grossen Schaukelstuhl oder im schon etwas abgewetzten grünen Fauteuil vor dem ausgeschalteten Fernseher, ein Glas Rotwein in Reichweite. Er sinnierte und phantasierte mehr über andere Leute und deren Leben als über sich selbst. Keine Heirat, keine Scheidung, keine Trennung, kein Liebesabenteuer seiner Bekannten und Freunde schien ihm zu gering oder unbedeutend, darüber nicht ausführlich zu berichten und hie und da selber kräftig auszumalen. Aber er moralisierte nicht. Das überliess er den andern, und das wurde auch immer wieder geschätzt. Aber er schien Gefallen daran zu haben, meistens auf sachlich erscheinende und lockere Weise die moralischen Bedenken des Zuhörers oder der Zuhörerin herauszufordernd.

Der Josef und Weihnachten. Immer wieder Anlass für besonders lose Anspielungen und viel Gelächter. Oh, du Fröhlicher! Nicht nur bei den Chorproben, beim Üben von Weihnachtsliedern. Aber dort ganz besonders. Und eben auch Anlass für kleine, anspielungsreiche Geschenke von manchen Frauen, die ihn mochten. Zum Beispiel trank er gerne gute Weine. Das war allgemein bekannt. „Rotwein ist für alte Knaben, eine von den besten Gaben“. Und er brachte diesen Spruch immer wieder vor, während seine Zuhörerschaft dazu meist schwieg. Sein ansehnlicher Keller immer wieder Gegenstand von Spekulationen und mutwilligen Anspielungen. Und Josef lachte dabei am lautesten.

Schon einige Jahre vor seiner gut vorbereiteten und begleiteten Pensionierung hatte er fast von einem Tag auf den andern ein nicht alltägliches Hobby begonnen, das zusätzlich zu reden, zu lachen und zu schmunzeln gab. Er war halt schon ein Besonderer, unser Josef, dieser Bergler, dieser bunte Hund. Man lachte in seinen Chören über ihn und mit ihm, nicht weniger als in manchen Gaststätten der Region. Man nahm ihn auf den Arm. Und er liess sich ja so gerne auf den Arm nehmen. So ein ausgefallenes Hobby! Nein, mich laust der Affe! Nicht Joggen, nein! Wer spricht da von Joggen? Josef, der Jogger. Kein Golf, kein Velofahren im modisch farbigen Renndress und künstlerisch gestaltetem Helm, kein alpines Stock-Indianertum, nein, bewahre, kein Bodybuilding, kein Yoga, kein Zen, keine finnische Sauna, keine thailändische Massage, nichts von Wellness im üblichen heruntergekommenen Sinn, nein, nichts von alledem.

Bienen!

Bienen züchten! Bienen pflegen! Honig des Lebens. Eine neue, späte Leidenschaft von Josef. Gänzlich unerwartet. Nicht zuletzt für ihn selber. Und dies ausgerechnet kurz vor seiner Frühpensionierung: Imker werden ist nicht schwer, Imker sein dagegen sehr. Bienenzüchter. Schutzgaze vor dem Gesicht. Er, der Nichtraucher. Josef ein Imker!

Er hatte sich einige Jahre vor seiner in seinen Ferien, während denen er wieder einmal seine Eltern, seinen Bruder sein Heimatdorf hoch oben in den Bergen besuchte, von einer Stunde auf die andere drei Bienenvölker angeschafft. Ohne langes Überlegen. Einfach so. Kurz entschlossen, nachdem er wenige Tage zuvor zufällig auf einer Wanderung hoch über dem Rhein einem Imker begegnet war, der ihn interessierte, der ihn faszinierte und mit dem er sich auf Anhieb gut verstand, ohne viele Worte zu brauchen. Er, der sonst so gerne drauflosredete ohne erst hinzuhören.

Bienen, Bienenvölker, Bienenköniginnen, diese für ihn wunderbaren Geschöpfe begannen ihn auf eine seltsame Weise zu beschäftigen. Eine neue, wunderbare Welt hatte sich ihm unerwartet aufgetan.
Da gab es zum Beispiel verschiedene Rassen, so lernte er bald einmal, wie bei den Kühen, bei den Schweinen, bei den Schafen, auch bei den Ziegen hoch in den Bergen. Und es gab Liebhaber, Kenner, die auf eine bestimmten Rasse schworen. Er zögerte nicht lange, er schwor ohne langes Herumsuchen und Herumfragen auf die Mellifera. Die seien unkompliziert, widerstands- und anpassungsfähig, so wurde ihm gesagt und genau das fand er so in manchen Fachbüchern bestätigt. Das waren seine Tiere. Er fühlte sich unmittelbar angezogen, verwandt.

Diese eifrigen, arbeitsamen, gut organisierten und für den Menschen zudem so nützlichen Tierchen rührten sein Innerstes, ohne dass er einen Grund dafür hätte angeben können. Er begann Fachbücher anzuschaffen, eine Fachzeitschrift zu abonnieren, suchte selbstverständlich auch im Internet und wurde fündig, besuchte Fachkurse, traf sich mit Gleichgesinnten, mit Frauen und Männern, vertiefte sich immer mehr in diese wunderbare und für ihn neue Welt, in die Welt dieser wert- und wundervollen Insekten, bewunderte und beobachtete ihr soziales und ökonomisches Verhalten, tauschte sich mit anderen Imkern und auch Imkerinnen aus, wurde bei diesem Tun angeregt, sich weiterführenden Gedanken hinzugeben. Auch Gedanken zu seinem Leben. Das war neu für ihn. Das hatte er früher nicht getan. Oder dann nur selten. Dazu hatte er bisher offenbar weder Anlass noch Bedürfnis verspürt: den letzten Dingen nachzudenken: dem Honig des Lebens.

Zu denken gab ihm anfänglich vor allem die Königin. Und die Möglichkeiten ihrer Begattung in besonderen Bienenstationen, gratis sogar. Und Stoff freilich auch für Geschichten und Witzeleien, für harmlose Anspielungen in seinem gewohnten Umkreis. Während der Pausen oder nach den Chorproben, in manchen Gaststätten, in einfachen und vornehmen Lokalen, bei festlichen Anlässen in seinem Dorf und in den Dörfern der nächsten Umgebung. Und diese Gelegenheiten waren nicht selten.
Mirjam verfolgte sein Tun interessiert, aber doch eher belustigt. Auch sie liebte seinen Honig. Noch mehr jedoch den provençalischen Lavendelhonig, den sie regelmässig im Frühling in Gordes in der Provence einzukaufen pflegte.

Josef entwickelte bei seiner Imkerei zugleich recht handfeste Überlegungen und Aktivitäten. Das hatte er wohl daheim in den Bergen hoch über dem Rhein von klein auf mitbekommen. Wo kann ich die Bienenvölker am besten platzieren, so dass sie für den Imker wie für den Mieter der Völker am meisten abwerfen? Wie und wo kann ich den Honig am günstigsten verkaufen? Natürlich vor allem und zunächst bei den Frauen vom Tiefbauamt. Auch bei den Männern. Da machte er keine Unterschiede. Aber dann auch bei den Sopranistinnen und Altistinnen in seinem Kirchen-Chor. Und er verkaufte seinen dünnflüssigen, leicht nach Teer schmeckenden Honig schon im dritten Jahr, kurz vor seiner Pensionierung, ohne Probleme bis auf den letzten süssen, klebrigen Tropfen.

Schwierigkeiten gab's eigentlich erst einige Monate nach seiner Pensionierung. Nun hatte er endlich genügend Zeit für sich, seine Bienen und seinen Chor. Als Tenor war er gesucht und umschwärmt wie die Königin bei ihren Bienen. Er war es ebenso als Imker mit seinem hellbraunen, biologisch hergestellten Honig. Niemand fragte ihn je danach, wieso er seinen Honig als biologischen Honig anbot. Das wussten seine Kundinnen und Kunden offenbar ganz einfach. Oder sie wollten es gar nicht genauer wissen. Sie vertrauten ihm. Sie glaubten daran. Und Glaube macht wenn nicht blind, so doch bekanntlich selig.

Joseph konnte übrigens, was wir jetzt endlich nachholen, ab Blatt lesen, beziehungsweise ab Blatt singen. Seit seiner Schulzeit im kleinen Bergdorf hoch über dem Rhein. Fliessend wie ein Bergbach. Und er begleitete sich dabei mit den dazu gehörenden Handzeichen, die er sich schon in der zweiten Primarklasse mühelos angeeignet hatte, spielend wie sonst allein die süssen Mädchen seiner Klasse es vermochten. Die Notenblätter oder das Gesangsbuch in der linken Hand, während die rechte Hand die Zeichen in die Luft setzte. Das „Do“ eine Faust usw.

Er konnte sich dergestalt als Chormitglied einiges erlauben, was einer Sopranistin oder gar einem Bass nicht wohl angestanden hätte. Wenn er hin und wieder mit einer leichten Fahne einige Minuten zu spät in die Probe kam, wurde er dennoch freundlich wenn auch zurückhaltender als sonst begrüsst, meist bloss mit einem Kopfnicken des Dirigenten und des Vereinspräsidenten.
Wenn jedoch ein Bass zu spät eintraf, musste er mit strafenden Blicken und in der Pause mit entsprechenden Kommentaren rechnen. Einmal wurde einem mehrmals säumigen Bariton, einem Abstinenten zudem, sogar in allem Ernst der Austritt nahe gelegt. Auch Josef fand dies ohne weiteres in Ordnung.

Josef begnügte sich nach seiner frühzeitigen Pensionierung, die ihm so ungewohnt viel freie Zeit brachte, nicht mit seinem bisherigen Chor, einem alt eingesessenen Kirchen-Chor, der den Namen eines Erzengels trug. Er meldete sich bei weiteren Chören in der Region und wurde überall sogleich gerne aufgenommen. Man versprach ihm sogar da und dort hinter vorgehaltener Hand, den jährlich zu entrichtenden Mitgliederbeitrag zu erlassen. Das wollte er jedoch nicht. Das wäre so etwas wie Korruption gewesen. Sein Ruf als zuverlässiger Tenor, als einer, der ab Blatt lesen konnte, der nur ab und zu mit einer kleinen Fahne zu spät in die Proben kam, hatte sich bekanntlich schon längst in der Gegend verbreitet.
Oder hatte Josef selbst dieses Gerücht in die Welt gesetzt?

In kurzer Zeit war Josef, erster Tenor, Mitglied bereits in drei Chören. Weitere Chöre standen an. Dirigenten und Dirigentinnen buhlten offen und versteckt um seine aktive Mitgliedschaft. Man versuchte auch unverhohlen, wie schon erwähnt, ihn zu bestechen. Nicht zuletzt auch mit guten, schweren Rotweinen aus den Reblagen über dem See, angeboten nur in den besten Lokalen, getrunken und gelagert in vielen angesehenen Häusern.

Und er sang unentwegt ab Blatt, zeichnete die entsprechenden Handzeichen mit grosser Bestimmtheit in die Luft. Selten sang er jedoch auswendig. Er beneidete all die Frauen und Männer und vor allem die Kinder, welche ohne Mühe auswendig sangen.

Aber da waren eben auch seine Bienen, seine Bienenvölker mit ihren umschwärmten Königinnen, jede sorgfältig nummeriert, die Nummer auf einem kleinen Plättchen auf dem Nacken tragend. Und sein umsichtig geführter Kampf gegen die Varroatose, das heisst gegen die Varroa-Milbe (Varroa jacobsoni) und andere Gefährdungen der Tierchen. Die Gefährdung der köstlichen und kostbaren Insekten durch Elektrosmog hielt er nicht nur für möglich sondern für sehr wahrscheinlich. In Imkerkreisen wurde darüber immer wieder diskutiert und gestritten.

In kurzer Zeit war Josef Gebieter über sechs Völker. Die Pflege und Vermietung weiterer Völker war nicht so sehr beschlossene Sache sondern vielmehr ein Vorgang, den man ruhig als organisches, ungebremstes Wachstum bezeichnen konnte. Seine Bienen, seine kostbaren Königinnen, diese wunderbaren nummerierten Tierchen, waren inzwischen in einem weiten Umkreis tätig, und dieser dehnte sich stetig aus. Verständlich, dass er froh war um sein neues Auto, das nun endlich einen genügend grossen Laderaum aufwies.
Auch der Umfang der imkerischen Aktivitäten unseres Josef wuchs in dieser Zeit unaufhaltsam. Anrufe kamen bereits von entlegenen Teilen des Landes. Imker sind ebenso gesuchte Leute wie Tenöre. Und der Honig seiner Bienen war gesucht, obwohl da und dort gemäkelt wurde, dieses Zeug hätte einen etwas merkwürdigen Nachgeschmack, Teer oder etwas Ähnliches.

Die süsse Produktion nahm trotzdem unaufhaltsam zu. Biologisch hergestellter Honig war eben noch gesuchter als der gewöhnliche. Nach dem Preis wurde selten gefragt. Man bezahlte die von Josef verlangte Summe meist ohne zu zögern.

Jedes Glas war übrigens mit einem Bio-Label versehen: eine Biene auf einem blühenden Löwenzahn. Entsprechend die Arbeit, die Sorge, die Vermarktung aber auch die Einnahmen. Er verdiente mit seinem Hobby kurz vor seiner Pensionierung bereits fast so viel wie als Beamter im Tiefbauamt.

Seine vielfältigen freundlichen bis freundschaftlichen Kontakte vor allem zu Frauen kamen ihm bei der Vermarktung seines Honigs zu Hilfe. Aber auch seine vielfältigen Kontakte zu Männern. Er scheute keine Mühe, keinen Geburts- , keinen Namenstag, sich vor allem in von Frauen besetzten oder durchsetzten Vereinen, durch „seine“ singenden Frauen, durch seine Sopranistinnen und Altistinnen vermitteln und noch weiter bekannt machen zu lassen. Das reinste Schneeballsystem. Aber in positivem Sinn. Nein, kein Schneeballsystem. Ein wachsendes Netzwerk war entstanden, eine ordentliche und fruchtbare und für alle erfreuliche Verbindung. Alles legal. Und gesund. Lebensdienlich.

Er war aber auch einer, der überall zugriff und seine Hilfe anbot, wo Not war. In Altersheimen, aber auch im weit herum angesehenen Pflegeheim an seinem Wohnort. In Turn- und Theatervereinen, in Tanz- und Trachtengruppen, in der Gruppe der unentwegt verlässlichen Alten und Hochaltrigen (über 80), bei den freiwilligen Feuerwehren, beim Zivilschutz, im Club der fröhlichen Singles und nicht zuletzt in der örtlichen GLP, der politisch aufstrebenden Partei der Grünliberalen. Er vermied es jedoch, wie wir schon längst wissen, einer politischen Partei beizutreten. Instinktiv und ganz bewusst. Auch sein Vater hatte keiner Partei angehört. Josef wollte auch in dieser Hinsicht unabhängig sein und bleiben. Und diese Haltung hat seinen Geschäften nicht geschadet. Im Gegenteil. Diese neutrale Haltung, die unabhängige, die bekanntlich auch bei den meisten Gastwirten nicht nur in dieser Gegend anzutreffen ist.

Ausgangspunkt all seiner vielfältigen und einfallsreichen Unternehmungen waren und blieben aber unentwegt seine gemischten Chöre, denen er seine hohe Stimme grosszügig zu Verfügung stellte. Schliesslich sechs an der Zahl. Er sang tatsächlich als erster Tenor schliesslich in sechs Chören. Unglaublich. Ein halbes Dutzend. Kandidat fürs Guinnessbuch der Rekorde. Überschneidungen von Chorproben, eigentliche Engpässe vor den Konzerten waren immer häufiger nicht zu vermeiden. Und das war vorzüglich im letzten Jahresviertel, wo die meisten Konzerte stattfanden. Vor allem aber im Advent.

Sein plötzlicher Tod. Wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Eine Katastrophe. Anlässlich einer leicht gereizten und anstrengenden Chor-Probe, noch ohne Orchester. „Die Schöpfung“ von Haydn. In zwei Monaten das erste von zwei Konzerten. In der grossen neugotischen Kirche über dem See. Mit Vorverkauf und Abendkasse. Garantiert wieder ausverkauft wie all die Jahre zuvor.

Die Nachricht seines Todes verbreitete sich rasch am Ort, in den Dörfern am See, auch in der nahen Stadt, wo Josef während Jahrzehnten im Tiefbauamt gearbeitet hatte.

Josef ist tot! Was ist los? Josef ist tot! Du spinnst wohl. Der Imker? Ja, der. Das darf doch nicht wahr sein. Unser Josef ist tot? Ein Unfall? Oder war er doch krank , und wir haben nichts davon gemerkt? Oder vielleicht aus Erschöpfung? Wo und wann? Während einer Probe zur „Schöpfung“? Unglaublich: während einer Probe zur „Schöpfung“.

Der Pfarrer vom Dorf suchte gleich am Tag nach dem unsäglichen Sturz von Josef erneut den Kontakt mit dem Dirigenten, dann auch mit dem Präsidenten des Kirchenchores, der den Namen eines Erzengels trug. Intensive Gespräche in der Sakristei. Intensive Gespräche auf dem gewundenen Kiesweg rund um die Kirche und wieder zurück. Vielfältige telefonische Kontakte dann auch mit einigen Sopranistinnen, die dem Verstorbenen besonders nahe gestanden. Mirjam vor allem. Telefonate auch mit einigen Altistinnen, mit zwei alten, haararmen Bässen und einem der raren Tenöre, einem Blondschopf, einem Mann, der im Chor vor allem durch seine Jugend bestach. Gespräche auch mit Frauen aus verschiedenen Vereinen in der Region, die jahrelang ihrem umtriebigen Josef den beliebten biologischen Honig abgekauft und zu Hause zum Teil in erstaunlich grossen Mengen gelagert hatten. Vorräte für Jahre. Notvorräte. Gespräche aber vor allem mit Mirjam. Und Mirjam vor allem zeigte sich sehr betroffen. Und das hatte man auch so erwartet.

Der Pfarrer zog sich in diesen schwierigen Tagen leicht erschöpft zurück in sein Arbeitszimmer. Er wollte sich in aller Ruhe und inneren Sammlung und mit dem Blick auf den See für diese spezielle Abdankung vorbereiten. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich lose beschriebene Blätter und eine Unmenge farbiger Zettelchen mit Notizen und allerhand Gekritzel. Er hatte bereits wiederholt seine etwas havarierte tiefschwarze biblische Handkonkordanz zu Rate gezogen, ein handliches Buch, dessen Rücken leider arg beschädigt, aber trotzdem auf über tausend Seiten in durchgehender Fraktur genaue Auskünfte enthielt über fast alle Wörter in der Bibel, alphabetisch geordnet. Beginnend mit „A“ (ich bin das A und O) und abschliessend mit „Zwölfmal“.

Zuvor vergriff er sich dennoch im Alten Testament in den „Sprüchen“ 6,6 und 30,15, hatte unbesonnen zunächst an Ameisen statt an Bienen herumstudiert: „Gehe hin zur Ameise, du Fauler, betrachte ihre Weise, dass du klug werdest!“ und „die Ameisen sind ein schwaches Völklein und rüsten doch im Sommer ihre Speise“.

Mit diesen Texten hätte er wirklich ohne langes Besinnen viel Besinnliches vortragen können, hätte schon einiges bereit gehabt in seinem alphabetisch geordneten Zettelkasten, kam aber glücklicherweise ohne weitere Umwege zurück auf die Bienen und zeigte sich dann umso mehr enttäuscht über die unergiebigen Stellen: 5. Mose 1.44 , Psalmen 118.12. und schliesslich auch Jesaja 7.18.

Hier im Buch der Richter endlich, da war doch so etwas wie Fleisch am Knochen. Aber was sollte er mit Simson, diesem alttestamentlichen Herkules, der zunächst seine Eltern dazu anhält, für ihn in Thimnath um eine hübsche Frau der Philister zu werben, und der einen Löwen mit blossen Händen tötet und später in dessen verfaulendem Körper einen Bienenschwarm vorfindet, der sich am königlichen Aas gütlich tut?

Honig ist das Zauberwort. Nicht Biene.

Was für ein Reichtum an Stellen in der Bibel, wo vom Honig die Rede ist, angefangen bei 1. Mose 43.11 bis zur Offenbarung 10.9. Wie hatte er diese wunderbaren Stellen in der Bibel verfehlen können? Jetzt füllten sich seine Notizblätter und farbigen Zettelchen im Nu. Ja, er musste nun sogar vieles weglassen, streichen, was da alles mit Honig zu tun hatte. Überflüssiges. Das bereitete ihm einige Sorgen und harte Arbeit, befeuerte aber zugleich seine Entdeckerfreude. Er hatte auf einmal Stoff und Anregungen für eine ganz Reihe von Predigten. Ein willkommener Vorrat für manche Gottesdienste - und nicht nur für Abdankungen.

Die Abschiedsfeier in der grossen neugotischen Kirche über dem See, die sich wenigstens bei den alle zwei Jahre stattfindenden Konzerten jeweils bis auf den hintersten Platz füllte. Der Abschied, die Abdankung, die Trauerfeier für Josef, den viel beschäftigten ersten Tenor in sechs Chören, den schrulligen Bergler, bunten Hund und erfolgreichen Imker.

Der grosse Abschied an einem aussergewöhnlich milden, beinahe fröhlich stimmenden Nachmittag. Der Pfarrer im eifrigen Gespräch mit dem Dirigenten und Präsidenten des Kirchenchores, der den Namen eines Erzengels trug. Letzte Besprechungen vor dem offiziellen Trauerakt. Getuschel und Gerede vor und hinter der Kirche. Auch im Innern des Gotteshauses. Ein unabsehbarer Strom von Menschen. Ein Gewimmel. Unerhört. Noch nie da gewesen. Dieses Gesumse. Vor allem Frauen, ältere Personen. Aber da waren aber auch einige junge Leute in zerrissenen Jeans und farbigen Hemden und T-shirts. Eine Frau mit einem Säugling auf dem tätowierten Arm, der masslos in die Luft hinausschrie. Zwei junge Frauen in langen schwarzen Röcken und schwarzem Kopftuch.

Schon gleich nach Mittag hatte der Strom der Besucherinnen und Besucher eingesetzt, obwohl die Trauerfeier erst um Viertel nach zwei beginnen sollte. Ungewohnt diese Menschenmassen. Unglaublich. Dieses Summen. Brummen. Dieses Gewimmel. Wie an einem Volksfest. Etwas ruhiger. Feierlicher. Unübersehbar, unüberhörbar dieses Summen und Brummen.

Sechs Chöre mit ihren Dirigenten und Dirigentinnen haben sich sonntäglich angezogen aufgemacht. Alle wollen sie heute das Ihre beitragen, dem Josef ihren Dank abstatten, seiner gedenken: dem singenden Imker, dem imkernden Sänger, dem Hansdampf in allen Gassen, dem lustigen Single, dem bunten Hund, dem Mann aus den Bergen. Dem Helfer in manch stiller Not. Singend geht das für viele Menschen besser als redend. Anrührender. Vor allem anrührender. Haydn, Bach, Händel. So nimm denn meine Hände!

Grosser Gott, wir loben dich!
Die Kirche gleicht einem Bienenhaus. Selbstverständlich haben sich auch einige Imker und Imkerinnen eingefunden, zum Teil mit ihren schützenden Netzen, die sie entweder in Händen oder gar vor dem Gesicht tragen. Niemand raucht. Der würzige Weihrauch tut's auch. Es summt und brummt. Einige müssen niesen. Bald leise, bald laut. Herbeigeeilt auch die Mieter all der Bienenvölker, die von Josef während vieler Jahre unermüdlich gepflegt wurden, herbeigeeilt auch zahlreiche Käuferinnen und Käufer seines biologischen Honigs. Junge und Alte aus allen möglichen Vereinen. Liebhaber und Liebhaberinnen seines biologisch hergestellten Honigs, dünnflüssig, leicht nach Teer schmeckend, abgefüllt in Gläsern mit dem ansprechenden Bio-Label, einer Biene auf einem blühenden Löwenzahn.

Die nächsten Verwandten von Josef, sein Bruder, seine Vettern, Basen, Nachbarn aus den Bergen stehen bereits um ein Uhr vor den beiden Eingängen zur grossen Kirche, obwohl die zwei vordersten Bankreihen für die engsten Angehörigen reserviert und entsprechend ausgeschildert sind.

Für viele der Trauernden und Anteilnehmenden ist es zu spät, einen freien Sitz zu ergattern, obwohl auch sie frühzeitig gekommen sind. Sie finden keinen freien Sitzplatz mehr. Sie bleiben im Gedränge an den Wänden entlang eingeklemmt zwischen anderen Trauernden, inmitten von Weihrauch-, Schweiss- und Parfümschwaden, im angeregt erregenden Gesumse und Gebrumme. Sie könnten sich fallen lassen, sie würden gehalten.

Grosser Gott, wir loben dich!

Musikvorträge. Klassisches und Volkstümliches. Auch ein bisschen Pop. Laut und leise. Der örtliche Jodelverein, verstärkt durch zwei stämmige Alphornbläser in Tracht und Trauerflor. Unvermeidlich und von allen erwartet die Vorträge der Chöre, die sich gegenseitig zu überbieten scheinen. Auch in ihrer äusseren Aufmachung. Auch mit dem Trauerflor. Dazwischen immer wieder mächtige Orgel- Akkorde: Bach und Buxtehude.
Gewählte und auffallend langsam und leise gesprochene Worte des Priesters, ruhig vorgetragen, der den ungewohnten Anblick von so unglaublich vielen Menschen unter sich, dicht gedrängt auch den Wänden nach, offensichtlich geniesst. Seine Äuglein glänzen.

Grosser Gott, wir loben Dich.

Mit keinem Wort spricht der Priester von Bienen, von den naturgegebenen Verpflichtungen der Bienenkönigin oder von Bienenwaben oder gar von Imkern oder Drohnen, sondern schlicht und einfach, aber in vielfachen Wendungen, vom herrlich süssen Honig und von Honigprodukten jeder Art bis hin sogar zum Met, der in so vielen Kreuzworträtseln erscheint, jenem sagenhaften Genuss- und Kulturgut der alten und neuen Germanen. Er spricht von der allgemeinen Beliebtheit des Verstorbenen, von dessen unermüdlichem Einsatz bei vielen Festen und populären Anlässen des Dorfes und auch bei denen in der nahen Umgebung. Sein unvergessliches Mitwirken bei vielen offiziellen und privaten Anlässen während vieler Jahre. Seine allseits bekannte aussergewöhnliche Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. Seine Hilfsbereitschaft oft auch im Stillen und Verborgenen. Aber nicht nur.

Grosser Gott, wir loben Dich. Und wir preisen Deine Stärke.

Der Pfarrer kann es sich jedoch nicht verkneifen, nach mehr als zwei Stunden zum Abschluss der würdigen Abdankung aus dem 19. Psalm vorzulesen und den Bibeltextext kurz zu kommentieren:
„Die Furcht des Herrn ist rein
und bleibet ewig;
die Rechte des Herrn sind Wahrheit,
sind allzumal gerecht.
Sie sind köstlicher als Gold,
ja viel feines Gold,
und süsser als Honig und Wabenseim“.

Grosser Gott, wir loben Dich.

Aber da hören viele schon nicht mehr hin. Da und dort ist ein nicht mehr so junger Teilnehmer bereits eingenickt. Die ungewohnte Wärme. Schwüle Wärme. Und dieser betäubende Weihrauch, dieser würzige Nasenschmaus macht manchen Trauergast schwindlig.

Und über dem Meer von Blumen, Bändern und Kränzen hört man plötzlich ganz schwach, dann immer stärker, ein Summen und Brummen. Es summt so seltsam. Und das Summen und Brummen wird immer stärker.

Bienen!

Bienen?

Lauter Bienen. Ein ganzer Schwarm. Ganze Schwärme. Als wär's im Frühling auf dem Land draussen, wenn die Kirsch- und Obstbäume blühen und nicht im Vorfeld des Advents hoch über dem See. Schon drängen einige Besucher aufgeschreckt und leicht verwirrt hinaus ins Freie, reiben sich die Augen, verwerfen ihre Hände, um irgend etwas Lästiges abzuwehren, nehmen da und dort das Taschentuch hervor, fuchteln mit den farbigen Tüchlein wild in der Luft.

Auffallend ruhig die Imker und Imkerinnen mit dem schützenden Netz vor dem Gesicht. Einer ruft leise nach der Feuerwehr. Dann laut. Eine Frau schreit noch lauter. Die Mannen der Feuerwehr sitzen ja fast vollzählig in der Kirche. Einige Besucher greifen nach kurzem Zögern nun doch zu ihrem Handy. Auch einer von der freiwilligen Feuerwehr, der ein künstliches Vergissmeinnicht im Knopfloch trägt. Die Unruhe wächst. Ein Sturm scheint heraufzuziehen. Ein Tornado. Ein Wirbelsturm. Unheimliches Ausgesetztsein. Ein Übermächtiges kommt heran. Advent!

Doch was geht da überhaupt vor sich? Ein Wunder? Etwas Ungewohntes, Unerwartetes, Schreckliches. Unzählige Bienen drängen sich immer näher zusammen, ballen sich zu einer grossen, dunklen Wolke um ihre Königin herum und lassen sich, das darf nicht wahr sein, das kann nicht wahr sein, noch immer heftig summend auf dem Kopfende des mit Blumen geschmückten Sarges nieder. Die Luft scheint zu vibrieren.

Das Summen wird leiser. Noch leiser. Ganz leise. Die Restmenge der Trauernden wie gebannt, hört angestrengt in die Weite. Wartet leicht benommen ergriffen auf das, was noch kommen würde.

Und da: ein durchdringender Schrei. Am Ende der langen, allzu langen und zuletzt so erregend aufregend erschreckenden Abschiedsfeier. Ein gellender Schrei.

Plötzliche Stille.

Aaaamen!!!
Manche, die sich ängstlich zwischen den Bänken und den Wänden entlang gekrümmt haben, als ob sie sich schützen wollten, schrecken auf, schauen erschreckt um sich. Wozu dieser Lärm? Woher dieser Schrei? Wer hat da überhaupt so laut in die Weihrauchschwaden hineingeschrien?

Später erst erfuhren es die Trauergäste, während sie sich draussen vor dem Gotteshaus unterhielten, entspannt jetzt, ungläubig den Kopf schüttelnd.

Der Priester war, wie er später leicht aufgeregt mitteilte, offenbar kurz vor dem Amen von einer abtrünnigen wild gewordenen Biene in den erhobenen linken Zeigefinger gestochen worden.

Aaaamen!!!

Nach dieser denkwürdigen Abdankung, auf dem üblichen Kontrollgang unterwegs in der Kirche, die sich inzwischen geleert hat, Kontrollgang auch durch die Nebenräumen und dann auf dem Kiesweg um das neugotische Gotteshaus herum, um abschliessend erneut das Innere zu überprüfen, bemerkt der Sigrist in der Mitte der dritten Reihe links zwischen den leeren Bänken etwas, das ihn aufmerksam hinschauen und dann zusammenfahren lässt. Ein menschlicher Körper. Hatte er den übersehen? Ohne Zweifel eine Frau. Er bekreuzigt sich hastig gleich zweimal, greift nach dem Rosenkranz in seiner linken Hosentasche bevor er noch einmal etwas genauer hinblickt.

Entschlossen tritt er näher. Ein zartes menschliches Wesen zwischen den Bänken: eine Frau, blondhaarig, nicht mehr die jüngste, liegt hier zusammengekauert auf dem Boden, auf den grauen steinernen Fliesen der grossen neugotischen Kirche. „Wie in einem Mausoleum“, geht es dem Sigrist durch den Kopf, „wie in einem Mausoleum“. Neben dem leblosen Körper ein kleiner Strauss Lavendel, von zwei drei Bienen nervös umschwärmt. Eine kleine lederne Handtasche, die sich vermutlich beim Hinfallen geöffnet hat.

„Maria! Unsere Mirjam! Maria! Liebe Maria!“ haucht er mit kehliger Stimme, so dass er selber darob erschrickt. „Maria!“ Mit zitternder Hand fährt er ihr zärtlich übers blonde Haar, über ihre schmalen Schultern. „Mirjam“, sagt er nochmals und scheucht die summenden Bienen sorgsam aber entschieden weg.

Erst jetzt schaut er neugierig ins Täschchen, das offen neben Mirjam liegt. Zwei kleine leere Honiggläser mit dem auch ihm bekannten ansprechenden Biolabel: eine Biene auf einem blühenden Löwenzahn.

Diese Gläser wollte sie schon vor Wochen ihrem Josef zurückbringen. Zur nächsten fälligen Füllung. Der Lavendelhonig aus der Provence war ihr ausgegangen. Zum ersten Mal.

Der Sigrist setzt sich benommen auf die nächste Bank, atmet tief, faltet seine Hände, prüft unwillkürlich, ob sein Rosenkranz noch in seiner linken Hosentasche sei, bewegt stumm seine Lippen. Er glaubt, im Boden zu versinken. Dann greift er in seine rechte Rocktasche und entnimmt ihr sein Handy, unfähig, die richtige Nummer zu wählen.

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