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MARIA

Von der Täterschaft keine Spuren. War da vielleicht mehr als einer am Werk gewesen? Eher unwahrscheinlich. So die Meinung der Polizei.

Beinahe wäre der Diebstahl unbemerkt geblieben. Und war das überhaupt ein Diebstahl? Hatte vielleicht Maria selbst sich diesen Scherz erlaubt?

Auch die am späten Abend so gegen zehn herbeigerufene Polizei - zwei junge kräftige Männer – schien vorerst ratlos, verhielt sich entsprechend merkwürdig passiv, beinahe gelangweilt, wie später die Frau S. Entrüstet feststellte, eine Mitbewohnerin vom Untergeschoss, die wie zufällig anwesend war.

Alles erschien für die angerückten zwei Polizeibeamten unberührt, keine Auffälligkeiten, das grosse Bett mit den zwei Sascha-Puppen auf dem grossen roten Kissen am Kopfende, die Gestelle an zwei der Wände, die leicht nach unten durchgebogenen Tablare voller Bücher, der Schaukelstuhl, der matt glänzende chinesische Seidenteppich an der Wand gegenüber dem Fenster, unberührt auch die wie immer unverschlossene Haushaltskasse in der Schublade des kleinen, wackeligen Küchentisches, ein zierliches Erbstück wie die alte mit gemalten Rosen verzierte Küchenuhr an der Wand neben dem Fenster, die schon vor Jahren ihren Dienst eingestellt hatte.

Möglich, dass die Täter einen Schlüssel zur Wohnung von Maria besessen hatten oder der Täter, der Dieb oder die Diebin. Aus welchen Gründen auch immer hatte es die Täterschaft unterlassen, die Wohnungstüre zu schliessen, während sich einige wenige Verwandte, Bekannte, Freundinnen und Freunde von Maria in der nahen Kirche zu einer schlichten und bewegenden Feier trafen, Abschied zu nehmen, Abschied von Maria, weit herum bekannt und wohlgelitten von den meisten.

Niemand von diesen Personen hätte von sich sagen mögen, diese Maria näher gekannt zu haben.

Die Gerüchte, die manchmal unfreundlichen Verdächtigungen im Haus und im Quartier waren nur selten bis zu Maria vorgedrungen. Und wenn schon - sie schien sie nicht zu beachten.

Man kannte sie im Haus wie man sich eben so kennt in solchen Mietshäusern, wo man sich am einfachsten und ohne Bedenken übers Wetter unterhält, über Gesundheitliches oder vorzüglich über fremdes Glück und Unglück. Man kannte sie im Quartier. Man kannte auch ihren Namen. Man grüsste, wenn man sich unterwegs begegnete.

Maria war eine freundliche, leutselige Frau. Sie lächelte, auch wenn es ihr wieder einmal nicht so gut ging. Vielen wurde es geradezu warm ums Herz, wenn sie ihr begegneten. Und einige liebten sie. Vor allem Männer. Aber nicht nur. Auch Frauen. Auch Frauen, die sich als Männer fühlten, Männer, die in Frauenkleidern zu ihr kamen. Einer nannte sie Loreley, ein anderer Elsa. Maria Loreley, Maria Elsa. Eine fiel dabei besonders auf, etwa gleichaltrig wie Maria, stets auffällig gekleidet, laut parfümiert und entsprechend geschminkt. „Die mit den auffällig gelockten roten Haaren und der riesigen Sonnenbrille auf der markanten Nase“, so hiess es immer wieder, am häufigsten vermutlich aus dem Munde von Frau S., Mitbewohnerin im Untergeschoss.

Maria war nicht das, was man eine Schönheit nennt. Keine Spur von Glamour, wie man das heute zu nennen pflegt, nichts da von Aufmerksamkeit heischendem äusserlich wirkendem Glanz. Für viele ihrer Freunde und Bekannten ging von ihr ein Zauber aus. Eher unauffällig und brav erschien sie den meisten, die nicht näher mit ihr zu tun hatten. Vom Schminken hielt sie jedenfalls nicht viel. Das Rouge auf den Lippen mochte sie lieber bei anderen Frauen, vor allem bei den jungen, bei denen, die arglos aufgeregt ihre ersten amourösen Abenteuer suchten. Ihr genügte eine einfache Crème, ein preisgünstiges Déodorant und die in Gordes oder an andern Orten in Frankreich erstandene Lavendelseife. Etwas brav wirkte sie in ihrer ganzen Aufmachung, sportlich, aufs Praktische ausgerichtet. Dennoch ging, mannigfach bestätigt, eben ein Zauber von ihr aus: ihr Gang, ihr strahlender Blick, ihr Lächeln. Und vor allem ihre helle Stimme.

Maria war da unter all den vielen andern Menschen und gehörte doch nicht so recht dazu.

Ihr plötzlicher Tod hatte die Leute im Haus und im Quartier gehörig aufgeschreckt und nicht nur tagelang sondern während Wochen beschäftigt oder noch länger.

Die Zeitungen berichteten ausführlich: Maria Sch., ledig, Schweizerin, rüstige Frührentnerin, zu Fuss auf dem Weg nach Santiago de Compostela, Opfer eines Verkehrsunfalls an einem sonnigen, verkehrsarmen Sonntagmorgen im Süden von Frankreich, in der Nähe von Le Puy-en-Velay. Ihr Rucksack nur mit dem Nötigsten gefüllt sowie mit drei Stück Lavendelseife und einem kleinen Glas Lavendelhonig. Der fehlbare Lenker: ein dreiundfünfzigjähriger Franzose, alkoholisiert, ein gefährlicher Einbrecher, ein Halunke offenbar, ein mehrfach rückfälliger Krimineller, ein Abwegiger, ein Psychopath, hatte das Motorrad einen Tag zuvor in der Schweiz vor dem Rathaus in Porrentruy gestohlen. Der Täter, drei Jahren zuvor wegen schweren Raubs in Hamburg zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt, hatte auf unerklärliche Weise aus der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel entweichen können. Auch darüber hatten die Zeitungen ausführlich berichtet, hatten entsprechende Bilder gezeigt und erwartungsgemäss routiniert kritische Fragen an die Öffentlichkeit gerichtet, Fragen zum Justizvollzug in Hamburg im Vergleich zu dem in der Schweiz. Fragen auch zur öffentlichen Sicherheit. Das gesunde Volksempfinden wurde zitiert. Die Frage der Todesstrafe neu aufgeworfen.

Sein Ziel, das Ziel dieses gefährlichen Franzosen, so ein Mitgefangener aus der Ukraine: einmal im Leben nach Santiago de Compostela, bevor es zu spät sei. Wenn möglich an einem Tag ohne Regen dort ankommen. Aber sonniges Wetter ist bekanntlich rar in dieser Ecke Spaniens.

Silvia, die um drei Jahre jüngere Schwester von Maria - auch sie hatte erschüttert und schwarz verschleiert an der Trauerfeier teilgenommen - bemerkte den Verlust, den vermuteten Diebstahl noch am selben Abend. Neugierig war sie nach der bewegenden Abdankung eilig in die Wohnung ihrer Schwester zurückgekehrt. In ihrer Aufregung konnte sie sich später, bei der Befragung durch die Polizei, nicht erinnern, ob die Wohnung offen oder verschlossen war. Sie befand sich jedenfalls in ungewohnt grosser Eile und Aufregung, endlich einmal ungestört zu erfahren, was ihre Schwester all die Jahre geschrieben hatte: Tagebücher. Nur wenige wussten davon. Niemand hatte je darin gelesen ausser die Autorin selbst: Maria Loreley, Elsa, Maria die Seltsame.

Die Tagebücher, vier an der Zahl, alle von demselben Format, sorgfältig lila eingebunden und seit Jahren sorgsam auf dem untersten Tablar des Büchergestells über dem grossen Bett im Schlafzimmer platziert. Alle vier Tagebücher waren weg und blieben verschwunden, so plötzlich und unerwartet wie Maria selbst. Und diese Tagebücher enthielten auf Hunderten von Seiten die von Hand geschriebenen Eintragungen von Maria.

Wer hatte sich dieser Tagebücher bemächtigt? Und weshalb? Oder hatte Maria diese Tagebücher vor ihrer Wanderung nach dem verheissungsvollen Santiago de Compostela versteckt, weggeschlossen oder gar selber zerstört?

Fragen über Fragen, auf welche auch die Polizei keine Antwort wusste. Sie am allerwenigsten.

Maria legte die Perücke aus echtem Haar, das dem dunkelblonden Ton ihrer eigenen, ursprünglichen sehr nahe kam, jedoch etwas fülliger wirkte, in den etwas schäbigen, hellbraun lasierten Wandschrank aus Tannenholz in ihrem Schlafzimmer und stülpte sich den Turban aus beigem Musselin über den kahlen Schädel, zog aufs Geratewohl ein Buch aus dem überfüllten Gestell über dem breiten Bett, setzte sich in den Schaukelstuhl daneben und begann zu blättern. Überrascht bemerkte sie, dass sie dieses Buch - vor einigen Monaten neugierig gekauft und nur flüchtig überflogen - völlig vergessen hatte. Sein Titel:„Santiago, Santiago....Auf dem Jakobsweg zu Fuss durch Frankreich und Spanien“. Sie hatte es in ihrer Buchhandlung in der Stadt am See gekauft neben anderen über erotische Phantasien und Abenteuer, mit Reiseberichten von Asien, Nordamerika und dem Südpol. Zwei Werke auch von Annemarie Schwarzenbach: „Tod in Persien“ und „Orientreisen“.

Sie hatte es also rein zufällig in die Hand bekommen: das Buch von Hans Aebli, in dem er kurz vor seinem überraschend frühen Tod über seinen Jakobsweg geschrieben hatte, über seine bedenkliche und erlebnisreiche Wanderung nach dem verheissungsvollen Santiago de Compostela, der Regenecke von Spanien.

Sie hatte von Freunden und Bekannten, die in Schulen, Heimen, Spitälern oder Sozialberatungsstellen tätig waren, manches über diesen eigenartigen, vielseitigen und arbeitsamen Psychologen und Pädagogen vernommen, besonders über einige seiner Eigenheiten: sein auffällig heftiges, bekräftigendes Kopfnicken zum Beispiel, wenn seine Seminaristen und Seminaristinnen eine ihn befriedigende Antwort auf eine seiner kniffligen Fragen gefunden hatten.

Ihn selber aber hatte sie weder je gesehen noch gehört noch eine seiner zahlreichen Bücher gelesen. Aber sie wusste einiges über ihn, über sein Doktorat bei Jean Piaget in Genf, auf das er selber sehr stolz war, seine Dozententätigkeit am Oberseminar, das sich in den alten provisorischen und dann doch so beständigen Baracken in den Parkanlagen des Kantonsspitals unweit der „Pathologie“ entfaltete. Sein eifriges pädagogisches Wirken dort unter dem patriarchalischen Rektorat des Kleinjogg-Nachkommen Walter Guyer. Zwischenstationen in Saarbrücken und Berlin. Seine Tätigkeit in der kleinen aber feinen Konzil- Stadt am Bodensee. Mitbegründer der dortigen Universität, bevor er dann an die von Bern wechselte, und dies in einer Zeit mit aufregenden und aufwühlenden Momenten: Revolte der Studenten, Blossstellung der antiautoritären Erziehung, Kampf gegen lebensfeindliche Machtstrukturen, Heimkampagne, überspanntes Demokratieverständnis, unbändiger Drang nach frei gewählter, kreativer Lebensführung, Stimm- und Wahlrecht endlich auch für die Frauen, sexuelle Erfüllung nicht nur für die Männer. Echt sein. Existentielle Erfahrungen anstreben. Fremde Erfahrungen nachvollziehen. Authentisch sein.

Selbstverwirklichung.

Man redete und träumte damals nicht nur von Basisdemokratie, man übte sie gleich aus, wo immer anmassende Autoritäten am Werk zu sein schienen, wenn strukturelle Gewalt vermutet wurde, also mit besonderer Vorliebe an vielen Universitäten und an vermutlich allen Schulen für Sozialarbeit. Die Hippies. Ernüchterung und Zorn nicht nur in den USA vor allem über den unsäglich Krieg in Vietnam. Studentenunruhen, antiautoritäre Begeisterung und entsprechende Experimente in vielen Familien, in angeblich neuartigen familienähnlichen Gemeinschaften und in manchen Schulen, missionarisch und entsprechend hoffnungsfroh und oft in guten Treuen wissenschaftlich begleitet. Der Begriff der Patchwork-Familie wurde Allgemeingut. Bestseller in jenen aufregenden Tagen: Alexander Sutherland Neill mit seiner jedoch bereits 1921 gegründeten Internatsschule Summerhill.

Hans Aeblis Buch über seine Bewanderung des Jakobswegs hatte sie tatsächlich mehr als einmal Mal zu lesen begonnen, aber nie zu Ende geführt. Andere Bücher lockten mehr, befriedigten ihren Lese- und Erlebnishunger rascher und nachhaltige: vor allem erotische Literatur. Immer wieder erotische Literatur. Nicht nur auf deutsch. Je krasser und ausgefallener desto lieber. Besorgte Autoritäten sprachen hierbei offen und oft heftig abwertend von Pornographie, gar von Pornokratie, zersetzend, verabscheuungswürdig, zu verbieten. Andere widersprachen und argumentierten ebenso heftig mit eindrücklichen Zeugen, vor allem mit Alfred Kinsey, aber auch mit grossen Künstlern, Klassikern: Goethe, Mozart, Wagner, Picasso, Courbet und viele andere mehr.

Maria verabscheute dieses wissenschaftlich anmutende Wort. Das, was das Wort Pornographie meinte, war für sie nichts Anrüchiges oder gar Unmoralisches, es sei denn, es verherrlichte oder verteidigte die Gewalt oder sexuelle Beziehungen mit Kindern und Tieren. Sympathie, menschliche Nähe, Zärtlichkeit, Rücksichtnahme, Zuneigung...... die Liebe war für sie das Entscheidende. Und sie kannte manche zutreffenden Stelle in der Bibel. Sie hatte auch die Bücher der von einigen als ketzerisch beurteilten katholischen Theologen Hans Küng und Eugen Drewermann gelesen und sich darüber gefreut: Jungfrauengeburt und Auferstehung, Interpretation von Märchen.

Je offener, je derber die Sprache, desto befriedigender für Maria. So ganz anders als in ihrer Familie, in der Gespräche über Menschliches, Geschlechtliches nicht üblich waren. Sie waren verpönt, unchristlich, des Teufels. Und immer wieder diese Angstmacherei mit dem Fegefeuer nicht nur durch ihre Eltern sondern auch in der katholischen Unterweisung. Während Jahren hatte sie deswegen unter Alpträumen gelitten. Regelmässiges zwanghaftes Beichten als kleines, schüchternes Mädchen, das doch einfach nur ein guter Mensch sein wollte. „Mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“

Ihre erotische Bibliothek: Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen vor allem. Daraus las sie ihren Freunden, Bett- und Teppichgenossen auf deren Wunsch hin vor. Manchmal liess sie sich auch vorlesen. Weder als Ritual noch zwanghaft. Es musste für sie einfach stimmen, wie sie sich ausdrückte. Und jedes Mal war sie erneut gespannt auf die Reaktion ihrer Partner oder Partnerinnen. Auf die jeweilige Stimmung kam es ihr an. Carpe diem! Und dann tat sie ungezwungen, was ihr gerade passend erschien und hoffentlich ihr und den andern ungetrübte Freude bereiten würde. Aber doch immer wieder auf Wunsch ihrer Besucher und Besucherinnen hin. Ab und zu vor, dann auch während und sehr selten nach dem zärtlichen, besinnlichen, manchmal wilden, ausgelassenen liebenden Beisammensein mit einem ihrer Besucher oder mit einer ihrer Besucherinnen. Und das waren nicht wenige.

Ausser in der kurzen Zeit von drei Jahren, während der sie Tisch und Bett mit Jakob teilte. Dieser Mann, einige Jahre jünger als sie, war nach sehr kurzer Zeit des Angewöhnens von einem Tag auf den andern in ihre Wohnung gezogen. Sie lebe nun „in Sünde“, wie sie schalkhaft ihren Kolleginnen und Kollegen sagte, die als kleines Mädchen so strenge Katholikin, unverheiratet im selben Haushalt zusammen mit ihrem Jakob, einem Innenarchitekten und offensichtlichen Schwerenöter und Nichtkatholiker. Ein Seltsamer auch er, so das Urteil von einigen, die ihn kannten. Ein merkwürdiger Kerl, so die Leute im Haus und im Quartier. Aber er tat ja niemandem etwas zuleid. Ein anständiger Mensch. Und er grüsst doch jedes Mal so freundlich. Und meist als erster.

Ihr Interesse am Jakobsweg war jedoch keineswegs völlig erlahmt, auch ihr Wunsch nicht, diesen Weg selber einmal unter die Füsse zu nehmen, ganz allein, ohne Freund oder Freundin, ohne Lebenspartner, ohne ihren Jakob, mit dem sie in Sünde lebte. Aber sie wusste, dass man auf den Wegen nach Santiago de Compostela selten lange auf Mitgänger oder -gängerinnen warten musste. Doch darüber machte sie sich keine weiteren Gedanken. Geniesse den Augenblick auch hier! Carpe diem!

Sie besass schon lange einen durchaus brauchbaren, etwas altmodisch robusten Rucksack, wasserdicht, ein Weihnachtsgeschenk ihrer Eltern, ein Jahr nachdem sie von daheim weggezogen war, obwohl diese immer wieder den Lebenswandel ihrer Tochter beargwöhnten, ihr Abwenden von der katholische Kirche, kaum richtig erwachsen, nicht verstanden und offen beklagten. Sie beteten, hofften trotz allem unentwegt auf einen braven, tüchtigen und gläubigen Schwiegersohn, seriös und selbstverständlich vor allem, was sie „gut katholisch“ nannten. In sehnsüchtiger Bangigkeit hofften sie auf Nachwuchs, auf muntere Enkelkinder. Diesen Segen Gottes wünschten sie sich während Jahen herbei. Vergeblich.

Maria erfuhr vieles von den Wünschen und Verwünschungen ihrer Eltern über den Umweg von Drittpersonen, die sich ihrerseits sorgenvolle Gedanken machten über Marias Lebensführung als unverheiratete Frau, für die es lustvoll und selbstverständlich war, mit einiger Verwegenheit und Frische Freiräume für sich zu schaffen und nicht so konservativ zu leben wie ihre ach so fromm sein wollenden Eltern, die geneigt waren, in jedem Geistlichen fast einen Heiligen zu sehen. Aber da verstörten bereits erste Meldungen über Verfehlungen von Geistlichen an Nonnen und Kindern und Jugendlichen. Von raffinierten Vertuschungen erfuhr die Welt, dass fehlbare Geistliche im Notfall einfach versetzt wurden, dass Anklagen vertrödelt wurde, bis es zu spät war für eine Verurteilung. Und immer wieder das auch in den Kreisen der Mafia geübte solidarische Schweigen der Kirchenleute, die berüchtigte omertà.

Merkwürdigerweise hatte Maria bereits einige Male zusammen mit einer Freundin, unverheiratet wie sie - in einer geführten Reisegruppe - einige der unzähligen berühmten rabenschwarzen Madonnen besucht, einige Male Einsiedeln, dann auch Tschenstochau, Jasna Góra, Montserrat, die Kapelle Maria-Loretto am Wörthersee, Brünn.

Maria fühlte sich auf unerklärliche Weise besonders zu dieser schwarzen Jungfrau in Einsiedeln hingezogen. Und sie wunderte sich, dass es gar so viele waren, und dass auch das Jesuskind von derselben Schwärze war wie seine Mutter. Der Gründe gab es einige, wie sie in Broschüren, Büchern und im Internet nachlesen konnte.

Immer wieder stellte sie sich vor, einmal im Frühling oder Frühsommer nicht schon von Konstanz oder Einsiedeln aus den Jakobsweg unter die Füsse zu nehmen, sondern erst von Le Puy in Südfrankreich über die Via Podensis, einer der drei klassischen Pilgerwege nach Pamplona, um von dort schliesslich nach dem verheissungsvollen Santiago de Compostela zu gelangen. Wenn möglich nicht bei strömendem Regen.

Ihre um drei Jahre jüngere Schwester hatte ihr die Perücke kurz vor Weihnachten ins Spital gebracht - statt einem besinnlichen Buch, Blumen oder einer Süssigkeit.

Aber Maria hatte sich bereits im voraus eine solche herstellen und anpassen lassen. Früher für sie eine Grauen einflössende Vorstellung: die eigenen Haare zu verlieren. Doch der Kauf der erstaunlich teuren Perücke erfolgte dann in einer seltsam gehobenen Stimmung fast wie beim Kauf eines neuen Büstenhalters oder eines weiteren modischen Slips, womit sie nicht so sehr den aktuellen Freund und Bettgenossen überraschen sondern vor allem sich selber Vergnügen bereiteten wollte. Freute sie sich selber, konnte sie andern Menschen eher freudig und offen begegnen. Und sie wollte ja beinahe triebhaft sich und den andern Menschen Freude bereiten, Streitereien vermeiden, Frieden stiften. „Freude bereiten zahlt sich aus“, sagte sie sich immer wieder, die noch nie in Hawaii war, nichts von Ho'oponopono wusste. Und ihr Bestreben zahlte sich aus. Nicht immer ungetrübt. „C'est la vie!“ sagte sie dann, ohne ihre Lebensfreude und Zuversicht zu verlieren. Zum vollen Leben gehöre auch das Dunkle, das Schwarze, das Leid, schmerzliche Missverständnisse, Enttäuschungen, Krankheiten und der Tod.

Sie erinnerte sich immer wieder an den Ausbruch ihrer Erkrankung. Merkwürdig bloss, dass sie damals unterliess, jene leidvoll kritische Phase ihres Lebens ihrem Tagebuch anzuvertrauen..

Es war der letzte Sonntag im November. Sie freute sich auf das Konzert in der Tonhalle in der grossen Stadt am See, Werke von Händel und Mozart. Sie freute sich zunächst auf das übliche „Vorspiel“, wie sie das nannte: auf die ungestörte Bahnfahrt. Da konnte sie das Programm und allfällige Kommentare zum Konzert ungestört nachlesen, ganz für sich allein.

Beim ausgedehnten Bad in der Wanne, das einem solchen Konzertbesuch jeweils vorauszugehen pflegte, spürte sie plötzlich leichte Schmerzen in der rechten Brust oder vielmehr ein Beissen, ungewohnt und unangenehm. Aber nicht störender als das plötzliche Jucken oder Beissen bei der im vorigen Frühjahr ausgebrochenen Allergie nach dem Genuss von herrlich frischen Erdbeeren. Vorerst schenkte sie dieser Störung keine weitere Aufmerksamkeit. Sie war alles andere als zimperlich. Nach dem Bad schaute sie wie gewohnt in den Spiegel, vermeinte einen feinen roten Streifen auf ihrer rechten Brust zu sehen. Sie begann zu reiben. Dann forderte sie ihren Jakob beiläufig auf, er solle sie daran erinnern, wenn sie nach dem Konzert heimkomme, ihre Brust mit einer besonderen Salbe einzureiben, die sie für ähnliche Reizungen schon einige Male mit Erfolg verwendet hatte.

Ihr Jakob hatte mit klassischer Musik und diesen „gehobenen“ Konzerten nichts am Hut. Die waren ihm schlichtweg gleichgültig, nicht seine Welt. Er liebte den Jazz, den Blues. Er blieb lieber allein zu Hause, wenn Maria ihre Konzerte besuchte, und gab sich hier ungestört im immer dichter werdenden Tabakrauch einem weiteren, noch schwierigerem Schachproblem hin. Und sie überlegte und fragte sich, ob sie wohl wieder von Wanzen heimgesucht worden sein könnte. Wie schon einmal vor zwei drei Jahren in Südfrankreich, in Roussillon. Eine Nachbarin im Hause, die Frau S. , die vom Untergeschoss, hatte ihr unlängst berichtet, es gäbe sie wieder im Haus, dieses lästige Ungeziefer. Wanzen kämen in den besten Häusern vor, fügte sie entschuldigend hinzu, sogar in Fünf-Sterne-Hotels, dort wo die Schönen und Reichen sich vergnügen, lächelte dazu und schaute hinauf ins triste Treppenhaus.

Als Maria nach dem beglückenden Konzert spät in der Nacht nach Hause kam und ihren Jakob in tiefen Zügen schlafend vorfand, das grosse Schachbrett auf dem Wohnzimmertisch mit wenigen Figuren drauf, einige Figuren umgelegt, darunter auch die schwarze Dame, fasste sie sich beim Entkleiden im Badezimmer kurz entschlossen und doch leicht zitternd an die rechte Brust, dann an die linke und so einige Male hin und her. War da nicht ein Knoten? Oder doch ein Knötchen? Sie hörte das tiefe, regelmässige Atmen ihres Jakob. Es roch nach Alkohol und kaltem Tabakrauch. Da war doch ein Knötchen. Oder? Zweifellos. Da war ein Knötchen. Das war neu. Oder täuschte sie sich? War sie zu ängstlich? Sie hatte doch schon so oft von Brustkrebs gelesen und gehört. Sie kannte Leute. Zwei ihrer Freundinnen hatten sich unlängst operieren lassen.

Sie würde Jakob zunächst nichts sagen, ihn nicht unnötig beunruhigen. Er, der sich so leicht alarmieren liess und sich bei jeder kleinen Störung übermässige Sorgen um sie machte. Und wie könnte er überhaupt eine Hilfe sein, er, der selber Hilfe brauchte? Sie liess ihn ruhig weiter schnarchen, öffnete leise das Fenster, um frische Luft einzulassen, legte sich behutsam neben ihn hin, fand aber nicht zur Ruhe, wälzte sich während Stunden von einer Seite auf die andere.

Gegen Morgen endlich fiel sie in tiefen Schlaf, träumte von Ferien am Mittelmeer: Puglia, Otranto, Gallipoli, Nizza, Collioure. Blauer Himmel, strahlende Sonne, Sandstrände abwechselnd mit felsigen Ufern, sanft sich überschlagende Wellen. Und junge Männer, so wie Jakob in früheren Jahren vermutlich ausgesehen haben mochte: muskulös, straff, gebräunt und vor allem gesund und unbesorgt, verwegen und doch rücksichtsvoll, zärtlich und ohne jedes Anzeichen von Alkoholsucht.

Der Gang dann zum Facharzt, einer weit herum bekannten Kapazität. Die üblichen Untersuchungen. Mammographie. Biopsie.

Einige Tage später dann der von ihr zunächst ohne grosse Regung erwartete Befund: Brustkrebs.

Der Arzt, sehr freundlich und routiniert zuvorkommend, garantierte für nichts, ein etwa fünfzigjähriger, glatzköpfiger Mann von jugendlichem Aussehen, aber leicht schütterem, rotblondem Resthaar, der jeweils in schwierigen Situationen an seinem linken Ohrläppchen herumzudrücken die zierliche Gewohnheit hatte.

Eine Operation, so sagte der Arzt in ruhigem Ton, könne er nicht ausschliessen. Eine gezielte Chemotherapie möglicherweise als absichernde Folgebehandlung. So oder so. Elendes Wunderland Krebs. Vielleicht wäre es überhaupt besser, sogleich zu operieren, dachte sie. Oder hatte es der Leitende Arzt gesagt? Oder eine ihrer Freundinnen oder Freunde, mit denen sie darüber gesprochen hatte? Jakob sicher nicht. Der war ohnehin in ständiger Sorge um sie, ohne zu wissen, was er ihr raten könnte.

Maria musste letztlich selber entscheiden und beschliessen. Niemand konnte ihr das abnehmen. Der Arzt konnte Vorschläge machen, mitteilen, was er zum Beispiel in einer vergleichbaren Situation seiner Frau oder seiner Geliebten empfohlen hätte. Unter Einbezug von allen erreichbaren verlässlichen wissenschaftlichen Arbeiten aus den vergangenen fünf Jahren. Wahnsinn. Eine Zweitmeinung einholen sei durchaus zu empfehlen, sagte der Arzt wiederholt, obwohl sie schon längst dazu entschlossen war. Er empfehle nicht nur eine zweite sondern auch eine dritte Meinung einzuholen. Wo denn das? Bei ehemaligen Patientinnen und deren Männern. Das überraschte sie dann doch, das mit den Männern.

Als ultima ratio, so hatte der Arzt wiederholt gesagt, als ultima ratio müsse in einem solchen Fall wie dem vorliegenden eine Operation ins Auge gefasst werden. Amputation der rechten Brust. Als ultima ratio. Oder war es doch die prima ratio? Er rechnete offenbar damit, dass Maria so viel Latein verstand. Und sie verstand tatsächlich so viel. Auch sie hatte einmal das Gymnasium besucht, Latein und Griechisch genossen und dann nach reiflicher Prüfung entschieden und beschlossen, den akademischen Weg den dazu Berufenen zu überlassen.

Zunächst könnte als erste therapeutische Massnahme die Chemie oder eine spezifische Bestrahlung eingesetzt werden, so ging es ihr durch den Kopf. Oder doch erst im Nachhinein, nach der Operation? Wer weiss, vielleicht könne, aber ohne jede Garantie, eine Garantie gebe es hier ganz einfach nicht, vielleicht könne die Operation der rechten Brust vermieden oder doch zumindest verschoben werden. Aber auch das Hinausschieben hätte seine Tücken. Ob das oder jenes oder was auch immer sinnvoll wäre, müsse eingehend und seriös geprüft und dann möglichst bald nicht nur entschieden sondern auch beschlossen werden.

Krebserkrankungen und ihre Heilung verlaufen immer wieder rätselhaft. Auch Maria hatte da so ihre Erfahrungen. Krebs erschien ihr rätselhaft, faszinierend erfindungsreich wie das Leben überhaupt. Auch die besten Ärzte konnten nichts Genaueres versprechen und wollten, dass die Patienten dies auch so sehen.

Maria war das recht so. Vielleicht war überhaupt keine Operation notwendig, sagte sie sich immer wieder. Sie fürchtete sich davor. Sie sorgte sich um ihre Brust, die sie als Geschenk und wertvolle Mitgift ihrer Weiblichkeit schätzte, liebte und pflegte und mindestens jeden Morgen im Badezimmer zärtlich betastete und im Spiegel zufrieden und beglückt ansah. Und wenn schon, sie wäre nicht die erste Frau, die einen solchen Eingriff erleiden müsste, sagte sie sich. Sie versuchte, sie musste, sie wollte tapfer sein.

Krebserkrankungen kommen häufig vor, lösen bei den Betroffenen grosse Ängste aus. Und sie schlagen bekanntlich immer wieder rätselhafte Wege ein. Sie wusste von mehr als einer wundersamen Heilung aus ihrem Bekanntenkreis, von Totgesagten, die sich Wochen oder Monate später völlig geheilt von ihrem Krankenbett erhoben haben. Und dies entgegen der professionell medizinischen Prognose, die wohl vor allem mit Wahrscheinlichkeiten rechnet, gestützt auf wissenschaftliche Erhebungen.

Immer wieder hörte und las man auch von Wunderheilern in Asien, von Geistheilern in Südamerika und sogar im eigenen Land. Wundermeldungen auch aus Südfrankreich: Stes-Maries-de-la-Mer. Wo möglich am Auffahrtstag. Die feierliche Prozession ins Meer hinaus. Und dort ist es die Schwarze Sara, die immer wieder Wunder vollbringt.

Und da gibt es ja auch die Berichte von Wunderheilungen in Lourdes, von denen ja nicht nur gläubige Katholiken zu berichten wissen, auch Lutheraner, Calvinisten, Protestanten, Reformierte, Juden, Buddhisten, Muslime, ja sogar – o höchstes Wunder! - Atheisten, eigentlich Ungläubige, gleichsam ökumenische Wunderheilungen unter Tausenden von Pilgerinnen und Pilgern. Letzthin auch dokumentiert in einer als seriös geltenden medizinischen Sendung des hiesigen Fernsehens. Tatsächlich. Eine Krebserkrankung kann unerwartet ganz und gar verschwinden, ohne Chirurgie, ohne Chemie, ohne Bestrahlung, mit und ohne spezielle Diät. Einfach so. Rätselhaft. Auf wundersame Weise. Wenn man bloss wüsste, wie man dies anstellen müsste als direkt Betroffener oder Betroffene.

Sollte Maria wieder zu beten beginnen? Wieder in der Kirche mittun, in der sie gross geworden war: Besuch der Messe, beichten, beten, spenden? War der Krebs vielleicht eine göttliche Strafe, wie sie daheim als kleines Mädchen gehört hatte? Sich wieder der katholischen Kirche zuwenden und sich ihr hingeben wie zu der Zeit, als sie ein kleines, schüchternes Kind war, das sich entsetzlich vor dem Fegefeuer fürchtete und wöchentlich mindestens einmal zur Beichte ging? Oder doch lieber einen Wunderheiler aufsuchen? Sie kannte einige Adressen. Sie konnte sich ohne Mühe weitere beschaffen. Sie brauchte bloss im Internet zu suchen, in Zeitungen und Zeitschriften.

Wunderheilungen. Es gab und gibt sie immer wieder, Wunderheilungen, sagte sie zu sich selber, und es wird immer wieder Wunderheilungen geben. Es gibt Wunderheilungen. Warum sollte sie davon ausgeschlossen sein? Man musste nur fest daran glauben. Der Glaube ist entscheidend. Liebe, Glaube, Hoffnung. Der Glaube versetzt Berge. Und erst die Liebe. Die Liebe?

Unlängst hatte sie mit der ganzen Abteilung ihr fünfundzwanzigjähriges Dienstjubiläum gefeiert und dabei auch von Patientinnen Blumen, Schokolade und sogar eine undatierte Fahrkarte nach Venedig erhalten. „Der Tod in Venedig“ kam ihr sogleich in den Sinn. Sie hatte die Novelle vor Jahren gleich zweimal gelesen und auch den Film sogar dreimal angeschaut. Daran hatten ihre Kolleginnen und Kollegen wohl nicht gedacht. Die Ärzte, Ärztinnen und die Direktion hatten ihr zudem einen mächtigen Früchtekorb fürsorglich nach Hause schicken lassen, so dass sie der Mühe des Transportes enthoben war. Sie hatte schon vor Jahren ihr geliebtes kleines Auto abgestossen, einen kleinen roten FIAT – sie nannte ihn FIAT LUX - und seither jedes Jahr ein Generalabonnement der Bahn erworben. Sie hatte eines unschönen Tages bemerkte sie, dass sie am Steuer unsicher geworden war. Ein leichter Schwindel mitten auf der Fahrt. Die Angst, das Brems- mit dem Gaspedal zu verwechseln, nicht nur in der Dunkelheit und bei Schneefall, auch bei guten äusseren Bedingungen. Aber sie hatte schon längst beschlossen, gleich nach dem Kauf des ersten Autos, eines roten Cabriolet Alfa Romeo, spätestens im höheren Alter vernünftig sein zu wollen, wenn es einmal so weit kommen sollte mit dem Gefühl der Unsicherheit beim Lenken.

Anders als in ihrem privaten Leben. So meinten vor allem ihre nächsten Verwandten, ihre Eltern, solange sie noch lebten, auch Silvia, ihre um drei Jahre jüngere Schwester, die nie auch nur im geringsten daran gedacht hätte, selber ein Auto zu lenken.

Maria liebte ihren Beruf als Krankenschwester, Jahre später nicht minder als Pflegefachfrau, in dem sie tagtäglich andern Menschen Gutes tun konnte. Und da brauchte es ihrer Meinung nach meist nur wenig. Oft genügte ihre blosse Anwesenheit, ihr freundliches Lachen, ihre zarte, warme Hand, die passenden Worte, ihr Schweigen.

Aber sie liebte freilich auch die wiederkehrenden Auseinandersetzungen und kleinen Streitereien mit den Ärztinnen und besonders mit den Ärzten. Diese nahmen sie dabei nicht immer ernst. So meinte sie zu bemerken, ohne sich dabei auf Dauer aufzuregen. Mehr als einmal erlebte sie jedoch recht heftige Angriffe von Seiten ihres Vorgesetzten. Sie hatte mehr als einmal eigenmächtig die Medikation für einen Patienten abgesetzt, in einem andern Fall ein harmloses Schmerzmittel verabreicht, kurz bevor der Patient starb. Das war riskant. Zu riskant. Das hätte sie nicht tun dürfen auf Grund der herrschenden Vorschriften. Das wusste sie. Aber sie war nicht gewohnt, einem möglichen Risiko auszuweichen. Sie liebte das Risiko. Sie liebte die raschen Entscheidungen und Beschlüsse. Und jede Entscheidung und jeder Beschluss berge Risiken, so ihre Erfahrung und Überzeugung. Auch Entscheidungen und Anordnungen von Ärzten und Ärztinnen.

Aber im Grunde wurde sie von den Ärzten durchaus ernst genommen und geschätzt. Denn sie war eine zuverlässige Mitarbeiterin, die niemandem etwa zuleide tun konnte, ganz im Gegenteil, auch wenn sie sich immer wieder aufmüpfisch zu gebärden schien, die Anordnungen der Ärzte nicht als militärische Befehle entgegennahm, sondern hinterfragte, ja hin und wieder offen und mit guten Gründen dagegen auftrat, wenn es ihr richtig erschien. Sie drängte ganz offen und anhaltend auf mehr Verantwortung für das nichtärztliche Personal und hatte damit immer wieder Erfolg.

Maria könne ja noch einen andern Facharzt zu Rate ziehen. Das hätte man ihr eigentlich nicht zu sagen brauchen. Einen Facharzt aus der grossen Stadt am See zum Beispiel oder in einer alternativen Klinik in einem andern Teil des Landes, welche mit homöopathischen Mitteln arbeitet. Auch das wurde ihr geraten, obwohl sie darüber bestens Bescheid wusste.

Über Erfolge und Misserfolge in fremden Spitälern freilich könne das hiesige Spital keine Auskunft gebe, sagte der Leitende Arzt. Die Ärzte hier zweifelten jedoch mehrheitlich, soviel er wisse, an diesen weichen, spekulativen Methoden. Aber schliesslich müsse der Patient selber entscheiden, dorthin zu gehen, wo er am ehesten Vertrauen und vielleicht sogar die Überzeugung habe, dass ihm geholfen werde. Placebo-Effekte seien eben auch Effekte. Das sei bekannt und inzwischen allgemein anerkannt. Nicht zu unterschätzen. Das gehöre heute schon längst zum Allgemeinwissen auch der Ärzte. Der Glaube, die Überzeugung sei im Leben halt doch oft wichtiger als die Wahrheit. Und was ist denn hier überhaupt Wahrheit? Sie erinnere sich doch wohl vor zwei Wochen, so fährt der Leitende Arzt ihrer Abteilung weiter, als sie so starke Kopfschmerzen gehabt habe. Das starke Medikament, welches sie bekommen, das so bitter schmeckte, war kein eigentliches Heilmittel, keine besondere Chemie, sondern schlicht ein Placebo, ein harmloses Gemisch aus Traubenzucker und harmlosen Bitterstoffen.

Als ultima ratio jedoch, hatte der Leitende Arzt der onkologischen Abteilung mit der dabei üblichen zurückhaltend feierlich wirkenden Stimme gesagt, dürfe eine Operation auf keinen Fall ausgeschlossen werden.

Sie konnte dieses Gerede nicht mehr mit anhören. Ihr Arzt fühlte sich überlegen, so empfand sie sein Gehabe, und er war ohne Zweifel überzeugt, wenigstens die richtigen Worte und den rechten Ton gefunden zu haben: menschlich einfühlsam und zugleich entschieden professionell. Er trug jedenfalls stets einen blendend weissen Mantel, wenn er mit einer Patientin zu tun hatte, nicht wie immer häufiger manche jungen Ärzte, die sich da ihre Freiheiten herausnahmen und auf den weissen Mantel verzichteten. Und er griff, wie gewohnt in kitzligen Situationen, mit seiner linken Hand ans entsprechende Ohr und rieb sanft am Läppchen. Möglich, dass sich die Chemotherapie gut anlässt. Aber wie gesagt, ohne Gewähr.

Jakob, ihren schwierigen Lebenspartner, hatte sie im Spital kennen gelernt. Zufällig, so könnte man sagen. Aber sie glaubte nicht an Zufälle. Oder dann in dem Sinn, dass ihr da etwas schicksalshaft zugefallen war. Diese Deutung des Zufalls hatte ihr schon immer eingeleuchtet und gefallen.

Jakob, ein Patient unter vielen, aber doch ein besonderer. Leberzirrhose. Keine Virushepatitis und keine autoimmune Leberentzündung sondern schlicht und einfach die verheerenden Auswirkungen von jahrelangem süchtigen Alkohol- und Nikotinkonsum. Er tat ihr leid, als sie ihn zum ersten Mal sah. Sein Blick. Seine etwas ungelenken Bewegungen. Seine warme, tiefe Stimme, sein stilles Leiden, seine Ohnmacht. Und er, Jakob, hoffte vom ersten Augenblick an auf ihre Hilfe. Eine für beide unerhörte Erfahrung. Er hoffte auf ihre Hilfe mehr als auf die der routiniert geschäftig munteren Ärzte. Maria war sein Engel, zufällig und schicksalhaft seine Rettung, so seine Überzeugung vom ersten Augenblick an, da er sie sah und ihre helle Stimme hörte.

Maria besuchte und umsorgte ihn vom folgenden Tag an auch ausserhalb ihrer gewohnten Arbeitszeit, ohne dabei Aufsehen oder Argwohn zu erwecken. Man vertraute ihr. Man liess sie gewähren.

Nach der geglückten Transplantation der Leber ein halbes Jahr später waren beide überzeugt, dass es nun endgültig und nachhaltig bergauf gehe mit Jakob. Seelisch und vor allem körperlich. Und nicht zuletzt auch beruflich. Jakob blühte auf und erstarkte erneut in seinem Beruf als Innenarchitekt und nahm sich schon wenige Wochen nach seiner Entlassung aus dem Spital vor, sich beruflich selbständig zu machen. Endlich ein wenn auch noch so kleines eigenes Unternehmen leiten, ein Büro sein Eigen nennen. Ein eigenes Unternehmen. Er war wie benommen. Er schliesslich doch kein Verlierer. In seinem bubenhaften Übermut hatte er gleich ein knalliges Logo entworfen: eine feuerrote stilisierte Peperoni. CHILI sollte im Namen seiner Firma vorkommen. CHILI SOLUTIONS, so würde seine kleine Firma heissen. Seine Lebensprobleme schienen gelöst und er kein Versager. Er fühlte sich erlöst. CHILI SOLUTIONS.

Maria glaubte, hoffte und redete sich ein, den zufällig zugefallenen Partner fürs Leben gefunden zu haben, den dauerhaften, treuen, vom Schicksal bestimmten. Ihm würde sie treu sein. Ihm allein. Auch ohne Trauschein. Sie fühlte sich seltsam belebt, war erfüllt von zärtlich fürsorglichen Gefühlen für ihren geplagten Jakob. Ohne Hast gab sie all ihre zahlreichen Beziehungen mehr oder weniger auf oder hielt sie auf kleiner Flamme. Sie wollte treu sein, treu im herkömmlichen, katholischen Sinn, aber zugleich auch treu gegenüber ihren alten Freunden und Freundinnen. Nur ein einziger intimer Partner? Wenn immer möglich. Nur ein einziger? Nur ein einziger! Und sie wusste gleich, wie schwierig das für sie werden könnte.

Sie dachte und träumte wieder wie einst in jungen Jahren von einer Familie, von Kindern, von Patinnen und Paten, von Kindeskindern. Sie träumte die Träume ihrer Eltern.

Die ungetrübte Zweisamkeit dauerte nicht lange. Jakob konnte vom Alkohol nicht lassen, musste wiederholt an seinem Arbeitsplatz fehlen, schob seine Kündigung immer wieder hinaus, sagte seinem Chef kein Wort über seine kühnen Pläne, selbständig zu werden, nichts über CHILI SOLUTIONS, dachte vor allem nicht ans vertraglich festgelegte Konkurrenz-Verbot. Seine Kolleginnen und Kollegen ärgerten sich über ihn, leisteten vermehrt Überstunden, mussten zudem seine Launen ertragen. Sein Chef jedoch zögerte weiterhin, ihn zu entlassen, auch nach zahlreichen Verwarnungen, denn Jakob war halt doch ein kreativer Mitarbeiter, wenn er denn in der Lage war zu arbeiten.

Die Gründung eines eigenen Unternehmens liess also auf sich warten. Die feuerrote Peperoni, das knallige Logo blieb unter Verschluss. Die Treue und unentwegte Hilfsbereitschaft von Maria führten jedoch dazu, dass er sich je länger desto schlechter fühlte. Selbstvorwürfe plagten ihn, Schuldgefühle, unterbrochen durch rabiate Wutanfälle. Der erneute Griff zur Flasche. Maria fing wieder an zu beten wie in ihren Kinderjahren, reiste wiederholt zur Schwarzen Madonna nach Einsiedeln, um in der Klosterkirche die Mutter Jesu innig anzuflehen, zu beschwören. Sie traf sich vermehrt mit alten Freunden und Freundinnen, auch in der eigenen Wohnung , wenn Jakob beruflich abwesend oder anderweitig ausser Haus war. Auch im Auto eines verheirateten Freundes, der sie immer wieder aufsuchte. Auch im Gartenhaus einer Freundin, welche die Männer nicht mochte und bei Frauen Trost und Anerkennung suchte.

Dann der telefonische Anruf der Polizei. Jakob verunglückt. Bewusstlos. Ambulanz. Jakob im Notfall des Krankenhauses.

Im alten, baufälligen und vom Heimatschutz betreuten und beobachteten Haus eines Kunden war es passiert, der den Rat eines kreativen und engagierten Innenarchitekten gesucht hatte. Sein Aufstieg vom zweiten Stockwerk hinauf auf den Dachboden über die korrekt angelehnte Leiter wurde Jakob zum Verhängnis. Er glitt aus beim zügigen, übermütigen Hinaufsteigen und fiel einige Meter tief auf den Parkettboden aus Eichenholz. Die Ambulanz brachte den bewusstlosen, Blut überströmten Jakob innerhalb einer Viertelstunde ins Spital. Der Alkohol-Test negativ.

Eine Woche später verstarb Jakob, ohne aus seiner Bewusstlosigkeit aufgewacht zu sein. Abdankung in der folgenden Woche im kleinsten Kreis. Ohne seinen verständnisvollen Chef und ohne Arbeitskolleginnen und -kollegen. Maria wollte allein von ihrem unglücklichen Jakob Abschied nehmen. Abschied auch von ihren Träumen und Phantasien: Familie, Kinder.

Maria war wieder allein. Aber alles andere als einsam oder verzweifelt oder mit dem Schicksal dauerhaft hadernd. Man müsse immer wieder versuchen, das Leben zu nehmen wie es ist. „Es kommt eh alles, wie es muss“, so ihre tiefe Überzeugung: das Dunkle, die Schmerzen und das Leiden, all das gehöre zum Leben, zu einem echten Leben. Und schon wenige Tage nach der Trauerfeier rief ein alter Bekannter an, Johann, der sie unbedingt sehen und vor allem hören wollte.

Die Abdankung von Maria. Auffällig die vielen grossen Kerzen, rote und weisse. Eine einzige schwarz. Aber alle russten. Silvia, die um drei Jahre jüngere Schwester, anfänglich etwas unsicher ob der vielen Leute, die sie nicht kannte. Sie wunderte sich, freute sich, zeigte Rührung, schüttelte allen Gästen immer wieder die Hand. Man umarmte sich, strich sich zärtlich über den Rücken. Man weinte. Man redete wenig.

Silvia wunderte sich vor allem über die gehobene, lockere Stimmung, so gar nicht niedergedrückt oder mit Trauer erfüllt, mit echter oder vorgespielter, wie sie schon an anderen Abdankungen erlebt hatte. Das hier war eine Feier, ein festliches Beieinandersein. Menschen, die Maria nahestanden, waren gekommen ohne absichtsvoll gespielte feierliche Ernsthaftigkeit oder den üblichen Trauergesten. Die meisten dankerfüllt und mit leuchtenden Augen. Und niemand ausser Silvia in schwarz. Und niemand hat sich an jenem Abend betrunken oder zu tanzen begonnen, obwohl Gelegenheit dazu bestanden hätte. Man traf sich ungezwungen in der alten Gaststätte nebenan, und jeder bestellte, wozu er gerade Lust hatte. Nach Stunden erst fand jeder den Weg nach Hause.

Die Tagebücher von Maria.

Vier schmucke Bände. Violett eingebunden. Einige wussten davon, darunter Silvia, die Schwester von Maria, doch niemand hatte je darin gelesen ausser Maria selber. Wer sollte dieses Bedürfnis gehabt haben ausser Silvia? Die vier Tagebücher waren und blieben verschwunden.

Der Einbrecher, die Täterschaft hatte keine Spuren hinterlassen. Beinahe wäre der Diebstahl nicht bemerkt worden. Oder waren die Tagebücher auf andere Weise verschwunden? Hatte Maria ihre Tagebücher vor ihrer Wanderung auf dem Jakobsweg gar selber aus der Welt geschafft?

Bei der Räumung der Wohnung, welche ihre Schwester nach wenigen Tagen nach der Abdankung vornahm, stiess man auf viel Papier: Briefmarken, Quittungen, Postkarten aus aller Welt, Bons, Steuerformulare, Eintrittskarten von Kinos und Tonhalle-Konzerten, Briefe im Umschlag und ohne Umschlag, auch von Liebhabern und Liebhaberinnen. Die wenigstens konnte man jetzt ungestört durchlesen. Aber man konnte sie leider nicht mit den Eintragungen in Marias Tagebuch vergleichen. Oder gar mit ihr darüber sprechen. Aber Vermutungen konnte man anstellen, ungezügelte Vermutungen und Verdächtigungen. Und Silvia war auf der Suche. Sie wollte es genauer wissen, das mit den Tagebüchern ihrer Schwester.

Hier einige Briefe, die Silvia vorfand:

Brief 1

Liebe Maria,

Ich warne dich. Bin Mitte September wieder in der Schweiz. Wie ich dein Land liebe, seit ich dich kenne. Wieder als Trainer einer Selbsterfahrungsgruppe. In der Schweiz gibt es immer noch keine ausgebildete Trainer. Was ist los mit euch? Da ist Holland neben den USA wieder einmal führend.

Wieder in Morschach, wo ich dich vor zwei Jahren kennen lernte, in der allerersten professionell geleiteten Selbsterfahrungsgruppe in der Schweiz. Ich erinnere mich immer wieder an dein Rollenspiel mit dem Fegefeuer? Das war existenziell. Ein Höhenflug in Gestalttherapie. Auch für mich. Perls hätte seine Freude an dir gehabt.

Und da gab es nicht nur hübsche und gescheite und lernbereite Schweizer Mädchen, sondern auch Wein oder Bier zum Essen in diesem Haus, nicht wie in den anständigen evangelischen Tagungstätten Gwatt und Boldern. Oder irre ich mich wieder einmal?

Ich sehe dich klar und deutlich, clare et distincte, mit meinem inneren Auge, ich höre dich, der Klang deiner Stimme. Reinste Verzauberung. Ich fühle deine starken Zähne in meinem „schwachen“ Fleisch, wenn ich an dich denke. Aber gottlob muss ich nicht sieben Jahre warten, bis ich an Land komme wie der Fliegende Holländer.

Wann ist dein Haus, wann sind deine Arme und Beine offen für mich? Ich rufe dich an, sobald ich in Morschach bin.

Dein Johan Lucas aus Nederland

PS Mein Deutsch ist gut, nicht wahr? Ich habe den Brief von Piet van Dijk (Germanist an der Uni Leiden) korrigieren lassen. Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken. Er lässt dich grüssen und hat mir ein kleines Geschenk für dich mitgegeben. Rate!

Brief 2

Maria, Mariia, Mariiia!

Ich leide. Und meine Familie auch. Ich leide unter meiner Frau, die ich aber trotzdem gerne habe. Und sie leidet über mir, wegen mir. Das weisst Du ja. Wie ich das nur durchstehe. Sie ist wieder so streng mit mir. Ich kann ihr nicht böse sein. Ich verstehe sie ja. Auch ich leide. Immer wieder. Auch für sie ist es nicht leicht. Sie leidet mehr als ich. Sie macht mir ständig Vorwürfe. Sie ist so misstrauisch. Und sie hat recht. Ich verstehe, dass sie die Scheidung will. Aber ich will nicht. Was soll dann mit den Kindern geschehen?

In Deiner Nähe fühle ich mich wohl. Du verlangst nichts von mir als Spontaneität, Ehrlichkeit, Offenheit, keine Lügen. Das verlangt meine Frau auch. Aber bei Dir kann ich es sein: offen, ehrlich, echt. Kunststück! Bei Dir kann und mag ich ehrlich und offen sein. Bei meiner Frau nicht. Ist doch verständlich? Das quält mich. Du bist einfach da. Mit ihr ist alles so kompliziert. Ich bin so kompliziert. Ja, ja, ein Neurotiker. Will vom Apfelbaum auch noch Birnen ernten und Pflaumen dazu. Bin ich ein Unmensch? Ich bin ein Unmensch. Nein, ich bin kein Unmensch. Ich weiss bloss manchmal nicht wo ein noch aus. Aber bei Dir fühle ich mich wohl. Du verstehst mich. Oder besser: von Dir fühle ich mich verstanden. Wenn ich nur schon Deine Stimme höre, ist's um mich geschehen. Halb zog sie ihn, halb fiel er hin. Und jetzt wohl endgültig auf die Nase.

Passt es für dich am 11. November? Nicht schon um 11.11. Das wäre närrisch. So ab sieben Uhr abends, so um sieben null sieben.

Ich weiss, es ist ein Dienstag, ich weiss, Dein Jass-Tag mit Deinen Kolleginnen. Guggitaler mit Jass-Kasse. Aber vielleicht habe ich wieder Glück wie letztes Jahr einmal und das Jass-Treffen wird aus einem triftigen Grund verschoben oder ist schon verschoben worden. Und ihr braven Mädchen trefft euch das nächste Mal zu einem Schieber. Und ich zahle für die Verliererinnen. Mit Extra-Bonus. Du darfst wünschen. Ich umarme Dich. Ich vermisse Deine Stimme.

Ich kann kaum warten.

Markus

Brief 3

Hallo Maria

Alle Jahre wieder, kommt das Christuskind. Und jedes Jahr mehr. Sehne ich mich nach Dich oder Dein oder Dir. Deine Hände, Maria. Deine wunderbaren Hände. Schade, dass Du nicht Harfe spielen gelernt hast. So bin ich halt Deine Harfe. Du harfst mich an. Du beharfst mich. Vermisse deine Hände. Und deine Stimme. Du Sirene. Möchte die Augen schliessen und Dich wieder einmal hören. Liest Du mir wieder was vor? Etwas Kräftiges. Bringe Dir ein Buch mit, aus dem Franz. übersetzt. Es wird Dir gefallen. Sex auf dem Velo, nackt, Sex auf einem Tandem. Einfach verrückt. Maria! Kennst Du das? Und dann tun wir, was die zwei im Buch tun. Vielleicht noch etwas verrückter. Einverstanden?

Ich rieche Dir, ich schmecke Dich, ich höre Dir, wenn ich an Du denke. Ich rieche Deine Fotze. Ich spüre Deine feuchte Fotze in meiner rechten Hand, ich rieche sie und Deinen unartigen Arsch. Deine Wunderspalte: der „Ursprung der Welt“, so heisst doch das berüchtigt berühmte Bild von Courbet, Castre oder wie heisst er nun schon wieder. Ich bin verrückt nach Dir, verrückter kann man nicht sein. Ich Idiot. Bevor ich Dich und Dein wieder sehe und nach Dir greifen kann um zu begreifen: das Leben ist immer wieder schön und gut. Mit Dich. Mit Dir. Mit Du. Ich höre Dich. Ich beschwöre Dein. Deine Stimme. Deine geheimnisvolle Stimme macht mich närrisch. Das weisst Du, Du, Du Hexe. Du kannst Dich wieder lustig machen über mich.

Ich ruf Dir an am Freitagabend. Ich bringe das Essen mit. Stroganoff zum Aufwärmen. Und Blumen. Rate, welche!

Dein Johannes

Brief 4

Maria

Wir müssen unsere Beziehung ändern. Ich bin in Sorge. Meine Stellung ist gefährdet. Ich bin ratlos. Bin in der Klemme. Oder bin ich ganz einfach blöd? Jemand hat mich bei unserem B. angeschwärzt. Und er hat auf eine Art recht. Ich weiss nicht, was ich tun soll. Ich komme mir so dumm und lächerlich vor. Ich möchte bei Dir sein und darüber reden. Ich werde Dir in den nächsten Tagen telefonieren.

Bete für mich!

Ich bete auch für Dich.

Pius Matthias

Silvia, die um drei Jahre jüngere Schwester von Maria, hatte so ihre Vermutungen, schon von allem Anfang an, ihren Verdacht, wer der Dieb und Einbrecher hätte sein können. Und zudem hatte sie in den vergangenen Jahren so einige Informationen erhalten von Nachbarinnen im Haus von Maria, ganz beiläufig. Besonders von der alleinstehenden Frau S. im Untergeschoss, die seit über zehn Jahren direkt unter der Wohnung von Maria hauste. Silvia spürte, sie glaubte zu wissen, wie ihre Schwester gelebt haben mochte. Ganz und gar nicht im Sinne von Vater und Mutter oder der Kirche, das war ihr klar. Sie hatte die freie, unkonventionelle und ihrer Meinung nach verantwortungslose Lebensweise ihrer Schwester von allem Anfang an missbilligt. Sie schien aber auch fasziniert. Und das sah man ihr an jedes Mal, wenn sie von ihrer Schwester sprach.

Es musste jemand gewesen sein, der sich davor fürchtete, dass irgend etwas von seinem heimlichen Tun an die Öffentlichkeit dringen könnte. Ein Ungläubigen, ein Ketzer, wie sich Silvia ausdrückte, einer von denen, die wie alle sind, vielleicht ein Politiker, ein Arzt, ein Banker, einer von der FIFA, ziemlich sicher ein Verheirateter, ein Verheirateter mit eigenen Kindern, vielleicht mit Kindern von verschiedenen Frauen.

Dass es auch ein Geistlicher gewesen sein könnte, ein katholischer Geistlicher gar, kam ihr merkwürdigerweise nicht in den Sinn.

Und Silvia begann gleich am Tag nach der Abdankung in aller Ruhe, aber doch merkwürdig angespannt zu sammeln, was sie in der Wohnung ihrer Schwester vorfand: Postkarten, Eintrittskarten, Abrechnungen von Banken, zwei Mahnungen von Versicherungen, eine Menge von Telefonrechnungen, eine Unmenge von Büchern mit zum Teil derb erotischem Inhalt, drei Dildos in verschiedener Grösse und in unterschiedlichen Farben. Auf einem dieser Lustgeräte, einem schwarzen, war eine Widmung eingebrannt: „Dein bester Freund.“

Silvia entsorgte den leicht beschmutzten Irrigator zusammen mit den zwei sauberen, und dies mit dem Ausdruck von heftigem Ekel, aber auch in seltsamer Erregung bis in die Fingerspitzen.

Doch sie fand zu ihrer Enttäuschung in diesem Sammelsurium, das Maria hinterlassen hatte, keine Hinweise auf bestimmte Personen, auf Personen mit vollem Namen und gültiger Adresse.

Kommen wir zurück auf die Nachbarin von Maria, auf die Frau S. im Untergeschoss. Die vor allem fühlte sich berufen, Silvia weiterzuhelfen, diese leutselig muntere Frau S., die sie schon oft gesehen und mit der sie immer wieder einige Worte gewechselt hatte. Und Frau S. liebte die unverbindlichen Andeutungen.

Silvia erfuhr nur zwei Tage nach der Abdankung, ohne lange darum bitten zu müssen, dass da seit Jahren immer wieder ein Auto unweit des Hauses parkiert hätte, ein vornehmer Personenwagen, mit den Automarken kenne sie sich nicht aus, ein grosser schwarzer Wagen, ein immer sehr gepflegter Wagen. Silvia erfuhr ohne nachzufragen Kanton und Zahlenfolge auf dem Nummernschild und dass der elegante, gross gewachsene Lenker jeweils bei Maria geläutet hätte. Es habe jeweils dreimal übermütig geklingelt. Meist hätte er einen prächtigen Blumenstrauss in der Hand gehalten, nicht von einem Grossverteiler, nein, ein Gebinde von einer stadtbekannten Gärtnerei, die auch die Friedhöfe beliefere.

Und Silvia spürte wieder den eigenartigen Unterton in den Worten von Frau S.

Und weiter habe sie beobachtet, so fuhr Frau S. ungefragt weiter, dass da immer wieder, in ungleichen Abständen und auch dies seit Jahren, ein auffällig klein gewachsener, etwas nachlässig gekleideter Mann in braunen Cordhosen und meist mit langem, weissem Shawl sein dreckiges Velo an die Hausmauer angelehnt habe und dann zu Maria in den ersten Stock hinaufgestiegen sei. Manchmal sei er schon nach wenigen Minuten weggegangen, manchmal aber erst nach Stunden, einmal erst am folgenden Morgen. Und von dem wisse sie genau, wer das sei. Sie habe letztes Jahr einmal, ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen, einfach so im Vorübergehen das lederne Täschchen hinten am Sattel des Velos geöffnet und darin einen kleinen gefalteten Karton gefunden, und auf dem sei ein Name mit Adresse und Telefonnummer gestanden.

Maria's Schwester, neugierig geworden, fragte mit gleichmütiger Stimme nach Name und Adresse. Ohne sich nur einen Augenblick zu besinnen, gab Frau S. Name und Adresse preis, offensichtlich nicht ohne eine gewisse Boshaftigkeit.

Silvia fuhr unentwegt fort, weitere Spuren zu sichern, Informationen einzuholen, sich Gedanken zu machen über das Leben ihrer Schwester. Bald wurde es ihr klar, wer der geheimsnivolle elegante Mann im grossen, dunkelblauen Personenwagen war und dass der klein gewachsene Mann in Cordhosen, dem das dreckige Velo gehörte, ein Professor war, nicht von der Uni, nein, ein Biologie-Lehrer an einem Gymnasium von gutem Ruf, verheiratet, katholisch, Vater von vier Kindern, Besitzer eines renovierten Bauernhauses mit grossem Garten und Gewächshaus, einigen Haustieren (Hund, Katze, Hühner, Kaninchen), Züchter von seltenen Pflanzen, darunter auch Kakteen. Nicht nur willkommenes Anschauungsmaterial für seine Schülerinnen und Schüler, wie man hätte annehmen können. Er pflegte eine urtümlich enge Beziehung zu seinen Pflanzen und Tieren. Eine engere jedenfalls als zur eigenen Frau und zu seinen Kindern.

Der grosse, elegante Herr jedoch war ein bislang geschätzter und bekannter Oberarzt, so fand sie schliesslich heraus, veheiratet auch er, Vater von Zwillingen im Schulalter, vor einigen Jahren angeklagt in einem turbulenten Prozess, die Boulevard-Presse mit penetrant neugierig rotzigen Riechern und Schreibern ganz vorn mit dabei. Er habe eine Reihe von Patientinnen in seiner Praxis unprofessionell, das heisst unsittlich betastet. Einvernehmlich oder nicht einvernehmlich, das war die Frage. Und mutmasslich nicht bloss hin und wieder. Ein Unhold. Ein Sauhund. So tönte es vor allem in der lokalen Presse. Auch Maria, eine seiner Patientinnen, sei damals eingehend befragt worden. Doch die habe den auch international angesehenen Onkologen nicht belastet. Im Gegenteil.

Der Oberarzt wurde drei Jahre nach der ersten Anklage vollständig freigesprochen.

Schlimmer als all die erwähnten Beziehungen war für Silvia, unvorstellbar schrecklich, als sie erfuhr, dass ihre Schwester regelmässig einen jungen katholischen Priester in ihrer Wohnung empfangen hätte. Schlimm war dabei vor allem, dass sie nicht herausfand, was sich zwischen Maria und dem Gottesmann genau abgespielt hatte. Da hätte das Tagebuch ihrer Schwester doch bestimmt Aufschluss geben können.

Diese vermaledeiten Tagebücher. Vier sauber geschriebene Bände. Violett eingebunden. Sie blieben verschwunden.

Silvia besuchte trotz all diesen Entdeckungen regelmässig das Grab ihrer Schwester, das gehörte sich ganz einfach, die Betreuung dieses Grabes, das sich nicht weit weg von dem ihrer Eltern befand. Dabei begegnete sie immer wieder Leuten, und das war für sie irgendwie erregend, Leute, die sich merkwürdigerweise vor allem in der Nähe des Grabes von Maria aufhielten. Die einen grüssten, andere schauten weg und strebten unverweilt dem Ausgang des Friedhofs zu, den man früher Gottesacker nannte. Leute, die sie allesamt nicht kannte, Männer und Frauen, die ihr aber nicht eigentlich fremd erschienen. Eine seltsame Unruhe befiel sie jedes Mal.

Ende Mai bemerkte Silvia eines Abends eine Veränderung am Grab ihrer Schwester. Eine Menge von strahlendem Vergissmeinnicht, wo vorher eine dichte Menge von Stiefmütterchen (viola tricolor) farbenprächtig sich dem Licht engegengestreckt hatten. Und dann, einige Zeit später, anfangs Juni, um den Geburtstag von Maria herum, standen plötzlich rote, weisse und eine grosse schwarze Kerzen vor der Grabtafel. Und daneben gut sichtbar ein Kaktus mit kleinen violetten Blüten und hinter der Grabplatte, nicht zu übersehen, eine Tonschale voller winzig kleiner Kakteen.

Silvia suchte schnurstracks den ihr vertraut gewordenen Friedhofgärtner auf, fand ihn auch sogleich am anderen Ende des Gottesackers beim Reinigen von Gartengeräten, und machte ihn auf ihre merkwürigen Beobachtungen aufmerksam: die Stiefmütterchen, die Vergissmeinnichte, die Kakteen, die merkwürdigen Gestalten, die beim Grab ihrer Schweser herumstrichen.

« Ja, Sie gute Frau, da bin ich unschuldig, das habe ich nicht getan, bestimmt nicht, und ebenso niemand von der Friedhofsgärtnerei. Unmöglich. Das muss jemand anders gewesen sein. Unbefugterweise. Was die Leute sich heutzutage alles herausnehmen. Diese verdammte Rücksichtslosigkeit. Fast hätte ich Gottlosigkeit gesagt. Ich muss die Vergissmeinnichte leider entfernen, die gehören nicht hierher. Auch die kleinen Kakteen. Die passen noch weniger hierher. Und überhaupt sind hier in diesem Gottesacker Kakteen grundsätzlich verboten. Das steht schon seit langem so im Reglement. Wir dulden keine Kaktusse hier, sorry, Entschuldigung, Kakteen auf dem Friedhof. So etwas ist mir doch noch nie passiert ».

Er schien nicht nur verwundert, sondern leicht verärgert aber nicht eigentlich überrascht. Ein- und Übergriffe von Unbefugten kamen immer wieder vor bis hin zu ärgerlichem Vandalismus. Trotzdem schienen ihn diese Kakteen zu interessieren. Er kannte sich aus mit Sukkulenten. Zu Hause pflegte er selber einige seltene Exemplare. «Der da mit der schönen violetten Blüte ist ein echinocereus superbe, ein Prachtstück. Wirklich. Und die kleinen Wichte in der Schale, das sind blossifolia liliputana, seltene Kakteen, eine der kleinsten, die es überhaupt gibt. Nehmen Sie die doch bitte mit. Sonst muss ich das tun».

Da stand sie nun mit diesen Kakteen, mit dieser blühenden echinocereus superbe und mit der kleinen Tonschale voller winziger, putziger blossifolia liliputana, unschlüssig zunächst, was sie tun sollte. Schliesslich nickte sie, bat mit leiser Stimme um ein Stück Papier, eine alte Zeitung vielleicht oder eine Schachtel.

Die vier Tagebücher von Maria waren noch am Tag der Abankung von Maria im Feuer des Cheminées ihrer engsten Freundin in Rauch, Asche und Russ aufgegangen, im geräumigen Cheminée der » roten Zora », wie sie liebvoll neckisch von Maria genannt wurde. Die « rote Zora », etwa jünger als Maria, laut parfümiert, immer stark geschminkt, mit auffällig gelockten roten Haaren und ständig mit einer riesigen Sonnenbrille auf der markanten Nase.

Maria hatte wenige Tage vor ihrer Reise nach Südfrankreich, das Ziel von Santiago de Compostela vor Augen, ihrer besten Freundin, der « roten Zora », das von Hand geschriebene Testament zur Verwahrung und allenfalls Eröffnung übergeben. In einer kleinen, zeremoniellen Feier, in liebevoller Zweisamkeit bei Wein, Lachs und Kerzenlicht. Die « rote Zora » besass seit Jahren schon einen Schlüssel zur Wohnung ihrer liebsten Freundin. Und sie besass den strikten Auftrag, im Notfall die vier Tagebücher von Maria zu verbrennen.

Und der Tod von Maria war ein Notfall. Die « rote Zora » war während der Abdankung ohne Gewaltanwendung in die Wohnung von Maria eingedrungen und hatte alle vier Tagebücher mitgenommen, ohne sie jedoch zu lesen.

Im Testament von Maria stand unter anderem : meinen geliebten Schaukelstuhl und den chinesischen Seidenteppich vermache ich Dir, meiner Schwester Silvia. Möge letzterer nicht mehr bloss als schnöder Wandschmuck dienen, sondern als ökumenischer Gebetsteppich, offen und empfänglich für jeden ehrlichen Wunsch, für jedes von Herzen kommende Gebet, für jeden liebevollen Akt.

Sie verfügte weiter, dass alle ihre Rosenkränze, die sie einst geschenkt bekommen, aber selber seit vielen Jahren nie mehr gebraucht habe, ihrer aufmerksamen Nacharin Frau S. im Untergeschoss übergeben werden.

Die « rote Zora » solle die Verwertung des Hausrates vornehmen und verständnisvoll überwachen. Im Zweifelsfall lieber verschenken als verkaufen. (Rot unterstrichen). Der Verkaufserlös und Erspartes sollen, nach Abzug der Bestattungskosten, zu einem Drittel ihrer Freundin, der « roten Zora » zukommen. Sie solle dafür sorgen, dass das zweite Drittel einer Institution überwiesen werde, die sich für die Belange von Frauen einsetze, welche zur Prostitution gezwungen worden seien. Der Rest des Vermögens möge aufgesplittet werden. Die Begünstigten: die katholische Kirchgemeinde, in der Maria aufgewachsen war, der sie jedoch schon lange nicht mehr angehörte, und ihre fünf Patenkinder.

Etwa ein Jahr nach der Bestattung von Maria der Seltsamen machte sich Silvia auf nach Einsiedeln, die Schwarze Madonna vor ihrem inneren Auge, von der Maria immer wieder so eindrücklich berichtet hatte. Nicht zu Fuss, aber auch nicht per Bahn und ohne sich die Schuhe mit gekochten Erbsen zu füllen wie weiland Simplicius Simpliszissimus. Silvia erreichte Einsiedeln auf dem alten aber immer noch fahrtüchtigen Velo ihrer Schwester Maria.

Doch vorher wollte sie rasch noch das alte Hotel und Restaurant «Rebstock» hinter dem «Bären» aufsuchen, dort wo einst die Eltern ihre Hocheit gefeiert hatten. Die alte Pilgerherberge mit den aufgemalten Sprüchen war jedoch weg, ein kühler, weisser Neubau kurz vor der Vollendung. Fünf Eigentumswohnungen noch nicht verkauft. So zu lesen auf der riesigen Orientierungstafel. Günstiger Hypothekarzins zugesichert.

Nur wenige Leute in der geräumigen kühlen Klosterkirche. Mattes Licht dringt durch die Fenster. Schlurfende Schritte. Dann wieder Stille. Jemand übt auf der Orgel. Immer wieder lange Pausen. Schlurfende Schritte. Jemand hustet. Bei der Gnadenkapelle - seit langer Zeit von der Schwarzen Madonna, von einer der Schwarzen Madonnen bewohnt und regelmässig neu eingekleidet - kaum ein Dutzend meist älterer Personen. Keine Kinder. Odere doch ? Zwei Jugendliche, eng umschlungen, jeder ein Handy in Händen. Silvia nähert sich langsam, zögernd dem gesuchten Ort, kniet nieder und schaut angestrengt auf die Schwarze Maria - sie hat sie sich grösser vorgestellt - , schliesst die Augen, versinkt in Erinnerungen, denkt an ihre eigenwillig unartige Schwester und deren aufregend abwegiges Leben, denkt an ihr eigenes, sieht sie endlich vor sich in aller Grösse, diese kleine schwarze Madonna, öffnet die Augen, schliesst die Augen erneut, länger und stärker als zuvor.

Da stimmt etwas nicht. Was ist hier eigentlich los? Sie öffnet erneut die Augen, blickt auf. Ein Wunder? Ein Wunder! Eine Täuschung?

Maria, die zierliche Schwarze Madonna ist ja gar nicht schwarz. Sie ist hell, hell und wie Perlmutter opalisierend.

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