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ENTSORGUNGEN

Seit Monaten steht oder liegt sie nun schon im Speicher, an einer ganz bestimmten Stelle im Innern meines Computers: die Einleitung samt der immer noch unabsehbaren Fortführung meines Versuchs 7, flüchtig mit dem Aufhänger „Entsorgungen“ versehen. Schliesslich musste ja auch dieser Versuch einen Namen haben, einen „Aufhänger“.

Übrigens könnte ich die Bezeichnung „Versuch“ ruhig weglassen, so neulich die wohlwollende Bemerkung eines Kollegen, der sich aufs Scheiben versteht. Er meinte wohl, „Versuche“ sei ein Ausdruck von unnötiger Bescheidenheit. Und das hat mich doch ein wenig erstaunt.

Ich will den Sack endlich zumachen, besorgt seit Monaten, zur Ruhe zu kommen, zum Ende nicht nur all meiner literarischen Versuche, vor Jahren ins Blaue hinaus auf zwölf entworfen. Dreizehn sind es schliesslich geworden.

Diese verflixte Sieben, mir spätestens bekannt aus der Deutschstunde, Goethe vor und über allen, alle sieben Jahre.....

Sieben Tage. Das Siebeneck: Hinweis in Grabkapellen auf die ewige Ruhe. Beim Hadsch-Ritual werfen die Pilger sieben oder ein Vielfaches davon an Steinchen auf das Symbol des Teufels, auf die Dschamarat al-Aqaba. Sieben Mal trippeln die Wallfahrer und Wallfahrerinnen um die kurz zuvor frisch gereinigte Kaaba, und dies im Gegenuhrzeigersinn wie bei uns beim Jassen. In China jedoch in vielen Regionen eine Unglückszahl. Die Chinesen haben es mit der 8. Wenn ich meine chinesischen Verwandten am Flughafen abhole, „überspringe“ ich jeweils die 7 und finde ohne weiteres einen freien Platz auf Parkebene 8, ohne deutliche Glücksgefühle, denn ich weiss ja, dass es dort oben stets freie Parkplätze hat. Der Woche überlasse ich gerne weiterhin ihre sieben Tage und Goethe und den Verheirateten oder sonst wie Verbundenen ihr verflixtes siebte Jahr und den sieben Zwergen die sieben Berge, und der siebte Tag mag meinetwegen auch weiterhin nicht nur Sonntag heissen sondern ein rechter Sonntag sein.

Mein letzter Versuch. Die andern zwölf, zum grossen Teil schon vor Jahren zu Ende gebracht, nicht endgültig, setze ich mich doch immer wieder vor meinen leicht verstaubten Bildschirm, tippe, korrigiere, entsorge und lasse auch immer wieder ruhen, arbeite erneut an meinen Texten, bleibe also weiter ein Anfänger, ständig angetrieben, mich noch besser auszudrücken, noch passendere Lichter und Farben zu finden. Erfolge und Enttäuschungen wechseln sich ab. Und ich versuche es immer wieder.

Was soll eigentlich all das Gerede um Zahlen, was kümmert mich töricht anmutende Zahlenmagie? Aber völlig zu entziehen vermag ich mich nicht davon, vom Reiz der Zahlen, irrationale oder rationale, faszinierend sind sie allemal, all diese Zahlen, auch die Zahlenverhältnisse. Spannend, darüber nachzudenken und nachzuforschen, sei es in der Mathematik, in der Natur oder Literatur.

„Dann kommt der grosse schwarze Punkt“. Wilhelm Busch und sein Hieronymus mit dem Knochenmann um Mitternacht. Auch ihn hat das beschäftigt, das mit dem Ende, mit dem endgültigen Schluss. Auch er hat immer wieder neu angefangen, den grossen schwarzen Punkt vor Augen.

Der neugierige, nicht unbesorgte Blick aufs Ende dieses Versuchs 7, nicht leer oder verschleiert, eher wie der Blick durch ein Kaleidoskop, vielen von uns vertraut seit früher Kindheit, wechselnde Gebilde von farbig geometrischen Fügungen, erinnert an mittelalterliche Kirchenfenster, die bei der leisesten Drehung dieses schlichten Spielzeugs ruckartig in ein weiteres unerwartetes Gefüge kippen, immer wieder, irgendwie unbestimmt, aber immer wieder.

Ich halte es mit Robert Louis Stevenson: „Was mich anbetrifft, so reise ich nicht, um irgend ein Ziel anzulaufen, sondern um zu laufen“. Vielfach zitiert. Aber es stimmt, wie Selbstverständlichkeiten immer wieder zu stimmen scheinen.

Ich bin weiss Gott oder weiss Allah nicht der erste, der sich solche Gedanken macht und auch noch die Unbekümmertheit hat, all diese Phantasien und Überlegungen, dieses selig unselige Hin-und-her aufzuschreiben, einzutippen, zu korrigieren, zu ergänzen. Und immer wieder der Gedanke: vielleicht komme ich ja gar nicht so weit, wo ich endlich sagen könnte: jetzt ist es genug, Amen, meine Geschichte, mein letztes Märchen ist, wenn nicht gelungen, so doch abgeschlossen - und kein weiterer Schlüssel mehr zur Hand. „Verloren ist das Schlüsselin“. Dann bliebe mein siebter Versuch eben ein Torso, etwas Unvollendetes im herkömmlichen Sinn.

Sind nicht all unsere Werke, unsere Versuche torsohaft? Sind nicht auch wir alle torsohaft, ewig unvollendet? Ewige Anfänger.

Es kommt auf den Blickwinkel an, auf das jeweilige bewusste und vor allem unbewusste Koordinatensystem, auf den jeweiligen Kosmos, auf die gleichsam opalisierende Seifenblase, in der wir leben. Und auf die Kenner, die Schriftgelehrten und auf all die Hohepriester, die das gültige Wissen haben und über die geltenden Massstäbe, Belobigungs- und Strafmassnahmen verfügen: das ist gut, das ist schön, das ist böse, das ist vollkommen, einzigartig, das ist heilig, das ist göttlich. Und das ist Mist.

Es gibt ja nicht nur die unvollendeten Sinfonien, die sogar als solche gekennzeichnet sind, wie zum Beispiel die herrlich Unvollendete von Schubert, für viele vollendeter als vollendete. Es gibt auch unvollendete schriftliche Werke, Gottfried Keller's Martin Salander zum Beispiel. Es gibt unvollendete Bauwerke, Skulpturen und Gemälde. Sagrada Familia. Es gibt aber auch Ruinen, archäologische Spielplätze, die uns ebenso zu fesseln vermögen wie vollendete Bauten. Oft vielleicht noch mehr.

„Er hatte ein erfülltes Leben?“ Wer hat das gesagt? Ein göttliches Wesen? Oder doch nur ein einfacher Priester, ein naher Verwandter, ein Freund? Jedenfalls ein irgendwie Verständiger. Eindazu Berufener.

Der tödliche Sturz eines jungen Bergsteigers oder Bungee-Jumpers. Der plötzliche Herzstillstand eines dementen Achtzigjährigen. Der Krebstod eines Kindes. Die Ermordung eines zuvor mehrfach vergewaltigten Mädchens. Der Tod im Bombenhagel, ausgelöst durch den Selbstmord eines jugendlichen Attentäters. Das Hinübergleiten ins Jenseits mit Hilfe einer tödlichen Substanz. Das friedliche Einschlafen eines Hundertjährigen daheim, umgeben von seinen Liebsten.

Jedes Leben bleibt - trotz mangelnder voraus- oder nachgesagter Fülle – letztlich unerfüllt. Zu jedem Leben und zu jeder Lebensäusserung kann man sich eine Fortsetzung, eine je neue Vollständigkeit, Abrundung vorstellen oder wünschen.

Es gibt sie, die Autoritäten, wie schon gesagt, die Offiziellen, die allgemein Anerkannten, selbsternannte und andere. Sie sind oder scheinen befugt, Menschen zu „Heiligen“ zu erklären, zu Stars, zu Ausnahmeerscheinungen, nicht nur im Bereich der Kirchen. Auch auf dem Feld der Kunst. Im Sport. In der Wissenschaft. In der Lebensführung. In der Moral.

Ich schreibe schon seit Monaten an diesem Versuch 7, bin schreibend unterwegs – auch das Gehen ist mühsamer geworden, der Stock fast immer griffbereit – , entferne Wörter, ganze Sätze und Abschnitte, ergänze, lasse liegen, blicke wie durch ein Kaleidoskop, trinke einen Kaffee, dann noch einen, tippe weiter, streiche erneut, trinke noch einen Kaffee.

Penelope!

Sie schützte vor, zuerst ein Totentuch für Laertes, ihren Schwiegervater weben zu müssen, bevor sie sich einem der Freier hingeben würde, trennte jedoch des Nachts insgeheim auf, was sie tagsüber gewebt hatte und verhinderte so, dass sich einer der wild entschlossenen Freier sich ihrer bemächtigte.

Eine Art von Totentanz. Erinnerung auch an Märchen. „Gevatter Tod“, „Wie eine Alte den Tod narrte“.

Die Vorstellung des Todes - der grosse schwarze Punkt - hat mich schon immer begleitet. Das „memento mori“ gehörte und gehört wie das Atmen, das Essen und Trinken seit jeher zu meinem Leben. Der Gedanke an den Tod und ans Sterben hat mich dabei nur selten bekümmert........ bis heute, wo ich jeden Morgen von neuem erlebe, dass ich tatsächlich noch lebe, wenn ich mich auch zunehmend langsam, sehr langsam von meinem Bett erhebe, einige gymnastische Verrenkungen vornehme - von der Physiotherapeutin vor Monaten wohlmeinend auf den weiteren Lebensweg mitgegeben - dann mich bemühe: gehen auf einer vorgestellten Linie am Boden, wie ein Mannequin, linker Fuss, rechter Fuss, dann auf einem Bein balancierend wie ein Storch, einmal links, dann rechts.

Ich muss ja nächste Woche wieder einmal zu meinem Hausarzt, sein Zeugnis unerlässlich für weitere zwei Jahre Führerschein, dieses Mal mit dem zusätzlichen Eintrag „Brillenträger“, obwohl ich fast von Geburt an Brillenträger bin und die Fahrprüfung vor über sechzig Jahren mit diesem Gerät auf der Nase auf Anhieb bestanden habe. Das Lenken des Autos in meiner heutigen Verfassung leichter als das unbekümmert zügige Bewegen meiner Glieder und Gelenke.

„Der Worte sind genug gewechselt, lasst uns.......“. Nein, das ist nicht korrekt. Es muss heissen „der Worte ist genug gewechselt, lasst uns endlich.....“, damit hat uns Prof. Schollenberger, unser Deutschlehrer an der Oberrealschule listig lächelnd beeindruckt und beigebracht, dass selbst ein Goethe Fehler gemach habe. Auch er war nicht vollkommen. Auch er ein ewiger Anfänger- wie alle.

Rolf hebt das fest verschnürte Papierbündel (Zeitungen, Zeitschriften, Verpackungsmaterial) zügig mit der rechten Hand in die Höhe, trägt es unaufgefordert, wie seit Jahren gewohnt, ins Kellergeschoss. Dort warten in der geräumigen Waschküche bereits zwei Bündel auf die nächste Entsorgung. Heute ist es besonders schwer, dieses elende Bündel, so erscheint es Rolf. Der dünne Bindfaden hat sich nicht nur wie jedes Mal tief in seinen Zeige- und Mittelfinger der linken Hand eingegraben, heute hat er sich recht eigentlich eingeschnitten. Die Schnur, der blödsinnig dünne Bindfaden, färbt sich rot. Leicht erschrocken bemerkt Rolf schon nach wenigen Schritten die seltsam dunkelroten Stellen am hellen Bindfaden und einige rote Stellen auf dem grauen Zementboden. Das hat er schon lange nicht mehr erlebt. In seiner Kindheit, ja, da ist so etwas immer wieder vorgekommen: blutende Hände, blutendes Knie, ein blutendes Kinn und ein einziges Mal auch eine blutende Stirn, dies nach einem Streit mit seinem jüngeren Bruder, der sich im gemeinsamen Kinderzimmer an einem seiner geliebten Bücher vergriffen; er hatte einem der zehn kleinen Negerlein, die über die obere Kante des buntfarbigen Kinderbuchs lugten, den Kopf abgerissen. Das beschädigte Buch erschien ihm geschändet, entwertet, sein geliebtes Buch mit den zehn kleinen Negerlein rücksichtslos behandelt. So schlug er halt wütend zu mit der blauen Turnhose seines jüngeren Bruders, die zufällig vor ihm am Boden lag, nicht wissend, dass in einer der Taschen eine metallene Glocke versteckt war, die metallene Glocke des Samichlauses, von seinem Bruder einige Tage zuvor heimlich eingesteckt.

Die Papierpakete müssen leichter werden, beschliesst Rolf auf der Stelle, gewohnt, in eindeutigen Situationen rasche Entschlüsse zu fassen. Und das hat ihm seine Klara ja schon oft gesagt, das mit dem Sparen am falschen Ort, am Bindfaden zum Beispiel, lächerlich. Das lächerliche Sparen auch mit dem Strom. Die Lampen in der Wohnung nur leuchten lassen, wo man sich jeweils gerade aufhält. Bestimmte Einkäufe nur dann, wenn Rabatte angeboten werden. Er klaubt sein Taschentuch aus der Hosentasche, befeuchtet es mit seinem Speichel und tupft die Blutflecken in seiner Hand sorgfältig weg.

Seit Jahren schluckt Rolf diese kleinen, dunkelroten Tabletten, einen wirksamen und deshalb häufig verschriebenen Blutverdünner, seit Jahren gewohnte Beilage zum Frühstück, einen anerkannten Vorbeuger, wie er die dunkelrote Tablette nennt, dieses hoch wirksame Medikament: dem Schlimmsten vorbeugend und zugleich eine neue Bedrohung. Die Zahl der Hirnschläge in den vergangenen zehn Jahren zwar erfreulich rückläufig, das Durchschnittsalter in den wohlhabenden Ländern entsprechend steigend, die Schweiz an der Spitze dieser Entwicklung. Beeindruckend zunehmend aber auch die Zahlungen der Altersversicherungen und Pensionskassen. Zunehmend auch die Sorge der Jungen um ihre Altersrente.

Das stetige Älterwerden der Bevölkerung hat zwiespältige Konsequenzen. Wo viel Sonne, da hat es auch viel Schatten. Jeder Vorteil wird von Nachteiligem begleitet. Jede noch so verheissungsvolle Erfindung erfährt von zuvor nicht bedachten Möglichkeiten her gefährlichen Gegenwind. Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit: Auto, Asbest, Atomenergie, Internet. Nicht ganz ungefährlich, diese famosen Blutverdünner, das weiss Rolf auch von einem seiner Freunde, der unlängst allein in seiner Wohnung, von der Treppe gestürzt und dann innert kurzer Zeit verblutet ist und dessen Rente nun entfällt.

Auch Rolf blutet seit der Einnahme dieses verheissungsvollen Medikaments leichter und ausgiebiger, das hat er schon einige Male erfahren, aus der Nase beim zu heftigen Schneuzen oder Niesen, beim Schneiden von Zwiebeln, wenn er, was selten vorkommt, mit dem scharfen Küchenmesser ausrutscht und die Finger an einem ungünstigen Ort platziert hat.

Rolf leckt noch einmal an seinen blutverschmierten Fingern, so wie er es sich seit seiner Buben- und Jugendzeit gewohnt ist, blickt erneut aufs Papierbündel, sucht nach weiteren Blutspuren am Boden. Da ist aber nichts. Alles nur halb so schlimm, findet er, schaut noch einmal prüfend auf die roten Stellen seines Papierbündels, schleckt noch einmal ausgiebig an den Fingern seiner rechten Hand, schmeckt sein Blut. Schliesslich versiegt es. Erleichtert schlurft er weiter, etwas gebückter, so scheint es.

Jetzt erst bemerkt er das zu oberst aufliegende bejahrte Exemplar des GEO: das vertraute helle Grün, dieses beliebte Magazin, das er, als seine Kinder noch schulpflichtig waren, jahrelang zur Belehrung und als zusätzliches Lese- und Lernvergnügen für die ganze Familie abonniert hatte. Rolf stellt das Bündel hin, bückt sich, und das sieht wieder so aus, als wollte er Abschied nehmen.

Das Titelblatt zeigt eine ägyptische Skulptur. Er erinnert sich sogleich an den Kopf der Nofretete, das Original ausgestellt in einem berühmten Berliner Museum, enormer Anziehungspunkt dort wie andernorts die Mona Lisa, die Nachtwache. Wilhelm Tell zu Altdorf leider nicht.

Rolf liest neben dem Abbild des Kopfes den Titel in fettem Schwarz: „Der geheimnisvolle Pharao: Tutanchamun.“ Und er erinnert sich mit Hilfe seines GROSSEN BROCKHAUS, 1977, der immer noch in der Mitte seiner Bücherwand steht, dass der ägyptische König der 18. Dynastie (etwa 1347 bis 1339 v. Chr.) bereits mit achtzehn sein Leben erfüllt hat.

Rolf hat seinen achtzigsten bereits im letzten Jahr hinter sich gebracht und mit Klara, seiner Frau, und allen seinen direkten Nachkommen und deren Angehörigen ein ganzes Wochenende lang im nahen Ausland gefeiert. Nicht laut und ausgelassen, aber ausgiebig, das Ende bedenkend. Dabei wurden keine Bücher verschenkt wie in früheren Jahren, auch keine Theaterbilletts, keine Engadiner Torten noch andere Süssigkeiten, Nougat aus Montélimar zum Beispiel. Das bemerkten seine Söhne ohne jeden Vorwurf, aber doch leicht verwundert. Man beschenkte sich schlicht damit, friedlich einige Stunden beieinander zu verbringen, und dies während dreier Tage. Gereizt hat es ihn freilich schon an jenem gemütlichen Wochenende, einige seiner Bücher loszuwerden und dabei zu erfahren, wer sich für welches seiner Bücher interessieren würde.

Seit Jahren schon trägt Rolf regelmässig die fest verschnürten Papierpakete aus Zeitungen, Zeitschriften, Briefumschlägen und farbigen Papierhüllen von dunklen Schokoladen hinunter ins häusliche Zwischenlager, jedoch noch nie eines seiner während Jahrzehnten angeschafften Bücher. Ein seit seiner Pensionierung schon längst selbstverständlich gewordenes Entsorgungsritual. Neue sollten bald hinzukommen.

Vor einigen Wochen hat er nämlich zur Überraschung und Freude seiner Frau begonnen, seine geliebte, wunderbare Bücherwelt mit anderen Augen anzuschauen.

Seine Bibliothek, seine bunte, vielfältige Bücherwelt, während nahezu sieben Jahrzehnten herangewachsen, beanspruchte in ihrer Blütezeit eine ganze Wand seines geräumigen Arbeitszimmers, zählte auf ihrem Höhepunkt weit über zweitausend Bände, all die schönen und noch wie neuen DU- und GEO-Hefte nicht mitgerechnet. Druckwerke vom Boden bis zur Decke, munter unordentlich gestapelt, einigermassen nach Fachgebieten geordnet: alte, sehr alte, aber auch viel Neues, während Jahrzehnten fast unmerklich herangewachsen, alles andere als eine Bibliothek à la Kinsey Marable, bei der man sich seine erträumte oder kühl berechnete Bibliothek nach Mass auf ein bestimmtes Datum hin einrichten lassen kann. Rolfs Bibliothek war Ergebnis von etwas Lebendigem, Organischem, Ergebnis und Relikt seiner persönlichen Geschichte – mit entsprechenden Mängeln, Glanzstellen und Unzulänglichkeiten.

Da steht und liegt also auch viel Ungelesenes, auf später Verschobenes, aber auch manch doppelt und dreifach Gelesenes. Nicht nur Fachliteratur - Philosophie, Psychologie, Pädagogik. Geschichte - , auch Belletristik in verschiedenen Sprachen und eine Menge von grossen, schweren Druckwerken über Kunst und Architektur, Erinnerungen an unzählige Museumsbesuche im In- und Ausland. Und da ist auch der bereits erwähnte vielbändige letzte Brockhaus. Und nicht zu übersehen all die Reisebücher und Foto-Alben, letztere von Klara liebevoll beklebt und zierlich beschriftet.

Wo Bücher sind, da hat es gewöhnlich auch viel Staub. Und da war und ist auch immer wieder viel Staub. Hinter den Büchern zudem befremdlich dunkle Krümel: ausgetrocknete Mücken, Fliegen, Spinnen, seltsam Gruseliges. Bücherwürmer, so die spassige Aussage von Rolf, wenn Klara belustigt und immer wieder leicht vorwurfsvoll danach fragte. Vor allem aber und immer wieder dieser Staub, dieser stille, graue, samtig glänzende Staub.

Rolf ergreift alljährlich im Frühling den alten, aber stets sogleich anspringenden Staubsauger und allerhand feuchte Lappen, die stets im kleinen Abstellraum von seiner Klara bereit gehalten werden. Manchmal, vor allem wenn Klara sich zufrieden und anderweitig beschäftigt ins Wohnzimmer zurückgezogen hat, bläst er kurzerhand über die Bücher hinweg - husch! - der Staub fliegt auf, scheint sich zu verflüchtigen , er hustet kurz, wendet den Kopf zur Seite, greift zum Taschentuch in seiner rechten Hosentasche - Papiertaschentücher vermeidet er zum Leidwesen von Klara - , bläst erneut vor allem über lange nicht gelesene Bücher hinweg und beschafft sich in aller Ruhe den nächsten feuchten Lappen.

Es kam jedoch die Zeit, nach Jahrzehnten des stetigen Wachstums, Bücher und Zeitschriften schliesslich bis zur Decke seines Arbeitszimmers, da setzte der Umschwung ein, von niemandem erwartet, ausser im Geheimen von Klara erhofft: die zuvor von Rolf nie bedachte Phase des Nachlassens, des Schwindens. Auch Rolfs Kräfte hatten nachgelassen, erfreulicherweise erst viele Jahre nach seiner Pensionierung, auch seine Sehkraft, sein Gehör, sein Drang nach Abwechslung, nach neuen Erfahrungen, Museen, fremden Ländern, neuen Liebschaften und Liebesformen und vor allem sein Verlangen, sein Drang, seine unbeschreibliche Lust auf erlesene ungelesene Bücher.

Es war einmal an einem trüben Morgen – er hatte wieder einmal von antiken Büchern und herrlichen Bibliotheken geträumt, von den Stiftsbibliotheken in St. Gallen und Einsiedeln - , wie aus dem Nichts heraus überkam ihm der Gedanke, der ihn seltsam belebte: einige seiner Bücher verschwinden zu lassen, zuvorderst die hässlichsten, die mit den Fett- und anderen Schmutzflecken, die mit den Eselsohren und andern Beschädigungen, von seinen Hunden angeknabberten, auch die mit fehlenden Seiten, einige dieser platzraubenden, unvollständigen Druckwerke zu entsorgen und damit sich nicht nur von einer Last zu befreien, sondern auch die Arbeit seiner Nachkommen, seiner Erben zu erleichtern.

Noch am selben Tag – seine Frau zu Besuch bei einer Freundin, die keine eigene Bibliothek besass und ihren Lesestoff lieber aus allerhand Zeitschriften bezog - liess er einige für ihn schon längst gänzlich unbedeutend gewordene Bücher verschwinden, zuvorderst den letzten Grossen Brockhaus, dann einige lädierte Bände von Karl May, ein nicht mehr aktuelles gewichtiges, reich bebildertes Doktorbuch, einige Bücher über Freikörperkultur mit vergilbten Fotos von germanischen Schönheiten - geerbt von seinen Eltern - , seit Jahrzehnten auf wechselnden Tablaren in Ruhe gelassen, schiere Schaustücke, Lückenfüller und vor allem elende Staubfänger, ohne jedes praktische oder sentimentale Gewicht, ohne jede lebensdienliche Bedeutung.

Niemand bemerkte zunächst etwa von diesen Vor- und Abgängen, weder seine Söhne, die ab und zu, aber immer seltener, zu Besuch kamen, noch Klara, seine besorgte Gattin. Sie schien weiterhin bloss die für sie ewig gleiche, farbenfrohe, unordentliche Bücherwand zu sehen und ahnte, ohne eigens hinzublicken, wie immer den lästigen Staub auf und vor allem hinter all diesen Druckwerken, befürchtete vertrocknete Insekten, Gruseliges, aber vor allem und immer wieder den Staub, der sich wie Asche ausnahm. Wie Asche, dachte sie, grau und so weich und glänzend.

Die Entsorgung seiner Bücher kam jedoch nur langsam, sehr langsam in Fahrt. Rolf schien wieder einmal zu zögern.

Erst einige Wochen später platzierte er zwei abgelebte hellblaue Wäschebehältnisse aus Plastik und eine grosse Kartonschachtel direkt vor sein mächtiges Büchergestell. Da hinein würde er nun all die Bücher und Broschüren legen, werfen oder schmeissen, Bücher, die weder er, noch seine Frau und noch weniger seine drei Söhne für sich behalten wollten. Klaras Begeisterung begann sich zu regen, als sie davon erfuhr. Ihr Rolf schien nicht nur Überlegungen anzustellen zum Schicksal seiner Bücher, nein, er hatte sich tatsächlich angeschickt, aktiv zu werden. Und sie hielt nicht zurück, ihren vermeintlich zur Vernunft herangereiften Gatten dafür nicht nur zu loben sondern eifrig zu ermuntern, auf diesem für sie noch ungewohnten Weg recht weit zu gehen. Per Email erhielten seine drei Söhne noch zwei Mal eine lange Liste mit genauen Angaben über all die Druckwerke, von denen er sich in einem ersten Anflug von Trennungslust lösen wollte, und setzte grosszügig einen Abholtermin. Einer reagierte eine Woche später aufs zweite Email, der jüngste. Er bedankte sich für die grosszügige väterliche Offerte, schrieb vom Abschiednehmen, das sanft stimme, und erwähnte ganz allgemein die damit verbundenen Gefühle und Aussichten, ohne jedoch auf das grosszügige Angebot seines Vaters einzugehen. Er schien besorgt.

Klar, Rolf hatte schon vor Jahren widerwillig zur Kenntnis nehmen müssen, dass vor allem all seine Baedeckers, Michelins, Städtebücher, Merian- und andere Reisebücher, DuMont zum Beispiel, all die grossen und kleinen Landkarten von Andorra bis Zuidersee wohl kaum einen begeisterten Abnehmer finden würden. Wer könnte sich an all diesen so frisch wirkenden aber in die Jahre gekommenen Druckwerke noch erfreuen? Das müssten ganz besondere Sammler sein, keine Recycler, bewahre, sondern Antiquare, Sammler mit Verständnis und Liebe für längst Gewesenes, auch für Ab- und Ausgestandenes, Abgegriffenes, für Spezielles.

Kurz darauf überkam ihn nach einer der seltenen schlaflosen Nächte ein weiterer Einfall, der ihn weit mehr erheiterte als der erste, und ihn auf eine neue Art aktiv werden liess. Könnte er nicht, so seine Überlegung, beim nächsten Einkauf im Shopping Center in der Nachbargemeinde, allein oder zusammen mit Klara, beiläufig und unbemerkt einen veralteten Michelin, eine nicht mehr aktuelle Landkarte, einen nie gelesenen Gedichtband in eines der Verkaufsgestelle legen? Beim nächsten Besuch des Cafés VERSUCHUNG oder des beliebten rustikalen Restaurants RÜTLI mit der wehenden Landesfahne ein Kochbuch, ein altes Wörterbuch, ein Buch über die Erziehung von schwierigen Kindern, einen abgegriffenen Band von Heidegger, Holzwege, Klostermann, 2003, einfach aufs Geratewohl nicht irgendwo liegen lassen, sondern an einem ausgewählten Ort? Er versuchte, sich alle diese Dinge genau vorzustellen, die Reaktionen der betroffenen Personen, wenn diese auf dem Tisch im Café, versteckt unter der bereitliegenden Papierserviette oder vielleicht in einer Nische auf dem Weg zum WC des Cafés oder gar im WC ein Buch finden würden.

Er besass übrigens zwei Freunde, die hatten in ihrem Klo daheim eine kleine Bibliothek eingerichtet, gleich über dem Spülkasten, keine Klassiker, keine Philosophen, kein „Faust“ und kein „Gantenbein“, klar, sondern humoristische Büchlein, mit Zeichnungen versehen, überraschenden Bildern. Auch von Loriot und Tomi Ungerer.

Während der kommenden Tage versuchte Rolf nun, seltsam erregt, sich das Verhalten, vorzustellen, die Reaktionen der verblüfften Finder. Zudem malte er sich aus, wie er selber reagieren würde, wenn er unvermutet auf dieses oder jenes Buch stiesse – mitten im Wald oder versteckt unter dem Haufen Zwiebeln beim Grossverteiler. Könnte er nicht auch während eines seiner täglichen Spaziergänge ein zum Verschwinden bestimmtes Druckwerk im nahen Park oder auf einer Sitzbank am Waldrand liegen lassen, etwa beim Teich im Wald hoch über dem See oder - warum nicht? - auf der Rütliwiese in Seelisberg, in der Wiege der Eidgenossenschaft - , verbunden mit einem ganztägigen Ausflug? Hierbei dachte er an „Das kleine Buch..... für alle, die die Schweiz lieben.“ Das ausgesetzte Druckwerk, so sagte er sich, sollte doch irgendwie zum Fundort passen. Dann würde sich vielleicht auch eher der passende Finder einfinden, ein Mensch, der sich über den unerwarteten Fund echt freuen würde, so wie etwa über ein überraschendes Geschenk zu Weihnachten oder zum Geburts- oder Namenstag.

„Ja, das werde ich wirklich tun“, überlegte er, „ für jedes Buch einen geeigneten Fundort ausdenken“.

Er ging hin in sein Arbeitszimmer und griff ohne langes Suchen zu folgenden Büchern und legte sie aufs zierlich marmorne Tischchen:

DER KORAN, Goldmann Verlag München

DIE IDYLLE VOM HOLZ von Heinrich Hunziker, Büchergilde Gutenberg, Zürich 1951

ICH GRATULIERE ZUR GROSSEN LIEBE, Neff 1992

REISE EINER SCHWEIZERIN UM DIE WELET von Cäcilie von Rodt, Verlag F. Zahn, Neuenburg 1903 ( 3500 Gramm schwer)
HEXEN (Glaube, Verfolgung, Vermarktung) von Wolfgang Behringer,Verlag C. H. Beck, 4. Auflage 2005

GOLFREGELN + ETIKIKETTE von Cédric Ton-That, 6. Auflage, E.Albrecht Verlag, 2000

LABYRINTH Stoffe I-III Der Winterkrieg in Tibet, Mondfinsternis, Der Rebell, Friedrich Dürrenmatt, Diogenes 1998.

Klara hielt sich trotz aller Freude sichtbar zurück, als ob sie befürchtete, der Eifer ihres Gatten könnte erlahmen wie schon oft. Aber sie überlegte, wie sie sich erkenntlich zeigen könnte. Ihr Gatte als Entsorger seiner Bibliothek, unglaublich, wunderbar, einer Bibliothek mit so viel Staub, dahinter gruseliges Getier und Gebrösel. Sie überlegte, wie sie ihm nicht nur danken, sondern wie sie ihn auf ganz besondere Weise belohnen könnte. Aber wie? Wie belohnt man den angetrauten, spät ergrauten Gatten, der nach Jahren des organischen Aufbaus einer eigenen Bibliothek sich endlich daran macht, dieser prächtigen, während Jahrzehnten herangewachsenen Bücherwelt den Garaus zu machen, endgültig zu entsorgen. Sie war besorgt, nichts zu verderben.

Während Klara freudig erregt ihre Überlegungen anstellte, darüber den gewohnten Haushalt jedoch weder vergass noch vernachlässigte, schliesslich einige Tage später zu einem Ergebnis kam, welches auch ihn in Entzückung versetzen würde, kamen die so rasch entflammten Aktivitäten von Rolf, kaum angefangen, bereits ins Stocken. Er war wiedere einmal ins Grübeln geraten. Wenn ich jeden Tag ein Buch entferne, so überlegte er, die Sonntage ausgenommen, dann brauche ich Jahre, bis meine Bibliothek entsorgt ist. Das erlebe ich ja gar nicht mehr.

Rolf bewältigte auch diese Krise. „Der Weg ist das Ziel“ , rief er sich in Erinnerung und blies den Staub , die weiche Asche über das matt violette im Jugendstil gehaltene Buch hinweg, hinweg über typisches Jugendtil-Geranke und goldene Buchstaben: Gedichte von Richard Wagner, Grote'sche Verlagsbuchhandlung Berlin 1905. Er blätterte kurz, hielt zufällig auf Seite 105 an, und las die erste Strophe des Gedichtes „Mit einer Gänseleberpastete“ (An Friedrich Feustel):

So schuf es Gott, der Freudengeber:
Der Kummer nagt uns an der Leber,
Die Angst doch schwellt sie an der Gans;

Der Noth und Sorgen weidlich schmähte,
Weil beides ihm den Bauch aufblähte.

Er las nicht weiter und legte auch dieses Buch auf den kleinen Stapel Bücher auf dem marmornen Tischchen.

Meine besorgten Gedanken um meinen Versuch ENTSORGUNGEN hatten sich in Nichts aufgelöst. Fast. Ein weites Feld sah ich vor mir, ein unbestimmtes Feld. Zu jedem Buch, das Rolf aus dem grossen Gestell herausnimmt, den Staub, wenn nötig, kurz und kräftig wegbläst, würde sich eine Geschichte ergeben, schliesslich mehr Geschichten als in „Tausend und einer Nacht“. Und in jedem Augenblick, wann immer ich will, könnte ich aufhören.

Da waren einige Entsorgungen, die sich, kaum begonnen, in nichts auflösten, gleichsam wie Seifenblasen platzten. So erging es dem Buch „Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Reisen und Abenteuer“ (Büchergilde Gutenberg Zürich 1954), platziert an einem Ententeich, am Mühleweiher, unweit von Rolfs Wohnort. Die Post brachte das mit Illustrationen von Gustave Doré geschmückte Buch neu verpackt bereits nach einer Woche zurück. Rolf hatte in seinem Eifer übersehen, dass sein Name samt Adresse auf dem zweiten Deckblatt abgedruckt war. Mit dem kleinen Bändchen „Ich gratuliere zur grossen Liebe“, Neff 1992 ging's noch rascher. Rolf hatte das Büchlein im vertrauten Café VERSUCHUNG unter einer Tageszeitung auf dem Bistro-Tischchen liegen lassen. Die Serviertochter rannte ihm laut rufend nach auf die Strasse, das Büchlein wild in der Luft schwenkend. Verdattert und leicht errötend dankte er etwas zu überschwänglich für diese unerwünschte Aufmerksamkeit.

Es war einmal ein in die Jahre gekommener Mann. Er hiess Rolf. Dem war während vieler Jahre eine grosse Bibliothek durch eigenes und fremdes Tun herangewachsen.

Eines Tages, es war Herbst, die Blätter an den Bäumen hatten bereits angefangen, nicht nur ihr Grün zu verlieren sondern sanft auf den nassen Erdboden zu fallen, da blätterte Rolf nach dem Nachtessen in diesem hübschen kleinen „Buch.... für alle, die die Schweiz lieben“, Wilhelm Heyne Verlag 1995, las einige Kapitel vom Anfang bis zum Ende durch. Dann legte er das Bändchen auf die Seite.

Am folgenden Morgen fuhr er zusammen mit seiner Klara hinüber in den Nachbarort zum Grossverteiler. Der wöchentliche Grosseinkauf. Auf dem Weg zur Kasse fiel ihm etwas Rotes auf, ein helles Rot, dann auch Weisses, aber immer wieder rot, rote Fähnlein, rote Kerzlein und Kerzen, Lampions, rote Gläser, Kugelschreiber und überall mit vielen Schweizer Kreuzlein drauf, rotweisse Papierserviettchen und Papiertaschentücher, alles speziell hergerichtete Artikel zum Schweizerischen Nationalfeiertag (incipiente mense Augusto, d. h. 1. August), bereits seit Ostern grossflächig zum Verkauf bereitgestellt, zum grossen Teil „made in China“, was ihn nicht erstaunte.

Rolf schaut prüfend um sich. Nichts Auffälliges, weder Kunden noch Kundinnen in der Nähe und hoffentlich keine Video-Überwachung. Erstaunlich schnell und von Klara unbemerkt schiebt er das hübsche Büchlein unter einen kleinen Berg von heimatlich anmutenden Tüchlein, bedruckt mit Alpenrosen, Edelweiss und Enzian. Mit kleinen Schritten bewegen sich Rolf und Klara zur Kasse, wo gerade am wenigsten Kunden anstehen. Das Self-Scanning, dort wo die Jungen hingingen, haben sie wie gewohnt vermieden.

In diesem Augenblick schlendert Ibrahim S. mit seinem schwach gefüllten Einkaufskorb zwischen den mit Esswaren gefüllten Gestellen, sieht unbeeindruckt vorerst das viele Rot, die Lampions, all die Schweizer Fähnchen und Kreuzchen, Gläser und Kerzen, greift in diesen Haufen von farbigen Tüchlein, sieht erstaunt und leicht belustigt die ihn leicht befremdende alpine Flora: rot, weiss und blau, stösst dabei auf das von Rolf versteckte Büchlein, erschrickt leicht, hebt es in die Höhe, schaut kurz in die Runde, nein, er ist unbeobachtet, er wendet das rote Büchlein hin und her, blättert darin, schaut erneut in die Runde. Wird er nicht beobachtet? Ist da nicht irgendwo eine Video-Kamera?

Er scheint überrascht, etwas Wichtiges erlebt zu haben, vielleicht eine Sternsekunde seines Lebens. Auffällig ruhig und wie selbstverständlich legt er das Büchlein zu den Datteln, Feigen, Gurken und Beeren in seinem Einkaufskorb.

Der dunkelhäutige Kassierer mit krausem Haar verweigert ungerührt die Annahme des Büchleins und meint trocken, dieser Artikel gehöre nicht zum Sortiment des Hauses, hier würden keine solchen Büchlein verkauft, auch wenn es mit noch so vielen kleinen Schweizer Kreuzchen bedruckt sei. Und übrigens - er streckt ihm das Büchlein unter die Nase - , hier fehle das übliche Preisschildchen, ob er denn das nicht bemerkt hätte.

Ibrahim ist leicht verwirrt ob dieser Zurechtweisung. Wie ein ertappter Dieb kommt er sich vor. Wenn das nur gut ausgeht! Er ist ja gar kein Dieb, aber das wissen nur er, seine Familie und seine Freunde. Er ist ein anständiger Kerl, und als solcher fühlt er sich berechtigt, demnächst Schweizer zu werden und Gauner, das weiss er, das hat er schon oft genug gehört, Gauner würden von den ordentlichen Schweizern und Schweizerinnen mit Recht abgelehnt, ins Gefängnis gesteckt oder erbarmungslos ausgewiesen. Und er will doch endlich Schweizer werden und als solcher, wie bisher, ein anständiges, glückliches Leben führen inmitten von glücklichen, anständigen Gleichgesinnten. Er liebt ja die Schweiz mehr als viele, die sich Schweizer nennen und dieses rote Büchlein schon lange besitzen, ohne Prüfung, den Schweizer Pass.

Die ersten erfolgreichen Schritte hat Ibrahim schon hinter sich, Formulare ausgefüllt, ernsthafte Gespräche geführt mit allerhand Beamten und Beamtinnen. Nun steht er da im Grossverteiler, verwirrt, unschlüssig, was er tun soll, um ja nichts falsch zu machen. Es schwirrt in seinem Kopf, die Worte fehlen ihm, der sich sonst so gut auch in der hiesigen Mundart auszudrücken gelernt hat.

Die ungeduldig anstehende Käuferschlange hinter ihm drängt indessen beharrlich vorwärts. Einige schütteln unwillig ihre Köpfe, murmeln Unverständliches. Ibrahim reisst sich zusammen, schüttelt seinerseits den Kopf und legt kurzerhand Datteln, Feigen, Beeren u.a.m. zur genauen Verbuchung aufs schwarze Förderband. Das hübsche Büchlein hat er wortlos eingesteckt.

Ibrahim lebt schon seit vielen Jahren in der Schweiz. Er und seine Familie vor mehr als dreizehn Jahren als Flüchtlinge aufgenommen, ist schon lange fest entschlossen, das Schweizer Bürgerrecht zu erwerben. Er fühlt sich hier zu Hause. Seine neue Heimat. Er liebt das Jodeln, bestaunt die hiesigen Schwinger, die Hornusser. Sein Leumund tadellos, besser als der vieler seiner Freunde und Bekannten, die alle Schweizer sind. Nicht nur als Informatiker bestens integriert sondern auch als Aktivmitglied in einem Fussballclub der 3. Liga und als Freiwilliger bei der Feuerwehr seiner Wohngemeinde. Neben der anerkannten altehrwürdigen NZZ (NEUE ZÜRCHER ZEITUNG), gegründet 1780, hat er seit kurzem zudem auch den viel jüngeren NEBELSPALTER abonniert (gegründet 1875), ein renommiertes Satiremagazin, obwohl dieses Blatt sowohl bei bei seinem Coiffeur als auch bei seinem Zahnarzt aufliegt. Zudem ist er vor einem Monat von zünftigen Freunden eingeladen worden, am kommenden Sechseläuten, dem Frühlingsfest der Stadtzürcher, mitzumarschieren und mitzuraten, wie lange es daure, bis der Kopf des Bööggs explodiere. Und er dachte daran, wie lange es wohl noch gehe bis zum erlösenden Bericht, dass er endlich Schweizer geworden sei.

Noch steht die von vielen Ausländern gefürchtete schriftliche Befragung durch die Behörde seiner Wohngemeinde bevor. Man verzichtet hier versuchsweise auf eine detaillierte mündliche Schlussbefragung. Die zuständigen Behördenmitglieder fühlen sich bei dieser politisch und menschlich heiklen Aufgabe, so wird gemunkelt aber von niemandem bestätigt, angeblich nicht behaglich.

Der merkwürdige Fund, diese Sternsekunde, dieses niedliche „Buch ... für alle, die die Schweiz lieben“ war ihm wie ein Wink des Schicksals erschienen. Er würde es schaffen. Ja, er wird es schaffen. Bald schon würde er im Besitz eines Schweizer Passes sein. Eifrig las er sich in den folgenden Tagen durch die 140 Seiten, fand tatsächlich einiges, das ihm für die bevorstehende Befragung nützlich sein könnte, amüsierte sich an den Karikaturen, machte fleissig Notizen, besprach sich mit seinen Schweizer Freunden und Freundinnen, besprach sich auch mit seinem Chef, einem vor zwei Jahren eingebürgerten Chinesen.

Schliesslich kam der Tag der schriftlichen Prüfung. Gross die Nervosität bei Ibrahim.
Es gab Fragen zur Beherrschung der deutschen Sprache als auch solche, welche die allgemeinen Kenntnisse über die neue Heimat und deren Geschichte ans Licht bringen sollten. Darüber war er informiert.

Hier nun eine der Prüfungsfragen aus dem Mundart-Sprachtest:

Wie heisst folgender Satz auf Mundart?
„Eine Bauernfrau haut aus Trauer eine Sau.“

Weitere Fragen betrafen das Hochdeutsche, so wie diese: Wie lautet die Mehrzahl folgender Substantive (Hauptwörter)?
Mutter, Kutter,Vater, Kater, Bruder, Luder, Ast, Mast, Bach, Bache, Sache, Glück.

Dreiviertel der Fragen galten der Überprüfung des helvetischen Allgemeinwissens der Gesuchsteller. Hier eine Auswahl, die auch geborene Schweizer und Schweizerinnen interessieren könnten:

Was gilt für Sie als besonders Schweizerisch? ( es sind mehre Antworten möglich).

• rasches und verständliches Reden
• Akzeptanz der aktiven Sterbehilfe
• Schwarzgeld
• Freiheit
• Sicherheit
• Hornussen
• Tennis
• Fremdenfreundlichkeit
• Jodeln
• Alphornblasen
• Sparsamkeit
• Misstrauen gegenüber Fremden
• Lebensfreude
• Käse
• Liebe für Zigeuner

Woran würden sich die andern Länder (Ausländer) hier in der Schweiz die Zähne ausbeissen? (es sind mehrere Antworten möglich)

• Bankkundengeheimnis
• Bündnerfleisch
• Engadiner Nusstorte
• Walliser Roggenbrot
• Schweizer Zollfreilager
• direkte Demokratie
• Erwerb des Schweizer Bürgerrechts
• Käsefondue
• Nougat aus Montélimar

Wo ist Wilhelm Tell heute noch in der Schweiz und darüber hinaus anzutreffen?(3 Antworten)

• Löie z Nottiswil
• Altdorf
• Schweizer Produkte
• England
• China
• Gasthof
• Oper von Gioachino. Rossini
• Teller
• Armbrustschiessen
• Schauspielhaus Zürich

Fragen zur Geschichte der Schweiz.
Seit welchem Jahr hat die heutige Schweiz ihre heutige staatlich-demokratische Organisation?

• 1291
• 500 vor Christus
• 1555
• 1336
• 1848
• 2200

Welche der folgenden Aussagen ist korrekt?

• Zwingli hat das Zölibat eingehalten.
• Die Schweiz besitzt drei Generäle.
• Hitler war in der Schweiz beliebt.
• Maggi und Nestle waren Ausländer.
• Pestalozzi war ein Pestkranker.
• Die Juden dürfen in der Schweiz seit 1291 ihren Wohnort frei wählen.
• Die Schweizer sind ehrliche Rosinenpicker.

Das Resultat aus dieser Befragung samt der abschliessenden Mitteilung „aufgenommen“ oder „abgelehnt“ erhielt Ibrahim vierzehn Tage später per B-Post zugestellt.

Auf Grund des strengen Amtsgeheimnisses können wir darüber leider keine Auskunft geben.

Das stimmt freilich so nicht. Aber es passt, dieses moderne Märchen mit Ibrahim und seinem überraschenden Erlebnis, Ibrahim, der unbedingt Schweizer werden wollte, unvermutet beim Grossverteiler ein listig verstecktes Büchlein entdeckte, verschwitzt und mit Herzklopfen zur schriftlichen Prüfung seiner Tauglichkeit zum Schweizer antrat bis hin zum bangen Warten auf die B-Post-Antwort und der Erwähnung des Amtsgeheimnisses.

Von all diesen Dingen hat Rolf bloss geträumt und anschliessend, noch im Halbschlaf, unbekümmert weiter entwickelt. Er hat sich all diese merkwürdig anmutenden Dinge bloss so vorgestellt wie weiland Max Frisch.

Und Rolf stellte sich angeregt weiter vor, wie dieses Büchermärchen, die Entsorgung seiner Bücher weiter gehen könnte.

Er appellierte hoffnungsfroh an alle Bücherfreunde, auch übers Internet, eines seiner oder ihrer Bücher auszuwählen – vielleicht den „Koran“, „Ich gratuliere zur grossen Liebe“ oder „Die Idylle vom Holz“ - , und sich dazu den passenden Fundort auszudenken samt den merkwürdigen Ereignissen, die sich daran anknüpften würden.

Verstanden?

Also versuch es! Versuchen Sie es! Versucht es doch! Es ist so einfach. Wahl eines Buches, dann davon träumen und sich alles weitere vorstellen. Dann eintippen! Es muss ja nicht alles stimmen, was da Wort für Wort wiedergegeben wird, aber es sollte schon passen.

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