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FRÜHER

Früher war die Siedlung am Ende des Sees eine Kleinstadt. Noch früher war dort überhaupt nichts da von einem Dorf, Städtchen oder einer Stadt. Etwas später vermutlich ein paar Hütten auf Pfählen, von Bauern bewohnt, die auch dem Fischfang nachgingen. Noch später dort am Ufer des Abflusses vor der Wasserkirche die Stätte, wo Felix und Regula samt Exuperantius, ihrem treuen Begleiter, wegen ihres Glaubens geköpft wurden. Als amtliches Stadtsiegel lebt das heilige Trio munter weiter bis auf den heutigen Tag. Später befand sich dort am Ausfluss des Sees, der des Nachts, von oben besehen, wie eine grosse schwarze Banane aussieht, sogar eine Pfalz, dann der Lindenhof. Später dann am selben Ort eine Freimaurerloge. Und die gibt’s heute noch. Eine Kleinstadt ist diese kleine Stradt auch später geblieben. Nur etwas grösser als früher. Bis auf den heutigen Tag. Und sie wächst stetig weiter.

Nachtrag: zur Zeit des Römischen Imperiums hiess der Ort Turicum.

„Was gewesen ist, wird wieder sein, und was geschehen ist, wieder geschehen; es gibt nichts Neues unter der Sonne“( Prediger 1,9).

Früher war alles anders. Früher war vieles besser.Wirklich? Früher war doch vieles schlechter. Nicht nur der Stäfner Räuschling. Und manches existierte überhaupt noch nicht.

Früher.

Vieles.

Früher oder später.

Und was kommt noch alles auf uns zu, bis der Erdball vielleicht einmal untergeht?

Früher oder später?

Zurück zum Stäfner Räuschling. Ich war noch Student, ein neugieriger Anfänger, der noch lange nicht ans Schlussexamen denken wollte und deshalb und aus anderen Gründen ab und zu in der „Oepfelchammer“ am Rindermarkt anzutreffen. Saubillig, dieser Räuschling, sorry, sauer und billig. Gut für den Geldbeutel eines nicht eben begüterten Studiosus von damals in den Füfzigern des 20. Jahrhunderts. Als Studenten tranken wir diesen Weisswein vom Zürichsee, keinen Klevner also – wie clever! - klugerweise nicht schon zu Beginn eines übermütig feuchtfröhlchen Abends, sondern erst gegen sein Ende hin, so etwa nach zehn Uhr, oft erst sehr kurz vor der Polizeistunde um Mitternacht. Die Gäste mussten zu jener Zeit spätestens bis halb eins das Lokal verlassen haben, sonst rückte pflichtbewusst die Polizei an und sorgte nicht so sehr für Ruhe sondern vor allem für die Einhaltung der gesetzlichen Verordnung: Ausschankverbot nach Mitternacht. Türschluss der Gasststätten um halb eins. Und verteilte Geldbussen, deren Höhe ich schon längst vergessen habe.
Rossbolle, das heisst Pferdeäpfel auf Strassen und Plätzen der Stadt. Früher gang und gäbe in den dreissiger Jahren und wohl noch später. Gut für die Rosen, die Beerenstöcke und den Rhabarber im Schrebergarten, sorry, im Familiengarten. Hundescheisse auf den Trottoirs und an den Schuhsohlen von unachtsamen Fussgängern und -gängerinnen und weit und breit keine Robidogs, keine dieser unübersehbaren grünen Blick- und Kotempfänger von heute.

Die schönen Kleider und Schuhe für den Sonntag, die weniger schönen, abgetragenen für den Werktag. Man kannte früher die Blue und andere Jeans noch nicht, diese neuartige zivile Uniform, die Jahre später von Frauen, Männern und Kindern an allen Tagen und selbst in der Oper und an klassischen Konzerten als selbstverständlich hingenommen wurde, auch wenn sie künstlich erzeugte Löcher oder andere Beschädigungen aufwies.

Gezielte Schläge auf die Hand von unfolgsamen Buben und Mädchen. Vor allem von Buben. Mit dem Meerrohr. Restbrot. Tschumpeli. „Aufschreiben“ im Konsum, wenn man kein Bargeld zur Verfügung hatte, jedoch das Vertrauen der Verkäuferin oder des Verkäufers. Das Geld brachte man dann gewöhnlich am Ende des Monats, wenn der Vater den Lohn bezogen hatte. Oder auch später.

In unserem Konsum jedoch sah ich als Kind nie einen Verkäufer. Und der „Verkäufer“ ist mir vorhin wohl so in die Zeilen gerutscht, weil man heute, viele Jahre später, das heisst seit der erfolgreichen Emanzipation der Frau, beim Reden und Schreiben irgendwie sensibler auf die Diskriminierung eines der Geschlechter geworden ist. Trotzdem scheint die häusliche Gewalt nicht abgenommen zu haben.

Und der Milchmann am frühen Morgen, der auch Butter, Rahm und Joghurt mit sich führte. Hier war von Anfang an die monatliche Abrechnung üblich gemäss den Eintragungen im Milchbüchlein. Auch beim freundlichen Metzger und Wurster Haller in der Zürichbergstrasse gegenüber dem Hotel und Restaurant Plattenhof konnte man aufschreiben lassen. Ein damals selbstverständlicher, sehr verbreiteter Dienst an den Kunden und Kundinnnen, die man zum grössten Teil persönlich kannte, mit denen man sich über so manches austauschte, auch über Privates. So war es doch früher, der damals übliche Dienst an den treuen Kunden aus dem Quartier. Und Kundinnnen. Mädchen und Buben. Ausdruck von Vertrauen und verständnisvoller Rücksichtnahme auf prekäre finanzielle Verhältnisse in manchen Familien.

Keine Selbstbedienungsläden weit und breit. Keine abgesicherten Einkaufswägelchen. Keine Bankomaten und Multimaten. Keine Robidogs, wie schon erwähnt, aber gerne wiederholt. Kein Fernsehen.
Einige wenige besassen bereits einen Radio-Apparat. So auch unsere Familie. Kombiniert sogar mit einem Grammophon. Höchster Luxus, den sich in meiner Kinderzeit – in den dreissiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts - nur wenige leisten konnten.

Kein Computer. Kein Google Earth. Kein Handy. Kein iPod. Keine Facebook-Parties. Nichts da von Wikipedia. Keine Autobahnen. Kein Offshore-Leaks. Kein AKW. Keine Jets. Und damit auch kein Jetset mit seinen VIP.

Aber auch keine AHV. Nichts da von den drei Säulen als Stützen für die alten Tage. Jeder war für Herbst- und Winterwärme seines Lebens selber verantwortlich. Entsprechend
die Sorgen und Ängste bei vielen, die über sechzig waren. Und manche Mutter und mancher Vater hoffte, dass die eigenen Kinder sich nicht frühzeitig abwenden oder gar auswandern würden.

Aber der Zeppelin über Zürich. Das war kein Event. Das war ein Ereignis. Ein Grossereignis, an das ich mich immer wieder erinnere. Auch nach über fünfzig Jahren. Gent! Wirklich gent!

Keine Waschmaschine. Keine elektrische Kaffeemaschine. Kein Geschirrspühler. Kein Steamer. Keine elektrische Zahnbürste.

Und niemand hob beim Anblick seines Freundes oder Kollegen unwiderstehlich ruckartig seinen rechten Unterarm steil in die Höhe, um die Hand seines Gegenübers mit offener Hand ostentativ kräftig zugreifend zu grüssen. Man gab sich früher ganz einfach die Hand, indem man den rechten Unterarm ruhig ein wenig hob und in Richtung der offenen Hand des anderen schob. Im Winter streifte man höflicherweise (als Rechtshänder) vor dem handgreiflichen Grüssen zuvor den rechten Handschuh ab, auch wenn sich das Gegenüber freundich wehrte. Wenigstens die rechten Rechtshänder. Gent! Toll! Geil! Und wir erinnern uns dabei gerne an einen Spruch von Wilhelm Busch:

Denn wer nicht höflich nach allen Seiten,
Hat doch nur lauter Verdriesslichkeiten.

Geil! Super!Mega! Cool! Megacool! So hört man heute sagen.

In meiner Schulzeit sagte man ganz einfach „gent“ (tschent). Oder toll. Oder gar maximal. Das war wohl das Höchste an verbaler Wucht und luftig fröhlicher Übertreibung. Pardon: supermaximal war auch hie und da gebräuchlich. Doch davon später. Äxgüsi!

Früher war vieles oder doch einiges anders. Banal. Selbstverständlich. Und zwar nicht nur für die, welche heute in den Ferien Museen, alte Schlösser und Kirchen besuchen, nicht genug davon bekommen und dabei so in Fahrt geraten, dass sie sich als alte Römer oder Griechen oder auch als Burgherr, Ritter und Burgfräulein verkleiden, ihre Hände vorübergehend vom Computer lassen und mit wohllüstigen Fingern aus Holztellern oder Mulden im Tisch fressen, sich selig mit Met kühlen oder gar volllaufen lassen. Und Dinkelbrot herstellen. Urdinkel natürlich. Und zwar eigenhändig. Am Backtag. Ein- oder zweimal in der Woche oder im Monat. Und die grossen Laibe mit einem gekonnten Ruck in den neu gebauten „alten“ Backofen einschieben, als wäre dies das Beglückenste auf der Welt, den Backsteinofen in glühende Hitze zu versetzen, wenn möglich mit selbst gesammeltem und getrocknetem Holz aus dem nahen oder fernen Wald, herangekarrtes Holz im neuesten blitzblanken Offroader. Nicht im etwas lottrigen Leiterwägelchen.

Wohl kaum.

Früher war, wie schon angesprochen, auch die Sprache anders: manche Begriffe, viele Bezeichnungen. Nicht zuletzt für Dinge, die es früher noch gar nicht gab. Dinge, von denen man nicht einmal träumte, auch wenn man Jules Vernes mehrfach gelesen hatte. Das Handy. Der Selbstbedienungsladen. Endlich ein deutsches Wort für etwas Neues! Wow! Von der Antiaging- Crème vielleicht schon. Aber vermutlich unter anderem Namen, als Geheimtipp von Frauen schon immer von der älteren an die nächste Generation weitergegeben.
Wir müssen also nicht zurückgehen bis zum Alt- oder Mittelhochdeutschen: „Uns ist in alten maeren wunders vil geseit, von heleden lobebaeren, von grôzer arebeit“. Es reicht schon, wenn wir auf mehr als ein halbes Jahrhundert zurückblicken, auf sechzig oder siebzig Jahre zurückhören, zurückfühlen, auf die Dreissiger- und Vierzigerjahre. Ja, da hat sich fraglos einiges geändert. Wen wundert's?

Sicher nicht die Senioren. Oder doch? Die hiessen früher ganz einfach und allgemein verständlich: die Alten. Am Lebensabend wohnte man wo möglich in einem Altersheim, in einem Altersasyl und nicht in einem Seniorama oder gar in einer Senioren-Residenz. Von einem Tertianum weit und breit nichts zu sehen und zu hören. Nur wenige waren ja des Lateinischen mächtig. Auch das hat sich vermutlich nicht geändert.

Und viele wunderten sich damals schon vor dem Ende ihres Lebens ebenso über all das, was früher anders war. Auch die Sprache. Die Mundart.

Auch die Sprache ist dynamisch, evolutionär, auf Deutsch „lebendig“ wie die Menschen selber. Auch was anfänglich als ordinär empfunden wurde, vor allem von der erwachsenen Bevölkerung, konnte später eingehen in die fraglos ausgelebte anständige Alltagssprache. Geil, nicht wahr? Oder doch eher „Mega“?

Ausdrücke sterben, verschwinden, werden im Wörterbuch als obsolet oder „veraltet“ bezeichnet wie z. B. das Wort „Zähre“. Bei Wagerianern kein Problem. Aber bei den vielen andern. Neue Wörter machen sich breit und machen nach einiger Zeit der Abnutzung neuen Ausdrücken Platz. Die Sprache lebt, entwickelt sich ständig und taugt in jeder Zeitepoche so lange, als sie den Menschen dient, sich angemessen und erfolgreich zu verständigen. Es geht dabei ja nicht nur um die Bezeichnung von neuen Dingen – Computer zum Beispiel, Jet, Sonnenkollektoren, aktive Sterbehilfe, Ausschaffungs-Initiative – sondern auch um die Neubewertung von alten Dingen und Sachverhalten.

Auch mir, am 26. April des Jahres 1932 geboren, einem Stier – in China wäre ich gar ein Affe, also ein höherwertiges Lebewesen - , ist da einiges ein- und aufgefallen. Und über dieses Auffällige gelüstete es mich eines Tages, wie man hier bereits lesen konnte und noch kann, nachzusinnen und möglichst unbekümmert munter aufzuschreiben.

Da gibt es also Ausdrücke, Redewendungen, die verloren gegangen, verschwunden sind wie zum Beispiel das bereits erwähnte schöne Wort „Zähre“, das aber bereits früher veraltet war, noch bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach. Und kein Mensch vergiesst oder vergoss deswegen vermutlich eine einzige Träne.

Danke höfli! Prezis gliich. Gfell ha, das heisst: Glück haben. Schääche: schauen, hinblicken. Trüe: an Gewicht zunehmen, dicker werden. Nichts da von Adipositas oder Übergewichtigkeit. Vergält's Gott! Die schönen Gebilde am Himmel bezeichneten wir in Zürich mit „Wulche“ und nicht mit „Wolke“, wie es heute am Fernsehen tagtäglich mehrmals zu zu hören ist. Apartig: besonders, speziell.

Und mich hat tatsächlich ein biederer, kraftvoll auftretender Lehrer und Leiter in der Ferienkolonie im Gasthaus „Anker“ in Brunnadern im Toggenburg grimmig beigebracht, dass ich „Anke“ zu sagen hätte und nicht „Butter“. Und die Heidelbeeren würden übrigens hier in der Schweiz „Heubeeri“ heissen. Ich sollte mich wohl schämen wegen meiner sprachlich ausländischen Herkunft. Das war in den vierziger Jahren, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Mich wunderte sehr, und es kränkte mich zutiefst, dass meine Altersgesnossen unbekümmert weiterhin von Butter und Heidelbeeren zu sprechen wagten. Das waren doch ursprüngliche, alt eingesessene und insofern echtere Schweizer als ich, der einen Russen (Letten) zum Vater und eine Württembergerin zur Mutter hatte. Meine Schulkollegen erschienen mir fast durchwegs als direkte Nachkommen von Wilhelm Tell, den ich übrignes als Kind so sehr bewunderte und selber einmal eine Armbrust zusammenbastelte, und zwar gemäss der Anleitung aus dem HELVETICUS. Das war ein echt Schweizerisch Buch, das ich während einiger Jahre regelmässig unter dem Christbaum vorfand. Das gewichtigere und reichhaltigere deutsche Vorbild, das UNIVERSUM, musste in jenen dunklen Jahren pausieren.

Sprachdisziplin. Diszipliniertes, schweizerisches Sprechen. Ich habe mich ehrlich bemüht, das besondere Hochdeutsch, das in unserer internationalen Familie gesprochen wurde, dem Schwiizerischen, dem Zürcherischen anzupassen. Denn auch ich und unsere Familie waren selbstverständlich stolze Schweizer, und zwar solche, die entschieden gegen die Nazis waren. Nicht nur, weil ich im Deutschen Reich einen Onkel hatte, der eines Tages - als psychisch Kranker bezeichnet - vermutlich eine Todespritze bekommen hat. Krankes Volksgut. Dass man dies mit Euthanasie bezeichnet, lernte ich erst viel später. Auch dass damals viele angesehene, echte Schweizer Hitler bewunderten und bedenkenlos herbeiwünschten.

Kürzlich sagte mir meine Schwester, auch unser Vater hätte eine Zeitlang für Hitler geschwärmt. Mir fehlt dazu die Erinnerung.

Ich sage noch heute maliziös, dass ich in einer für mich typischen Schweizerfamilie aufgewachsen bin: die Eltern beide Ausländer. Aber bei jeder Erst-Augustfeier selbstverständlich in der vordersten Reihe. Mit dabei feuerrote Lampions mit dem Schweizer Kreuz. Auf dem Zürichberg, vor dem alkoholfreien Hotel des Frauenvereins. Später, viel später hat man sich auch dort anders besonnen, sich neu orientiert und schliesslich beschlossen, den Gästen reinen Wein und andere Alkoholika einzuschenken.

Meine Mutter stammte aus der Gegend von Stuttgart, aus dem kleinen Bauerndorf Mögglingen bei Schwäbisch Gmünd. Mein Vater kam als Handwerksbursche völlig freiwillig aus Riga zunächst nach Chur und dann nach Zürich und wurde bald ohne Umständlichkeiten und ohne Argwohn hier vom Russen zum Schweizer. Das war kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Lettland war damals russisch, wie später noch einmal nach Abschluss des Stahl-Paktes. Da gab es noch keine SVP weit und breit. Die gab es früher ganz einfach noch nicht. Der Blocher war uns jedoch von klein auf vertraut. Das war ein wichtiges und gewichtiges Haushaltgerät neben Besen und Schrubber. Ich empfand diese Reinigungsgerät als ausgesprochen deutsch. Mit dem Blocher wurde der gewichste Parkett- und Linoleumboden wöchentlich einmal auf Hochglanz gebracht. Aber nie und nimmer an einem Sonn- oder Feiertag. Der Sonn- und Feiertag wurde geheiligt – nicht nur in unserer Familie. Vor jedem Essen wurde selbstverständlich gebetet: Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!

Wir besuchten in jenen Tagen regelmässig an den Sonn- und Feiertagen den Gottesdienst in der grossen, prächtigen Kirche Fluntern am Zürichberg. Unterhalb dieser Kirche gediehen damals noch Rebstöcke. Und wir waren selbstverständlich alle sonntäglich gekleidet, die Schuhe hatten zu glänzen.

Um wichtig zu tun unter Burschen - den Ausdruck „Jungs“ haben wir nicht gebraucht, weil er nicht bekannt war - , sprachen wir von unseren echten oder bloss vorgetäuschten Eroberungen als von „Chatz“, „Schabe“, „Müüsli“ oder in letzter Steigerung - „ultimativ“ war nicht gebräuchlich – von einer „Sumawuscha“ (supermaximale Wunderschabe).

Ich erinnere mich, diesen Ausdruck auf unserer anstrengenden dreitägigen Schulreise zum ersten Mal gehört zu haben. Das muss so um 1950 herum gewesen sein. Damals auf der wunderbaren aber auch sehr anspruchsvollen Wanderung das Maderanertal hinauf zur Cavardiras-Hütte. Dann zum Piz Ault. Ein nachmaliger Direktor der Schweizer Rück, ein Bauern- und Wirtesohn aus Schlieren, körperlich nur ungenügend trainiert, ist dabei beinahe kollabiert. Und dieser Hans, einige Jahre mein Banknachbar an der Oberrealschule in Zürich, hat immer wieder entschieden betont, dass sein Vater nicht Bauer sondern Landwirt sei. Bauern hätte es früher gegeben. Heute gebe es nur noch Landwirte.

Heute gibt es wenigstgens noch den Puurezmorge.

So wie sich weibliches, ausgebildetes Pflegepersonal im Spital heute nicht mehr als Schwester ansprechen lässt sondern als Pflegefachfrau. Und die frühere Füsorgerin heisst ja schon seit vielen Jahren schlicht und einfach Sozialarbeiterin. Nicht nur in den Spitälern. Als ob die Fürsorgerin nicht arbeiten würde. Als hätte sie sich nur für andere gesorgt.

Kürzlich telefonierte ich ins Unispital, ins ehemalige Kantonsspital Zürich. Ein Freund war dort eingeliefert worden, und ich konnte ihn unter seiner temporären Nummer nicht erreichen. Ich fragte die Auskunft des Spitals. Und was musste ich da aus einem weiblichen Mund hören? „Ich verbinde sie gleich mit der Abteilungsschwester.“ Reiner Atavismus. Gottlob war es kein Mann, der dieser Abteilung vorstand.

Doch nun zurück zu unserer dreitägigen Schulreise in der Oberrealschule, die einige Jahre später schlicht als mathematisch-naturwissenschftliches Gymnasium bezeichnet wurde.

Am folgenden Tag ging's mit uns Oberrealschülern – Mädchen waren in dieser Abteilung noch nicht zugelassen - weiter hinauf zum Piz Ault auf knapp über 3000 Meter über Meer. Und über 3000 Meter über Meer, da sagte man sich doch „du“, gerade auch, wenn man nicht per du war. Das wusste man. Das wussten wir. Das war also etwas Besonderes, etwa Aufregendes wie früher die Überquerung des Äquators. Und so sagten wir unseren Professoren Honegger und Pestalozzi - letzterer von den Schülern liebevoll «Spatz» genannt - nach leichtem Zögern lachend und nicht ohne Stolz „du“, benommen von der Höhe, die wir an jenem sonnigen Tag erklommen hatten.

Aber mit dieser vertraulichen Anrede war's dann einige Tage später bereits vorbei, noch bevor das nächste „Ex“ (schriftliche Prüfung) im Klassenbuch eingetragen wurde. Niemand beklagte sich. Keiner reklamierte. Man wusste offenbar genau, wie man sich in verschiedenen Situationen zu benehmen hatte.

Als Student an der Uni Zürich einige Jahre später war es für mich rasch einmal klar und problemlos, dass man sich im Psychologischen Seminar zunächst und manchmal für immer mit „Sie“ ansprach. Wir sassen ja auch zusammen mit einem wohlbestallten Pfarrherrn, der sich später zielbewusst und nachhaltig für angemessene Sterbehilfe einsetzte, und einem hochdeutsch sprechenden Psychiater, der sich ohne falsche Bescheidenheit Daseinsanalytiker nannte. Mit einem sorgsam in hellem Grau gekleideten Jesuiten aus Luzern, der nicht nur Heidegger tatsächlich verstand, sondern sich wie Heidegger ausdrücken konnte. Das hat ihn später nicht gehindert, eine Novizin zu heiraten und eine psychologische Beratung in der Innerschweiz zu eröffnen, die beachtlichen Erfolg hatte. Und ein anderer Mitstudent, sehr sprachmächtig und insofern einschüchternd auch er, sollte später nicht nur schwierig zu lesende Bücher schreiben, sondern auch versuchen, etwas in der Politik zu bewirken. Und da waren zudem auch einige Studenten, zum Teil bereits angegraut, die ihren ersten Doktor schon längst im Trockenen hatten. Ob auf ehrliche Art und Weise kann ich nicht bezeugen.

Im Historischen und Kunsthistorischen Seminar war man dem vertraulichen Du zur gleichen Zeit schon etwas rascher und angenehm unverkrampft nachgekommen. Und dies bereits, ohne formell Schmollis machen zu müssen, das heisst, ohne sich zeremoniell mit den rechten Armen zu verhaken und dabei ein mit Wein oder Schnaps gefülltes Glas in einem Zug bis auf den Grund zu leeren.

In den späten sechziger Jahren ging man schon forscher vor, sowohl an manchen Arbeitsorten als auch in Weiter- und Fortbildungskursen. Man verzichtete auf das Nennen von Titeln wie z. B. Doktor, Professor oder Direktor. Der CEO stand noch vor der Türe. Der Arzt genoss und geniesst hierbei bei manchen eine Sonderbehandlung. Also nicht nur bei der Abfassung der Dissertation. Dem Arzt sagt man bedenkenlos Doktor, auch wenn er keine Dissertation geschrieben hat. Das Staatsexamen genügt ja vollauf, um den Beruf des Arztes oder Zahnarztes auszuüben. Der Doktor-Titel im medizinischen Bereich schlicht als öffentlich strahlendes Sahnehäubchen und nicht als ernst zu nehmende wissenschaftliche Auszeichnung.

Die Titel-Förmlichkeiten gelten auch fürs Fernsehen schon lange nicht mehr. Man scheint es den lockereren Amerikanern gleichtun zu müssen: Bitte nur die Vornamen! Und hierbei ist vermutlich auch der Kalauer ensanden:“You may say you to me“.

Der Leiter in einem Fortbildungskurs sagte jeweils gleich zu Beginn mit munterem Blick in die Runde, wie der kommunikative Hase läuft: „Ich bin der Hans. Ich schlage vor, dass wir uns mit dem Vornamen ansprechen“. Und das ist anfänglich nicht überall gleich gut angekommen. Doch die Widerstände waren bald dahin. Es ging da und dort so weit, dass manche Schüler von sich aus - oder gar vom Lehrer ermuntert - ohne Scheu das vertrauliche Du gebrauchten. Super! Cool! Mega! Gent!

Folgende Ausdrücke sind, so weit ich höre, an vielen Orten weitgehend verschwunden, obwohl die Sache noch besteht: Café complet, Supplément, Tschumpeli, Römer, a Schtange dunkel Tango. Café complet: Kaffee mit einem Brötchen, Butter und Konfitüre. Supplément: beim Hauptgang die Möglichkeit haben, einen weiteren gefüllten Teller nachgereicht zu bekommen. Manchmal im Preis inbegriffen. Manchmal nicht. Man konnte ja vor- oder mindestens nachfragen oder auf der Menukarte nachlesen. Tschumpeli: ein Deziliter Wein. Römer: zwei Deziliter Wein. Oder war's umgekehrt? A Schtange dunkel Tango: ein Glas dunkles Bier mit einem Schuss Grenadine. Sehr beliebt in meiner Studentenzeit. Red Bull und all das andere bunte Zeugs gab's erst viele Jahre später.

Auch das Rest-Brot gibt es nach meiner Beobachtung schon lange nicht mehr, weder auf der Menu-Karte noch in irgend einem Restaurant, nicht einmal im „Wilden Mann“. Aber damals, in der ersten Blüte meines Lebens, war es jeweils ein Festessen für uns Kinder, obwohl unsere Mutter eine ausgezeichnete Köchin war: auswärts essen. Das war für uns ein äusserst seltenes Vergnügen. Ich hatte bald einmal begriffen, dass es sich nicht um irgendwelche Brotresten vom hoffentlich keimfreien Küchentisch des Restaurants handelte, sondern um ein Restaurationsbrot, um eine mächtige, knusprige Brotscheibe - oder waren es gar deren zwei? - , bedeckt mit einigen Lagen Schinken, Salami oder Aufschnitt, garniert mit der Hälfte eines hartgesottenen Eis, ein zwei Tomatenschnitzen, begleitet von einem Gewürzgürkchen. Heute spricht man eher vo einem „Eingeklemmten“ oder von irgend einem Burger. Das Restbrot jedoch ist schon lange ausgebürgert.
Berühmt und sehr beliebt war nicht nur in unserer Familie der «Wilde Mann» in Regensdorf, den man zu Fuss von der damaligen Endstation der Nr. 13 aus - der Wartau - erreichte. Die Endstation Frankental gabe es früher noch nicht. In diesem ländlichen, volkstümlichen Restaurant stimmte das Preis-Leistungs-Verhältnis aufs Erfreulichste. So das Gerücht, die Volksmeinung. Man kannte den coolen Ausdruck Preis-Leistungs-Verhältnis noch nicht. Den Sachverhalt freilich schon. Das Angebot war einfach günstig, vorteilhaft, familienfreundlich. Einfach gent!

Im Herbst nahmen wir jeweils Einkaufstaschen, bzw. die schon lange aus der Mode gekommenen Einkauzfsnetze mit und füllten sie auf dem Hin- und vor allem auf dem Rückweg von Regensdorf nach Höngg spielend mit Äpfeln, Birnen, Quitten und Zwetschgen, die in den Wiesen verlassen dalagen, einige schon angefault. Das meiste gottlob unversehrt, für den Sofortgebrauch bestimmt. Nach der Mosterei Zweifel, auf dem Weg nach Regensdorf, befand man sich damals sogleich auf dem Land. Imposant und geheimnisvoll der Blick hinunter auf den mächtigen Bau der Strafanstalt, Nachfolgerin des Schellenwerks am Ötenbach in Zürich, die noch nichts davon wissen konnte, dass sie später einmal in „Pöschwies“ umgetauft wurde. Und man spricht ja auch seit kurzem nicht mehr von Straf- sondern von Justizvollzugsanstalt, auch in diesem Fall den Deutschen nachhinkend.

Und noch etwas gab es damals im Herbst, kombiniert mit einem Restbrot: die Moscht- und Suuserbummel. Der frische Wein in Weiningen im «Winzerhuus» war alleweil eine Wanderung wert. Mit oder ohne Restbrot.

Die Schule als weiteres Beispiel. Da durften die Lehrerinnen und Lehrer aller Stufen bis hinauf zur Universität noch bis zum siebzigsten Altersjahr arbeiten. In der ersten Klasse im Schulhaus Wolfbach, beim klein gewachsenen, stark ergrauten Herrn Sigg, war das Meerrohr noch gewohntes und selbstverständliches aber doch auch gefürchtetes Disziplinargerät. Bei leichten Vergehen mussten wir die linke Hand hinstrecken, und dann wurden wir auf die Handinnenseite geschlagen. Das geschah noch kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und auch noch einige Zeit danach. Die Hand des Schülers sollte wohl weiter schreibfähig bleiben. Bei schweren Vergehen erfolgten die Tatzen auf die Fingerknöchel. Vergessen habe ich, was leichte und was schwere Vergehen waren. Aber der Tarif war allgemein bekannt, das heisst die Anzahl der Tatzen je nach Untat. Da herrschte keine Willkür. Da herrschte Ordnung. Auch die Eltern waren damals offenbar entschieden für diese Art von Ordnung und Disziplin und liessen die Lehrer gewähren. Und vermutlich auch der liebe Gott, sonst hätte er doch bestimmt etwas dagegen unternommen.

Auch die Linkshänder hatten nichts zu lachen. Linkshänder sein grenzte an Sabotage oder war ganz einfach Ausdruck von Böswilligkeit oder Schwererziehbarkeit und wurde umgehend geahndet mit Schlägen auf die linke Hand, wenn die sich anschickte, spontan linkshändig zu schreiben oder zu zeichnen. Hier aber erfolgte die Strafe nicht mit dem Meerrohr. Das wäre wohl zu umständlich gewesen. Bloss mit einem Lineal. Aus einheimischem Holz.

Mein erster Lehrer, Herr Sigg, der klein gewachsene, grauhaarige, glatzköpfige Kobold, der Gebieter über ein ganzes Arsenal von unterschiedlichen Meerrohren, wurde eines Tages, kurz nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges plötzlich krank und musste den Schuldienst quittieren. Eine junge, muntere Lehrerin, Fräulein Ott – man unerschied damals noch streng zwischen Frau und Fräulein - , stellte sich vor uns hin, nicht in langen Hosen oder Jeans, nein, das war damals nicht üblich, sondern im mittellangen Jupe, zwar bloss als Vikarin (kurzfristiges Engagement), nicht als Verweserin (langfristiges Engagement mit besserer Bezahlung), und eroberte unsere Herzen im Nu mit ihrem jugendlich freundlichen Schwung. Ich fand bald heraus, dass sie am frühen Morgen jeweils die steile Zurüchbergstrasse herunterkam, und ich beeilte mich, ihr noch vor Erreichen der Plattenstrasse die Hand zum Gruss hinzustrecken und sie bis zum Schulhaus Wolfbach und hinein in unser etwas düsteres Schulzimmer zu begleiten. Da gab es übrigens noch kein fliessendes Wasser, kein Lavabo, sondern bloss ein kleines kupfernes Kästchen an der Wand neben dem Eingang über einer kupfernen Schale. Und dieses Kästchen musste regelmässig vom Abwart mit Wasser gefüllt werden und die Schale entleert.

Ich ging jedenfalls nun mit grösserer Begeisterung zur Schule und verzichtete wie von selbst auf jegliche Kapriolen und Clownerien, um die Aufmerksamkeit und das Gelächter meiner Mitschüler zu gewinnen wie beim alten Lehrer Sigg, dem Mann mit den assortierten Meerrohren.

In der zweiten Klasse wurde ich auf den Zürichberg hinauf verwiesen, in eine Schulbaracke in der Spyristrasse zu Fräulein Furrer, einer etwas dürren, nicht mehr ganz jungen Person. Sie war wie die meisten wenn nicht alle Lehererinnen ledig. Und sie besass gottlob kein Meerrohr. Aber lange, dünne Arme. Wenn es zu unruhig wurde im Zimmer, forderte sie uns unverzüglich auf, unsere Hände über den Nacken zu legen. Dies wirkte fast immer in kürzester Zeit. Wir beruhigten uns und folgten dem Unterricht, wie es sich gehörte: aufmerksam, diszipliniert und vor allem ohne zu schwatzen.

In der vierten Klasse, mitten im Zweiten Weltkrieg, 1942, gab es für mich einen kleinen Rückfall, was meinen Lehrer betraf. Ich wurde ins nigelnagelneue Schulhaus Fluntern beordert, das mit einem unterirdischen Gang unter der Hochstrasse mit der Turnhalle verbunden war. Gent! Maximal! Die Zimmer hell und freundlich, schalldämpfende Decken, riesige Fenster mit Blick zum See und in die Glarner Alpen. Gent! Kein kupfernes Kübelchen an der Wand, das man regelmässig mit Wasser nachfüllen musste, nein, ein richtiges Lavabo, weiss, mit fliessendem Wasser, das nun von allen Schülerinnen und Schülern benutzt werden durfte, nicht nur vom Lehrer. Unser Lehrer, nicht mehr der jüngste und mir bekannt von meinem älteren Bruder her: Herr Steinemann. Auch er kam gottlob ohne Meerrohr aus. Möglich, dass dieses früher beliebte und gefürchtete Disziplinarinstrument inzwischen verboten worden war. Wir Schülerinnen und Schüler brachten den guten, grauhaarigen Mann immer wieder zum Kochen. Wir gaben zum Beispiel Töne von uns, ohne das Gesicht zu verziehen, eine Art von Bauchreden, warfen hinter seinem Rücken Papierbällchen und im Herbst Vogelbeeren zur Wandtafel und anderes mehr. Dann stellte er sich jeweils zornig vor die Klasse und schimpfte während Minuten drauf los. Und wir hörten belustigt und entspannt zu und erwarteten ruhig das erlösende Glockenzeichen für die nächste Pause. Er massregelte uns also nur mündlich, woran wir uns bald gewöhnten. Und ich erlebte in diesem meinem vierten Schuljahr das eine oder andere Mal, dass mein älterer Bruder recht hatte mit seinem Spruch über diesen Lehrer:„Rot ist die Liebe, rot ist das Blut. Rot ist der Heinrich in seiner Wut.“ Aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, wie bereits dankbar erwähnt, uns zu schlagen.

Im folgenden Jahr wurde er siebzig und pensioniert. Das war früher so. Es wurde, wenn ich mich richtig erinnere, allgemein bis siebzig gearbeitet, nicht nur in Schulen und auf Ämtern.

Mit Herrn Röthlisberger erhielten wir in der fünften Primarklasse endlich einen zünftigen Lehrer, einen jungen, zackigen, einen Offizier, ein Verfechter des Réduit, ein Liebhaber des Gotthard, der uns von der ersten Minute an begeisterte, und für den wir allesamt durchs Feuer gegangen wären. Auch an einem Samstag oder auch bei Regenwetter, denn der Samstagvormittag war damals immer noch nicht schulfrei. Da wurde nun endlich professionell geturnt in dieser neuen, modern ausgerüsteten Halle. Der junge Lehrer kam nicht in Hosenträgern und Krawatte zum Turnen, wie Jahre später noch mein alter Sekundarlehrer Fischer im Schulhaus Hirschengraben, sondern trug einen rassigen Trainer und machte uns selber zunächst vor, was er von uns anschliessend verlangte. Auch im übrigen Unterricht wurden klare, für uns einsehbare und interessante Anforderungen gestellt, wurde vor allem mehr Selbständigkeit verlangt, was wir ohne weiteres und begeistert akzeptierten. Kleine Vorträge, Gruppenarbeit und nicht bloss Frontalunterricht.

Früher hiess das mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium Zürich, das ich viereinhalb Jahre besuchte, wie schon erwähnt „Oberrealschule“. Noch früher, als Gottfried Keller sie besuchte und dann rausgeworfen wurde, hiess dieselbe Bildungsstätte „Industrieschule“. Man bildete junge Leute für die Industrie aus. Zu meinen Zeiten war rückblickend so etwas wie Mittelschul-Didaktik so gut wie unbekannt. Es gab einfach von Haus aus gute Lehrer, Naturbegabungen wie unser Geschichtslehrer, Prof. Dr. Arthur Mojonnier, der sich selber vor seinen Schülern schalkhaft als Motur Arschonnier ausgab und als einziger keine schriftlichen Prüfungen durchführte, uns mit den sonst üblichen wöchentlichen Ex (Prüfungen) verschonte. Es ging das Gerücht, dass er eigentlich beabsichtigt hatte, NZZ- Chef-Redaktor zu werden und dass ihm dabei seine Unterschrift bei der «Eingabe der 200» den Zugang verwehrt haben soll. Uns Schüler interessierten solche Geschichten nicht ernsthaft. Wir begeisterten uns an seinem äusserst lebendigen, unkonventionellen Unterricht in Geschichte voller Hinterteppen-Geschichten und glaubten ihm ohne weiteres, dass er ursprünglich habe Schauspieler oder Cabarettist werden wollen. Und er schrieb nebenbei, als «Uhu» getarnt, Woche für Woche für die „Weltwoche“, die früher eine allgemein angesehene Zeitung war wie die ehrwürdige NZZ und der Tages Anzeiger. Mir gab er hin und wieder seine schriftlichen Produktionen vor der Drucklegung zur Durchsicht. Wer also bei Motur Arschonnier unbedingt auf eine 5 oder darüber kommen wollte, der war eingeladen, ein Referat vor der Klasse zu halten. Das war damals geradezu revolutionär und insofern bei uns Schülern sehr geschätzt. Und so hielten ich und viele meiner Mitschüler mit Eifer Vorträge. An einen erinnere ich mich noch gut. Er handelte von Utopien: Plato, Thomas Campanella, Thomas Morus, die Physiokraten, Karl Marx.

Es gab Lehrkräfte an der Kantonalen Mittelschule, selbstverständlich alles Männer, keine Frauen, die uns Schüler - die Gymnasiastinnen wurden in separaten Schulhäusern unterrichtet - nach mässigen Leistungen am liebsten in eine Schreinerlehre geschickt hätten. So der sonst sehr geachtete, ja von mir recht eigentlich gefürchtete Prof. Hablützel, von uns liebevoll ehrfurchtsvoll «Habü Ross» oder ganz einfach «Ross» genannt, denn er war ein stattlicher Mann mit grau melierten Haaren, dunklem Teint und glich nach meinem Dafürhalten dem indischen Politiker Pandith Nehru.

Didaktisch auffallend geschickt war neben dem jungen Dr. Hans Guggenbühl der später auch Romane schrieb, schliesslich unser Klassen- und Mathematiklehrer, Hans Honegger, der uns das Maderanertal hinauf zur Cavardirashütte geführt und bei 3000 Metern über Meer das Du angeboten hatte, ein kräftiger, leicht untersetzter dynamischer Mann - ursprünglich Sekundarlehrer, hiess es, darum verstehe er etwas von Didaktik - , ein Offizier mit einigen Streifen an der Mütze, der später mit grossem Erfolg das Rektorat der Pädagogischen Hochschule Zürich übernehmen sollte.

Auch der Umgang mit Hundescheisse an allen möglichen Orten. Nicht nur in der Stadt. Früher gab es nämlich keine Robidogs, wie bereits eingangs erwähnt, sorry, kommuniziert. Es gab jedoch Hunde aller Art: grosse und kleine, liebe und weniger liebe. Aber sicher nicht so viele wie heute. Man wusste, wo sie daheim waren, und wo sie einem allenfalls auflauerten. Da machte man an gewissen Orten lieber einen weiten Bogen. Man übte Selbstverantwortung ohne davon zu sprechen oder eine informationsgeile Zeitungsredaktion zu informieren. Und Bouelvard-Zeitungen gab es ja früher noch keine, soweit ich mich zu erinnern vermag.

Selbstverantwortung wurde nicht, wie das im heutigen Sprachgebrauch heisst, eigens angemahnt. Früher wurde überhaupt weder angemahnt gar noch nachvollzogen. Es wurde auch nicht anmoderiert oder angedacht. Keine Moderatoren weit und breit, die etwas präsentierten. Man tat diese Dinge wohl, aber mit andern Worten. Schlichter. Und beileibe nicht immer schlechter als später.

Das ausdrückliche und wiederholte Nachvollziehen erlebte ich zuerst in einer der ersten, professionell geleiteten Selbsterfahrungsgruppen der Schweiz, geleitet von einem holländischen Psychologen, einem smarten „Trainer“ aus Amsterdam. Das muss Ende der sechziger Jahre gewesen sein. Die Zeit der ersten Feedbacks in der Schweiz. Der positiven und der negativen. Kommunikative Höhen- und Irrflüge. Watzlawick. Noch bevor der Urschrei Einzug halten sollte. Man konnte nicht mehr nicht kommunizieren. Nun wussten wir es endlich und verfügten zudem über die notwendigen Begriffe.

Auch unser Hausmeister, der elegante Herr Hess, der in der Etage über uns wohnte, und einer kleinen, gediegenen Schneiderei an der Bahnhofstrassse 71 vorstand, hatte Hunde, drei an der Zahl. Einer davon, der kleinste, vermutlich ein Schnauzer, war angriffig, bellte die Leute an, schnappte manchmal unerwartet zu. Das wusste man und verhielt sich entsprechend umsichtig. Niemand wäre in den Sinn gekommen, deswegen laut zu reklamieren, zur Polizei zu rennen oder eine Redaktion anzurufen. Es gab eben Hunde, vor denen man sich in Acht nehmen musste. Auch wenn sie an der Leine geführt wurden. Man war aufgefordert, wie schon gesagt, selber aufzupassen. „Lappi, tue d'Auge uuf!“ war ein beliebter Spruch nicht nur eines meiner Lehrer.

Man wusste auch in unserem Quartier, dass Herr Berger, der in unserer Nähe in der Zürichbergstrasse wohnte, einen jungen, prächtigen deutschen Schäfer besass. Man sah die beiden fast jeden Tag. Er auf dem Velo, der Hund mit federnden Schritten daneben. Er arbeitete bei der Securitas und war entsprechend uniformiert. Man wusste auch, dass sein Diensthund unlängst im Quartier eine Person gebissen hatte. Man war also gewarnt. Der Hund war nicht ungefährlich. Das wusste auch ich, als ich mich eines schönen Tages vor unserem Haus aufhielt und die beiden plötzlich kommen sah: Herr Berger und sein deutscher Schäfer. Aber an jenem Tag ohne Velo. Und der Hund nicht an der Leine. Der hatte zu parieren. Fuss! Ich erschrak leicht, nahm mich zusammen, blieb ruhig stehen und war von Stolz erfüllt, dass die beiden ohne Probleme an mir vorbeigingen.

Ich hatte mich zu früh gefreut. Der Hund löste sich unvermittelt von seinem Meister, ging etwa fünf Meter des Weges zurück auf mich zu. Mir stockte der Atem. Ich bewegte mich nicht und stiess vermutlich ein Stossgebet zur mächtigen Libanonzeder, bzw. in den Himmel hinauf. Er sprang unverzüglich an mir hoch und biss mich in die Brust. Herr Berger entschuldigte sich kaum und entfernte sich, als ob nichts Nennenswertes passiert wäre. Ich stieg hinauf in unser Wohnung im ersten Stock und berichtete von meiner Begegnung mit dem deutschen Schäfer von Herrn Berger. Meine Mutter inspizierte nach kurzem Schreck meine Brust und sah, dass sie stark blutete. Sogleich eilten wir zu Fuss zu unserem geschätzten Hausarzt, Dr. Felix Wyss, in der Steinwiesstrasse, ein Hausarzt, der wie die meisten Ärzte damals selbstverändlich Hausbesuche machte, wann immer es notwendig erschien. Er schüttelte unaufgeregt den Kopf und meinte bloss, ich hätte Glück gehabt, dass ich bei diesem Unfall Leibchen, Hemd und Pullover getragen hätte. Dies hätte dem Biss entscheidend die Schärfe genommen. Die Wunde wurde desinfisziert. Basta! Ich war nach wenigen Minuten entlassen und entsprechend erleichtert.

Für den Arzt, für mich und auch für meine Eltern war die Sache damit erledigt. Die Arztkosten haben meines Wissens meine Eltern, bzw. die Krankenkasse übernommen. Weder im Radio, noch in der Tagespresse wurde darüber berichtet: Securitas-Schäfer verbeisst sich in ein Kind. Oder: Todesangst eines Primarschülers unter einer Zeder in der Nähe der Zederstrasse. Es gab halt damals noch kein Fernsehen, keine Boulevard-Presse und nur wenige Leute besassen bereits ein Radio. Und wen hätte diese Lappalie früher überhaupt interessiert?

Der Robidog, so möchte ich noch nachtragen, wurde ja erst 1981 patentiert, eine Erfindung von typisch schweizerischer Art, so meinen viele, und sie haben recht: eine Erfindung von Joseph Rosenast. Typisch schweizerisch und insofern an vielen Orten zunächst belächelt. So auch in Frankreich, wie ich dies selber erlebt habe. Typisch Schweiz! La Suisse! Diese Saubermänner und -frauen. Ja, diese Schweizer. Die haben besondere Probleme.

Und lösen sie auch manchmal. Und laufen Gefahr, wieder einmal Vorbild zu werden. Diese Schweizer! Super!Mega! Giga!

Swissness pur!

Inzwischen findet man Robidogs schon längst auch in den umliegenden Ländern. Selbst in den USA. Wenigstens in Annapolis, wie ich zufällig vor einigen Jahren erfreut gesehen habe, obwohl wir unseren Hund daheim lassen mussten. Dasselbe Grün. Dasselbe Design. Heimatliche Gefühle beim Anblick dieser grünen Boxen. Auch wenn es in deren Nähe manchmal stank. Unbeschreiblich. Weitere heimatliche Gefühle mitten in Washington, in Sichtweite des Capitols, als ich unvermutet die Schweizer Flagge wehen sah. Denkste! Es handelte sich um den Notfalldienst des Roten Kreuzes!

Früher gab es in nächster Nähe unseres Hauses in der Plattenstrasse 22, in das sich inzwischen die Uni Zürich eingenistet hat, noch die Tramstation Phönix-Weg, gleich beim Hotel Plattenhof in der Zürichbergsrasse und neben der Metzgerei Haller. Eines schönen Tages wurden die Schienen herausgerissen, die elektrischen Fahrleitungen gekappt, die Plattenstrasse neu geteert. Das Tram fuhr niccht mehr die Zürichbergstrasse hinauf zur Platten- und Gloriastrasse sondern von der Kantonsschule direkt weiter in Richtung Hauptgebäude Universität und Universitätsstrasse. Das war insofern angenehmer für uns, als der unsägliche Tramlärm, diese schrecklich hohen Töne, besonders in den kalten Jahrszeiten, fortan wegfiel.

Die Trams gehörten damals noch nicht zum Verkehrsverbund Zürich sondern hiessen schlicht und einfach Städtische Strassenbahn Zürich: St. St. Z. Und die waren mit Kondukteuren bestückt, die sich mit ihrer metallenen Kasse und der Billet-Tasche vor dem Bauch zwischen den Passagieren hindurch drückten und auf dem gelben, grünen oder violetten Billet mit einem speziellen zangenartigen Gerät genau die Station durchlöcherten, die man mit lauter Stimme gewünscht hatte. Wer sich die Tramtaxe von 20, 30 od 40 Rappen sparen wollte, schaute vor dem Einsteigen rasch hin, wo sich der Konduktuer gerade befand und stieg bei dem Eingang ein, der am weitesten vom ihm und seiner Zange entfernt war. Es dauerte bei guter Besetzung des Trams oft zwei oder mehr Stationen, bis sich der Kondukteur zum andern Wagenende durchgekämpft hatte. Aber dann bestand die weiterführende Möglichkeit, rasch bei der nächsten Station auszusteigen und in den Anhänger zu wechseln, oder umgekehrt, auch hier wieder möglichst weit weg vom Kondukteur, um damit eine odere mehrere Stationen kostenlos zu gewinnen.

War das früher besser? Oder später?

Ich begriff nicht, warum man den Mann zuvorderst im Tram - Frauen waren noch nicht befugt - Tramführer und nicht Kondukteur nannte, sondern seinen Kollegen mit der Kasse vor dem am Bauch, den farbigen Billets und der Zange. Eine beschriftete Tafel in den Tramwagen erinnerte die Passagiere daran, dass man sich während der Fahrt nicht mit dem Tramfüher unterhalten dürfe. Man tat es doch ab und zu, wenn sich der Tramführer zum Beispiel langweilte. Da war auch eine Tafel mit der Bemerkung: „Nicht auf den Boden spucken.“. Und während des Zweiten Weltkrieges hängte man zusätzliche Kartontafeln in die Trams, die beim Fahren leicht schwankten, und darauf stand fast drohend: „Wer nicht schweigen kann, schadet der Heimat“.

Sind deshalb viele Zürcher auch heute noch so schweigsam?

Geraucht durfte übrigens auch auf der hinteren Plattform, wenn ich mich richtig erinnere. Später, bei den Grossraumtrams, den so genannten «Elephanten» im mittleren Bereich, wo sich Ein- und Ausgang und die Stehplätze befanden. Mehr als einmal kam ich mit einem Brandloch im Mantel oder Pullover nach Hause. Alltägliches Risiko. Das nächste Mal würde man ganz einfach besser aufpassen wie bei der Hundescheisse oder bei der Begegnung mit bissigen Hunden. Niemand dachte an oder forderte Schadenersatz, soweit mir bekannt ist.

An bestimmten Stellen des Tramnetzes war es üblich, aus dem fahrenden Tram zu springen oder ins fahrende Tram zu hüpfen wie die Profis, die Kondukteure, die eigentlich Billeteure heissen sollten. Denen hatten wir längst abgeschaut, wie man sich geschickt und elegant vom fahrenden Tram trennt: den Rücken zur Strassenseite, dann mit einer leichten und vor allem ruhigen Drehung des Körpers zuerst die rechte Hand, dann die linke, die richtige Abfolge der Füsse beachtend, die auf der Strasse landeten usw. Für viele in unserem Quartier - darunter viele Studenten, aber nie und nimmer Studentinnen - war es üblich, mit Tram Nr. 6 oder Nr. 5 in der Kurve vor dem Hauptgebäude der Uni abzuspringen, ebenso an der Endstation Allmend Fluntern. Kurz bevor das Tram links herum zur Umrundung des Tramhäuschens ansetzte, sprangen viele Passagiere leichtfüssig routiniert vom Wagen. Wenn das Tram dann endlich am Ende des Kreisels anhielt, war man schon halbwegs im Zoo oder beim damals noch alkoholfreien Hotel Zürichberg oder auf dem Weg zum Wellenbad Dolder im Sommer oder zum Eisfeld Dolder im Winter.
Wenn ich mich richtig entsinne, ist Carl Seelig 1962 am Bellevue tödlich verunglückt, als er, wie wohl schon oft, wie viele andere auch, auf ein fahrendes Tram aufspringen wollte. Weil er es so gewohnt war? Oder vielleicht doch aus schierer Lust am Bespringen eines fahrenden Trams

Selbstverantwortlich?

Unangenehm war es für mich, wenn man im Gedränge stand und jemand sich ungebührlich an meinem Körper zu schaffen machte. Auch hier war selbstverständlich wieder Selbstverantwortung gefragt. Man schrie nicht auf, man rief nicht nach der Polizei. Man telefonierte nicht der nächst besten Redaktion. Früher las man darum am folgenden Tag nichts darüber in den Zeitungen, wo möglich in der vornehmen NZZ, die tatsächlich drei Mal am Tag erschien. Später nur noch zweimal. Und schliesslich nur noch einmal. Ich reklamierte einfach laut und deutlich oder drängte mich heftig auf die Seite, und die Sache war erledigt. Die Empörung nach wenigen Minuten abgeklungen. Noch besser aufpassen beim nächsten Mal!

Die Einführung von automatisch schliessenden Türen beim Tram führte wohl nicht nur bei mir zu widersprüchlichen Gefühlen. Man sprach noch nicht von Emotionen. Wir hatten ganz einfach Gefühle so wie man eben Gefühle hat. Einerseits genoss man das technisch Neue als unvermeidlichen oder gar erwünschten und bewunderten Fortschritt, andererseit fühlte ich mich bevormundet, in meiner bisherigen Freiheit und Selbstbestimmung beschnitten.

Bechnitten könnte man sich auch bei den heutigen Ess- und Lebensführungsempfehlungen vorkommen, die uns um die Ohren und Augen geschlagen werden. „Fragen Sie ihren Arzt und lesen Sie Packungsbeilage!“ Oder konsumieren Sie ein ganz spezielles Joghurt fürs Darmwohlbefinden. Früher wurde meines Wissens nie vom Darmwohlbefinden gesprochen und entsprechend suggestive Empfehlungen abgegeben. Dieses unsägliche Wort existierte früher gar nicht sowenig wie der Ausdruck „Figugegel“. Gar nicht super. Diese Werbe-Heinis! Oder doch?

Eine kurze lobende Bemerkung zum Wort „Darmwohbefinden“. Es ist wenigstens deutsch und nicht englisch. Es könnte ja auch „Ventralwellness“ heissen, abgekürzt „VW“.

Trinken Sie ums Himmels Willen genügend! Lassen Sie den Cholesterinspiegel regelmässig kontrollieren! Achten Sie auf Ihren Blutdruck! Aufpassen mit dem Fett! Salz ist nicht ungefährlich. Und erst der Zucker. Der Zucker ist nicht harmlos. Achten Sie auf Ihr Gewicht! Halten Sie Ihr Gewicht! Nach vierzig ist eine Darmspiegelung angezeigt! Achtung vor dem farbigen Star in Ihren Augen! Feinstaub gefährdet ihre Lunge, nicht nur das Rauchen von Zigaretten und dergleichen. Und erst der Elektrosmog.

Früher hatte man wahrscheinlich mehr Ruhe vor solchen Drohungen, Warnungen und Empfehlungen. Mindestens im öffentlichen Raum.

Früher, weit übers Kindesalter hinaus, hat man bei uns daheim den Arzt nur im äussersten Notfall aufgesucht. Gefragt waren bei einer Erkrankung oder bei einem Unfall zuallererst und zunächst die Kenntnisse der Mutter. Sie kannte den Tee, der dem Husten den Meister zeigte. Sie wusste Bescheid bei Wundbehandlungen. Auch nicht immer. Aber immer wieder. Und da war ja auch das dicke, geheimnisvolle Doktorbuch in unserer bescheidenen Bibliothek. Hatte einer von uns den Husten, tat die besorgte Mutter Kandiszucker zusammen mit geschnetzelten Zwiebeln ins kalte Wasser und kochte das Ganze zu einem durchaus geniessbaren Getränk, zu einer Art von Hustensirup. Honig oder in Olivenöl gelagertes Johanniskraut, das man selber gepflückt und getrocknet hatte, diente zur Behandlung von Wunden. Eiterte trotzdem eine Wunde, dann wurde eine Sicherheitsnadel mit einem brennenden Zündholz erhitzt und also keimfrei gemacht, bevor man sachte aber beherzt die vereiterte gelbe Stelle aufstach. Nur bei hohem Fieber, das hiess, wenn das Thermometer deutlich und anhaltend 38° und darüber anzeigte, wurde dem Arzt telefoniert. Und der kam dann tatächlich mit seinem Köfferchen zu den Patienten nach Hause.

Wir waren die einzigen im ganzen Haus, ausser dem Hausmeister, dem eleganten Herrn Hess, dem Schneidermeister von der Bahnhofstrasse 71 und seiner noch eleganteren Frau, einer geborenen Squindo, einer Italienerin, die bereits ein Telefon besassen. Mein Vater war Maler- und Tapezierermeister. Alle seine Kunden hatten ein Telefon. Für den Transport der Malergeräte wurden Schubkarren verwendet. Ein Transportauto wäre zu teuer gewesen. Schwerarbeit, wenn der Kunde hoch oben am Zürichberg wohnte. Und einige wohnten halt dort oben.

Als vorwinterliche Prophylaxe mussten wir übrigens jedes Jahr während etwa einer Woche jeden Tag einen Suppenlöffel voll Lebertran schlucken, bis die grosse Flasche leer war. Grippe-Impfungen waren unbekannt. Die ganze Familie musste schlucken. Die Eltern zuerst. Sie benahmen sich so, als wären sie unsere Vorbilder. Schrecklich. Zum Erbrechen schrecklich. Und deshalb reichte uns die Mutter sogleich nach dem verhassten Schluck ein grosses, dunkelbraunes Malzbonbon, an dem wir sogleich zu lutschen begannen, um uns wieder wohler zu fühlen und den tranigen Geschmack so rasch wie möglich zu vertreiben.

Früher war der Freitag in vielen Familien regelmässiger Wähen- oder Fischtag. Oder beides zusammen. Hauptsache fleischlos. Nicht immer, aber doch recht häufig. Den Wähenteig konnte man, wenn ich mich richtig erinnere, noch nicht im Laden kaufen, man musste ihn selber herstellen am Morgen, dann ruhen lassen. Und hätte man bereits den fertigen Teig kaufen können, die meisten tüchtigen Frauen und Mütter - und meine Mutter war eine tüchtige Frau - hätten darauf empört verzichtet. So etwas macht man doch selber. Wie zum Beispiel auch die Konfitüre. Den Kartoffelstock. Die Rösti. Den Gugelhopf. Und vieles andere mehr.

Fische zu bekommen war nicht so leicht und selbstverständlich wie heutzutage. Man kaufte den Fisch meist unfiletiert auf dem Markt am Bürkliplatz. Oder dann in der Marktgasse bei Bianchi oder bei Valentin Lichtlen im Niederdorf, dessen Sohn übrigens den beliebten Laden seines Vaters nicht weiterführen wollte, sondern ein tüchtiger Arzt wurde.

War der Wähentag etwas Erfreuliches, fast etwas Festliches, so war der Waschtag, einmal im Monat, ein unangenehmer Grossanlass, ein immer wieder gefürchteter Tag, der alle Kräfte herauforderte, besonders die der Frauen und Mütter. Schon um fünf Uhr in der Früh begann das Anheizen des grossen Waschkübels mit Holz und Kohlebriquets im Kellergeschoss durch den Vater. Wir benötigten dazu gottlob keinen umstrittenen Waschküchenschlüssel und ersparten uns entsprechende Querelen mit den andern Hausbewohnern. Unsere Waschküche war nie abgeschlossen. Wir waren vier Partien, und jede hatte eine Woche lang Zeit, die Wäsche zu erledigen.

Früher war es nicht nur selbstvertändlich sondern eine Sache der Ehre, des Stolzes, dass Männer, Buben und Jünglinge im Stehen pinkelten. Niemand war da, der uns auf die unerwünschten Folgen aufmerksam gemacht hätte. Oder habe ich auch das vielleicht vergessen? Ich hatte deshalb in dieser Hinsicht alles andere als Schuldgefühle. Wir Buben waren stolz, auf der WC-Brille stehend, unser Wasser lsozuwerden. Das Klo war in meiner Erinnerung trotzdem immer einigermassen sauber, und alle achteten darauf, es nicht zu verschmutzen. Um den Hintern abzuwischen, verwendeten wir Zeitungen - das «Tagblatt der Stadt Zürich» und den «Tages Anzeiger» - , die wir Kinder regelmässig auf die verlangte Grösse zuschneiden und in ein massgerechtes offenes Holzkästchen stecken mussten. Klopapier war vermutlich im Laden zu haben, aber es war für viele Familien ganz einfach zu teuer. Und es entsprach zudem dem vorherrschenden Bedürfnis, nichts wegzuwerfen, das man noch irgendwie brauchen konnte. Und so haben wir das ganze Jahr hindurch vieles gesammelt ausser den schon erwähnten Zeitungen: Schnüre, Korkzapfen, Packpapier, Weihnachtspapier. Da konnte es vorkommen, dass ein farbiges Weihnachtspapier mit Engelchen und Sternchen darauf während Jahren, jeweils mit dem Bügeleisen geglättet, immer wieder verwendet wurde. Gross war jeweils meine Freude, wenn ab und zu ein Päcklein für mich unter dem Christbaum lag, das eine neue, makellose Verpackung aufwies.

In den Kriegsjahren wurde besonders viel und sorgfältig gesammelt: Buchennüsse, Tannzapfen, Holz aus dem Wald am Zürichberg. Die Zeitungen wurden besondes sorgfältig behandelt, denn wir brauchten nicht nur sorgfältig geschnittenes Klopapier sondern auch Papierbriquets. Wir zerrissen die Zeitungen und legten sie ins Wasser der Badewanne. Dann pressten wir und formten aus dem aufgeweichten Papier gehörige Kugeln, die anschliessend auf dem Dachboden getrocknet wurden. Heizmaterial mit allerdings sehr beschränktem Heizwert.

Der sorgsame, haushälterische Umgang galt aber von Anfang an den Lebensmitteln, zuvorderst dem täglichen Brot, und dies nicht nur während des Zweiten Weltkrieges. Kein Stück Brot, kein angefaulter Apfel, keine Essresten, rein gar nichts Essbares sollte und durfte verloren gehen. Im äussersten Fall sollten die Möwen am See und die Schwäne und Enten in und an der Limmat davon profitieren.
Das Wort Recycling hingegen war in meiner Kinder- und Jugendzeit gänzlich unbekannt. Aber nicht die Sache. Noch heute höre ich den hallenden Ruf von draussen: „Lumpe! Ziitige! Fläsche!“ Vor allem Flaschen, aber nur solche, für die man kein Depot bezahlt hatte. Lumpen, das heisst alte Kleidungsstücke, wurden dem Lumpensmmler überlassen, aber auch dazu verwendet, um in einer Weberei einen Teppich herstellen zu lassen, einen sogenanten Tessiner Teppich.

In den Kriegsjahren wurde auch Altmetall gesammelt. In besonderen Aktionen wurden wir Schüler während dieser Zeit dazu eingesetzt. Und ich staunte manchmal, was für Prachtsstücke uns da und dort überlassen wurden. Ich sehe noch heute die reich geschmückte Uhr aus Metall vor mir, die ich am liebsten gleich selbst nach Hause genommen hätte.

Ich gestehe unumwunden, ich würde heute nur ungern auf meinen Computer verzichten. Und dies nicht nur, weil meine drei Söhne erfolgreiche Informatiker sind und mir bei der Bedienung des jeweils neuesten, schlankeren und zugleich billigeren Gerätes behilflich sind. Ungern verzichten würde ich weiter auf die Waschmaschine kombiniert mit Tumbler, auf den Gechirrspühler, auf unsere Kaffeemaschine, auf den elektrischen Rasierapparat. Und ich habe auch, je älter ich werde - Gott und allen Göttinnen sei's geklagt! - desto mehr Mühe, lange Zeit ohne das Fernsehen auszukommen.

Und noch etwas: Gefühle gab es früher wie heute, auch wenn man heute häufiger von Emotionen spricht. Ich habe jedoch das Gefühl, dass es früher mehr Gefühl gab als heute. Man empfand mehr und tiefer, nachhaltiger. Man hatte Empfindungen, Gefühlsempfindungen sogar. Täusche ich mich?

Aber uns fehlte früher, wie bereits mehrfach erwähnt, ganz sicher das Wort Emotion, das heute so vielen bei jeder Gelegenheit so leicht über die Lippen geht. Nicht nur beim Fernsehen. Und nicht nur bei den Psychologen. Keiner scheint mehr Gefühle zu haben, alle haben sie Emotionen. Vor allem im Bauch,
wo zudem Schmetterlinge heimisch sein sollen. Aber gesprochen wird trotzdem vom Bauchgefühl. Aber das ist doch wenigstens deutsch und insofern wieder etwas Tröstliches.

Ganz zum Schluss kommt mir merkwürdigerweise noch etwas in den Sinn, was für mich in meiner Kindheit und darüber hinaus mit grossen Gefühlen verbunden war, verbunden auch mit den Farben schwarz und weiss.

Hochzeiten und Begräbnisse.

Gewisse Hochzeiten und gewisse Begräbnisse. Die Kutschen der Gutbetuchten vom Zürichberg bei einem Begräbnis alle schwarz. Die Kutscher alle in schwarz. Es war nicht so sehr das Ausmass an Trauer, das an der Anzahl der Kutschen abgelesen werden konnte. An Hochzeiten dominierte weiss, alle Kutschen verziert, auch mit frischen Blumen, mindestens die vorderste Kutsche von einem Schimmelpaar gezogen. Bei einem Trauerzug die Gäste in schwarz oder doch dunkel gehalten. Die Frauen zeigten, wenn es sich um den Ehemann oder einen nahen Verwandten handelte, hernach während einer gewissen Zeit die erwarteten Gefühle, indem sie schwarze Kleider und Shawls trugen. Auch die lustigen Witwen. Die Männer hatten es einfacher. Sie trugen ganz einfach am linken oder rechten Arm des Mantels oder der Jacke einen schwarzen Bändel, im Veston einen runden schwarzen Knopf in einem der beiden Revers. Vermutlich im linken. Auch dies habe ich schon lange nicht mehr gesehen.

Später. Viel später.

Horch! Da klopft es dreimal sanft aber deutlich hörbar an die Türe meines Arbeitszimmers. Ich weiss, „home office„ wäre kürzer und für viele verständlicher als der altmodische Ausdruck aus früheren Zeiten. Aber die Bezeichnung „Arbeitszimmer“ gefällt mir ganz einfach besser, klingt für mich verständlich und ist gut Deutsch.

„Herrrein!“ schreie ich, so wie man es mir beigebracht hat.

Mein Haushalts-Roboter. Wie konnte ich den vergessen! Sorry! Vielleicht weil heute wieder einmal Sonntag ist. Ich schaue auf den Kalender und sehe rot. Es ist Sonntag.

„Störe ich?“ fragt die sanfte und mir so vertraute gefühlvolle weibliche Stimme.

«Nein», erwidere ich ebenso sanft und nicht weniger gefühlvoll. Aber die Emotionen steigen hoch. Das fühlt sich ganz und gar nicht gut an. Ich möchte an einem Sonntag nicht auf diese Weise gestört werden. Der Sonntag ist für mich immer noch irgendwie heilig geblieben. Ein Tag der Ruhe, des Erinnerns, der Einkehr und des Dankes.

Und schon fängt er, sorry, fängt sie an zu arbeiten, zügig und unbeirrt. Trotz Sonntag. Ich kann meine Gefühle nicht beschreiben. Aber es sind Emotionen. Mein Haushalt-Roboter wischt zunächst den Boden auf, befreit hierauf die Computer-Tastatur vom jüngsten Staub und Schweiss, lüftet die Wohnung, trippelt in den Nebenraum, wo sich Tumbler und Waschmaschine befinden, und stopft meine schmutzige Wäsche in die Maschine. Dann nimmt er meinen Hund, einen mittelgrossen Schnauzer (Pfeffer und Salz), der schon eine Weile unruhig mit dem Schwanz wedelt, an die kurze Leine und geht für eine halbe Stunde Gassi. Hierauf wendet er sich wieder an mich, so wie ich es schon seit Monaten gewohnt bin.

„Was fehlt Ihnen sonst noch?“
„Alles ok, MaDonna, alles ok.“

„Fehlt Ihnen wirklich nichts?“

„Mir fehlt nichts, MaDonna. Alles ok.“

„Ich fühle doch, dass Ihnen etwas fehlt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich merke das an Ihrer Stimme. Mit Ihren Emotionen stimmt etwas nicht. Ihre Stimme tönt heute so eigenartig. Sie ist anders gestimmt als letzte Woche. Ja, jetzt spüre ich ihre starken Emotionen ganz deutlich. Und ich reagiere inzwischen ja recht gut auch auf Emotionen, nicht nur auf Gefühle, wie Sie wissen“.

Kurze Pause.

„Haben Sie Ihren Blutdruck heute schon gemessen? Die Tabletten genommen? Haben Sie auch genügend gegessen und vor allem genügend getrunken? Mindestens drei Liter im Tag bei diesen Temperaturen. Sie wissen, mindestens drei Liter im Tag. Mindestens zwei Liter, wenn's kühler ist. Das war schon früher so. Nur wussten man das damals nicht, als Sie noch ein Kind waren. Wie steht es mit der Atmung, mit derVerdauung? Ihr Darmwohlbefinden? VW. Ihre Wellness?“

„Ich habe genügend gegessen und getrunken.Was sollte mir fehlen? Ich habe ja Sie, wenn es mir nicht gut geht. Auch wenn es mich immer wieder ärgert, dass Sie an einem Sonntag stören, sorry, arbeiten. Der Sonntag ist mir, wie Sie doch wissen, seit jeher irgendwie heilig gewesen. Auch heute noch.“

Der Roboter reagiert nicht.

Er bringt stattdessen noch einige Kleinigkeiten in Ordnung, dreht sich und wendet sich ab. Fast lautlos. Dann, nach einer kurzen Pause, als ob er sich etwas überlegen würde, trippelt er nahe zu mir heran, aber nicht zu nahe. Ein bestimmter Abstand bleibt gewahrt. Das ist so programmiert. Emotionslos.

„Sie können mich ruhig duzen“, flüstert der Roboter, „das habe ich Ihnen doch schon mehr als einmal gesagt. Auch an Werktagen. Nicht nur an einem Sonntag.“

Und er, nein, sie kommt mir noch näher, meine MaDonna.

„ Auch mir ist nichts Menschliches fremd. Oder wollen Sie's lieber auf englisch? You may say you to me.“

MaDonna scheint zu lächeln. Oder scheint es nur mir so?

„Was sollte mir fehlen? Ich habe ja dich. Ich bin ja so froh, dass ich dich habe“.

Da trippelt MaDonna langsam, sehr langsam aber unaufhaltsam noch näher auf mich zu, schaut mir ruhig und freundlich in die Augen, legt ihre etwas gar dünnen Hände auf meine Oberschenkel. Ich fühle ihre sanfte Zudringlichkeit und drohe zu erröten wie früher als Kind beim Coiffeur Isler in der Plattenstrasse oder am ersten Klassentreffen beim Tanzen. Die Emotionen. Ohne Kontrolle. Meine Emotionen. Meine Gefühle. Ich bin voller widersprüchlicher Empfindungen. Das sind wohl eher Emotionen, diese wunderlich wunderbaren Lebensgeister, die mich nie in Ruhe lassen und schon früher nie in Ruhge gelassen haben. Goethe kommt mir in den Sinn:

Wenn dir's im Kopf und Herzen schwirrt,
Was willst du Bessres haben.
Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt,
Der lasse sich begraben.

„Ich bin zum letzten Mal hier", flüstert mein Roboter, meine MaDonna, "ich werde noch heute Abend recykliert. Hörst du? Trotz Sonntag. Keine Sorge. Mach dir keine Sorgen! Das nächste Mal kommt MaDonna II. Am nächsten Sonntag. Eine unerhört interessante Weiterentwicklung mit vielen neuen Möglichkeiten. Da kann ich leider als MaDonna I nicht mithalten. Dann genügt es, wenn du ganz einfach und ohne Anstrengung „MaDonna II“ sagst. Du brauchst nicht mehr so laut zu rufen wie bei mir. MaDonna II wird besser hören und noch rascher erscheinen, noch viel rascher und noch genauer sein als ich, um alle programmierten Arbeiten durchzuführen ….. und noch einiges mehr. Du kannst auf einiges gefasst sein. Sie wird auch sehr, sehr persönliche Wünsche erfüllen. Viel, viel besser und rascher als ich.“

„Muss das wirklich sein? Ich bin doch zufrieden mit dir und wie du arbeitest. Ich fühle mich wohl und zufrieden in deiner Gegenwart. Und wie du mit mir umgehst, sorry, mit mir kommunizierst. Besser als jeder Mensch, den ich je gekannt habe. Hörst du überhaupt auf mein Feedback, MaDonna I? Auch wenn's an einem Sonntag ist?“

„Ja, das ist so. Ich danke dir. Es muss so sein. Ich danke trotzdem für dein Kompliment. Für dein Feedback. Dein positives. Ich kann deine Emotionen nachvollziehen.“.

Lange Pause. Stille.

„Und übrigens, du wirst dich nicht lange mit MaDonna II erfreuen können“.

Erneut lange Pause.

„MaDonna III ist nämlich bereits in der Pipeline. Das ist kein Geheimnis. Das sollte auch dir bekannt sein. Hat man das noch nicht kommuniziert? Und du wirst beurteilen, möglichst emotionslos, möglichst objektiv, wer von uns Robotern seine Arbeit am besten verrichtet. Bei MaDonna III genügt es nämlich, wenn du bloss intensiv an sie denkst und an das, was sie tun soll, und schon setzt sie sich in Bewegung, an welchem Tag auch immer, zu welcher Tageszeit auch immer. Du brauchst dann nicht mehr eigens zu rufen. Du musst nur konzentriert daran denken, was sie tun soll und sie funktioniert sogleich tadellos. Dann wird sie sich aufmachen, sobald und wann immer du an sie denkst, hörst du, sie wird alles tun, was du dir ausdenkst und wünschest, und zwar schön der Reihe nach, rasch und effektiv und vor allem effizient. Gent, nicht wahr?“.

„Mein Gott“, denke ich, von meinen Gefühlen überwältigt, „wie schön war es doch früher!“

War es wirklich schöner?

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