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Poetische Biografie

Meine poetische Biografie

Meine fünf Sinne mögen mir dabei helfen. Über die Reihenfolge machte ich mir keine Gedanken. Ein Bauchentscheid. Ich beginne mit den Gerüchen, stelle aber sogleich fest, dass ich bei dieser Art des Erinnerns in Situationen meines Lebens versetzt werde, die jeweils selbstverständlich auch die andere Sinne einschliessen, wenn auch nicht so deutlich. Beim Lebertran zum Beispiel fällt es mir nicht leicht zu entscheiden, ob da nun der Geschmack oder der Duft dominierte. Zugleich sehe ich die grosse weisse, viereckige Flasche vor mir, gefüllt mit dieser gelb-öligen Flüssigkeit, ein Behältnis, das sich nicht nur kalt anfühlte sondern auch mich kalt anzublicken schien und in mir jedes Mal einen Brechreiz auslöste.

Als kleines Kind von etwa sechs Jahren war es, so glaube ich mich zu erinnern. Ich betrete das WC in unserer Wohnung in Zürich, Plattenstrasse 22, und zwar kurz nachdem mein Vater diesen Raum verlassen hat, und bin leicht benommen über den Gestank, der den engen Raum erfüllt. Ich sagte mir: so riecht es also, wenn du einmal erwachsen sein wirst. Schrecklich! Da bin ich gottlob noch weit entfernt. Etwa um die gleiche Zeit herum erinnere ich mich an ganz andere, erfreulichere Gerüche, deren Urheberin meine Mutter war, süsse Düfte von angenehmer Art in der Küche und in der ganzen Wohnung, herrührend von Dampfnudeln, Kuchen aller Art und vor allem vom reichhaltigen Gebäck zur Weihnachtszeit. Ein weiterer köstlicher Duft stammte vom Sonntagsbraten, vor dem Kirchgang in den Backofen geschoben, bereit zum Mahl nach unserer Heimkehr von der Kirche Fluntern. Ekelhaft der Mundgeruch vor allem von zwei meiner Lehrer, beides ältere Herren, kurz vor der Pensionierung. Und auch hier wiederum meine Bange vor dem Altwerden und seinen unerwünschten Gaben. Der Duft von Lavendel daheim. Meine Mutter versah den Kleiderschrank mit einem kleinen Säckchen gefüllt mit den getrockneten Blüten dieses Blümleins. Der eigenartige Duft des Lavendel in der Wohnung jedoch von alten Leuten, den ich als Kind wahrnahm, wies eher darauf hin, dass die Hygiene von betagten Menschen eine andere war als heute. Altersmief. Ähnlich unangenehm wie viel später in meinem Leben der Duft in alten Schlössern in Frankreich. Aber der Lavendelduft hat mich geprägt. Wie anders konnte ich mich als Erwachsener in die Provence verlieben und bis heute täglich zum Frühstück den entsprechenden Honig geniessen. Noch heute rieche ich auch den Duft des Kölnisch Wassers, das meine Mutter vor jedem besonderen Ausgang zu verwenden pflegte. Und da wäre noch der unverkennbare Duft zu erwähnen, der in meiner Kindheit in den Spitälern vorherrschte, ganz zu schweigen vom besonderen Duft in den Schul- und Amthäusern. Und in den Strafanstalten, die ich wegen meiner Doktorarbeit (Die Freizeit in der Strafanstalt) besuchte. Damals hatten die Gefangenen noch kein WC in der Zelle. Jeden Morgen galt es für die Inhaftierten, die gefüllten Kot-Kübel zu entleeren und zu reinigen. Viel später als Erwachsener erschrak ich einmal gehörig über einen anderen Gestank, nachdem ich ordentlich in unserem WC Wasser gelassen hatte. Ich vermutete eine krankhafte Ursache und zog in Betracht, meinen Hausarzt aufzusuchen. Da kam mir plötzlich die rettende Eingebung: das könnten die Nachwehen der letzten Mahlzeit sein: Spargeln. Spätestens als junger Erwachsener erst wurde ich nach einigem Zögern und leichten Widerständen so richtig bewusst, dass auch das Geschlecht seine seltsamen Düfte hat, besonders das meiner Freundin, der Frau, die ich etwa zehn Jahre nach dem ersten Zusammentreffen endlich heiratete. Ich mochte sie von Anfang an riechen, und es ist kein Ende abzusehen. Und ich wunderte mich, dass manche Pilze im Wald einen ähnlichen Duft verbreiten. Geruch von heissem, dampfenden Blut während meines Semesters an der Universität Marburg/Lahn hatte ich ein Zimmer, wo ich meinen 20. Geburtstag feierte. Das Fenster des Klos gleich über der Abschussstelle für Schweine im Schlachthof von Marburg. Onkel und Tante hatten dort ihre Dienstwohnung. Ein letztes schreckliches Dufterlebnis hatte ich erst als Rentner. Es war beim Besuch einer alten Kirche in Griechenland während einer vierwöchigen Campingtour mit einem befreundeten Ehepaar, mit Lydia und Emil. Der Duft des Weihrauches brachte mich an den Rand eines Ohnmacht. Ich floh aus der heiligen Stätte ins Freie und dachte mutwillig an eine Teufelsaustreibung.

Beim Geschmack komme ich auf den Lebertran zurück, den wir als Kinder zu Beginn der kalten Jahreszeit zu unserem gesundheitlichen Wohl trinken mussten. Die Mutter spielte die Tapfere und schlürfte zuerst einen Suppenlöffel voll. Dann der Vater, der sich keine Blösse geben wollte. Mehr als einmal zog es mir den Magen zusammen. Als Belohnung durften wir dann ein grosses dunkelbraunes Malzbonbon lutschen, und das schmeckte so begütigend süss, dass ich den Lebertran für einige Zeit vergass. Auch den Geschmack des Blutes kann ich nicht beschreiben, aber ich kann mich gut erinnern. Bei Spiel und Sport kam es immer wieder vor, dass irgend eine Körperstelle blutete. Unangenehmer war mir als Kind und Jugendlicher jedoch der Rotwein, den ich ab und zu probierte, und dies aus dem Rest in den Gläsern unserer Eltern. Mâcon war damals üblich, ein preiswerter Franzose. Ich sehe die dunkelgrüne Flasche mit der bescheidenen Etiquette vor mir und konnte nicht begreifen, dass man diesen Trank lieben konnte. Das hat sich freilich geändert. Inzwischen trinke ich täglich mindesten ein Glas Roten. Auch mit dem Spinat hatte ich als kleines Kind Mühe, wobei vielleicht auch die Farbe eine Rolle gespielt haben mochte. Bei besonderen Festessen gab es zum Dessert Ananasscheiben aus der Büchse übergossen mit Schlagsahne. Wunderbar diese saftig würzige Süsse. Und da sind auch all die unterschiedlich duftenden Beeren aus unserem Familiengarten mit ihren unterschiedlichen geschmacklichen Reizen: Erdbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren und Brombeeren. Die Säure des Rhabarbers, den wir Buben mit Pferdeäpfeln düngten, eingesammelt auf den Strassen in unserer Umgebung am Zürichberg. Die sauren Stängel steckten wir gerne in die weisse Masse der Zuckerbüchse. Unvergessen auch der Hustensirup aus Zwiebeln und Kandiszucker, von der Mutter hingebungsvoll gebraut, oder die vom den Arzt angeordnete, vom Apotheker hergerichtete Flüssigkeit, die nach Anis schmeckte. In der Weihnachtszeit die Nüsse, die Tirggel, Orangen, Lebkuchen. An Ostern die Schokolade, Nougat und Caramel.

Beim Gehör kommt mir in den Sinn, wie ich als kleines Kind am Sechseläuten durch das Knallen beim Abbrennen des Bööggs dermassen erschreckt wurde, dass ich so rasch wie möglich nach Hause wollte. Aber die Musik, der Sechseläuten-Marsch liegt mir noch heute in den Ohren. Nur wenige Meter von unserem Haus in der Plattenstrasse war damals das Vereinslokal der Zunft Fluntern, im Restaurant Plattengarten. Heute steht dort ein Gebäude der Universität. Auch mein Haus der Kinder- und Jugendzeit (Plattenstrasse 22) erlitt inzwischen dasselbe Schicksal. Bis in den Morgen hinein konnten wir der mitreissenden Musik zuhören. Angst hatte ich als kleines Kind vor dem Donner und während des 2. Weltkrieges vor den amerikanischen Bombern mit ihrem tiefen Brummen in dunkler Nacht. Und es fielen ja auch Bomben, nicht nur auf Schaffhausen sondern auch auf Zürich (Landwirtschaftliche Schule Strickhof), nur wenige Kilometer von unserem Haus entfernt. Keine Angst hatte ich jedoch vor dem Brüllen der Löwen am späten Abend, wenn der Zoo bereits geschlossen hatte. Berührt war ich von den Orgeltönen in der grossen Kirche Fluntern, wenigsten bis zu meiner Konfirmation. Auch vom Glockengeläute. Glocken- und Orgeltöne habe ich heute noch in den Ohren, wenn ich ans Kriegsende im Jahre 1945 denke, und es überfällt mich immer noch ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Während meines Semesters an der Universität Marburg/Lahn hatte ich ein Zimmer in der Dienstwohnung von Onkel und Tante, und dies war im alten roten Backsteinbau des Schlachthof in der Biegensrasse. Das entsetzliche Gebrüll der Rinder und Kühe in manchen Nächten, bevor die Tiere geschlachtet wurden. Und immer wieder das Rauschen vom Wasser am Meer, Scheveningen, Nizza, Sète, Sitges, in den Bergen, Engadin. Im Hotel Löwen bei Bernhards in Worb hat mich der Lärm des nahen Baches gestört, und ich musste das Fenster schliessen, sonst hätte ich nicht schlafen können. Ein besonderes Geräusch, an das ich mich gerne erinnere, wenn Hedwig, meine langjährige Freundin, mich in der Plattenstrasse 22 hoch oben in der Mansarde im 4.Stock besuchte: das scharfe Geräusch der hohen Absätze ihrer hellbraunen Sandalen auf der Holztreppe. Da kam jedes Mal freudige Spannung auf, mit jedem Schritt. Denn damals in den fünfziger Jahren hätte mich jedermann, der mir übel wollte, bei der Polizei anzeigen können wegen illegalen Verhaltens, denn wir waren noch nicht verheiratet. Es herrschte damals noch das Konkubinatsverbot. Und immer wieder höre ich die Stimmen von Sängerinnen und Sängern in unserem Stadttheater, dem späteren Opernhaus, besonders die Heldentenöre, Franz Lechleitner zuvorderst, bei dem ich manchmal litt, wenn er seine mächtige Stimme überanstrengte. Ich höre das Läuten eines Glöckchens, Zeichen dafür, endlich die gute Stube betreten zu dürfen, wo der Christbaum und die Geschenke auf uns Kinder warteten. Das Läuten des Samichlauses war heftiger und einige Jahre mit Angst verbunden.

Beim Gesicht kommen mir zuerst die Glarner Alpen in den Sinn, besonders an einem Föhntag, wenn ich die schneebedeckten Berge über dem blauen See von der Quaibrücke aus bewundern konnte. Ja, der See in wechselnden Farben, belebt von Vögeln aller Art. Meine Mutter erzählte mir davon, dass ich als Säugling, im Wägelchen auf dem Rücken liegend stundenlang den Wolken nachgeschaut hätte. Und dann die Landi kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges. Was gab es nicht alles zu sehen: die Schwebebahn über den See, der Schifflibach, die Gemälde von Hans Erni, die nicht von allen geschätzt wurden, ich fand sie eigenartig, die stärkste Lokomotive der Welt, die Aluminium-Stühle, die Fischerhütte, der Flaggenwald. Nie war ich jedoch dabei, wenn berühmte Persönlichkeiten die Stadt Zürich besuchten und Tauende Menschen die Strassen säumten, um jemanden mit eigenen Augen zu sehen, mit einer Ausnahme: Winston Churchill. Ich sehe ihn noch heute auf er Terrasse der Hinterseite der Universität am Vormittag, 19. September 1946. Ich besuchte die Sekundarschule Hirschengraben gleich nebenan. Der Lehrer liessen uns ins Freie. Wir waren alle seltsam erregt, schauten, klatschten in die Hände, riefen. Ich verstand kein Wort, fühlte mich dennoch überglücklich, diese Legende, über die während Jahren berichtet worden war, selber zu sehen. Glücklich fühlte ich mich auch immer wieder im Zoo. Beliebt waren die Schimpansen, die vor dem, Essen an einem Tisch eine Serviette anziehen mussten. Betrüblich die Eisbären, die sich unermüdlich hin- und herbewegten und leider nur selten ins Wasser sprangen. Sie schienen sich zu langweilen. Die Giraffen mit ihren langen Hälsen. Und immer wieder sehe ich die Tiere und die Artisten und all die Clowns im Zirkus Knie. Und da taucht wieder Hedwig auf, die ich unzählige Male von der Arbeit im Kantonsspital abholte, fast immer mit blendend weisser Bluse. Ich sehe es immer wieder, dieses frische Weiss, die blonden Haare, ihr freudig lächelndes Gesicht.

Und zum Schluss noch der Versuch, mich an das Getast heranzutasten. Als kleines Kind, noch vor dem Kindergarten, wir wohnten, wenn ich mich richtig erinnere in der Minervastrasse, sehe ich mich im nahen Artergut im Sandkasten spielen. Ich fühle, wie der feine Sand durch meine Finger gleitet, ich fühle den nassen Sand, mit dem ich versuchte, einen Tunnel zu bauen. Ich fühle, wie mir in den harten Wintern manchmal schier die Finger abgefroren sind. Ich fühle die Kälte an den Ohren und an meiner Nase. Ich fühle auch die Hitze des metallenen Behältnisses, der Bettflasche, die wir vor neun Uhr der Reihe nach unter die Decke schoben. Im Winter wurde aus Kostengründen nur ein Zimmer beheizt, und zwar mit Holz, Kohle und Briquets, die im Keller lagerten. Die Fenster in den übrigen Räumen in manchen Wintern mit Eisblumen bedeckt. Gerne habe ich sie mit meinen Fingernägeln abgekratzt. Gefürchtet während Jahren die Schmerzen beim Schulzahnarzt im Amthaus Urania. Gefürchtet vor allem der Bohrer einer Frau, von uns Rossmetzgerin genannt. Keine schöne Erscheinung. Nach jedem dieser Zahnarztbesuche belohnte ich mich jeweils bei einem bekannten Philatelisten am Limmatquai mit einer neuen Briefmarkenserie, die ich einige Tage zuvor ausgesucht hatte. Alle meine Briefmarken ruhen seit Jahren ungestört auf dem Dachboden. In der Pubertät begann das Abtasten und Knutschen eine grosse Rolle zu spielen. Das Haar über dem Penis, das gekrault werden wollte, die ersten etwas weichen Haare am Kinn, das schwellende Geschlecht, das schlechte Gewissen ob der auch von mir lange Zeit verpönten Selbstbefleckung. Dann auch das beglückende Abtasten eines anderen Körpers bis in alle Tiefen und Feinheiten. Kurz nach meiner Rückkehr aus Marburg/Lahn brannte mein Rücken entsetzlich. Ich fühle heute noch den Schmerz, wenn ich daran denke. Ich hatte einen heissen Nachmittag mit meinem Freund Heini Bindschädler auf einem Motorboot verbracht, und zwar nur mit der Badehose bekleidet. Es brauche Tage, bis ich zur Normalität zurückfand. Unvergessen ein Schreckmoment als Drittklässler, weil der erwartete Schmerz ausgeblieben war. Mit Mama, Heini und Annemarie verbrachten wir drei Wochen Sommerferien in Nesslau im Toggenburg, die einzigen Familienferien. Papa war leider nicht dabei. Er musste arbeiten. Eines Nachmittags scheitete ich unbeobachtet vor dem Haus mit einer grossen Axt. Aus Versehen durchschlug ich die Kuppe meines linken Daumens. Ungläubig nahm ich überhaupt keinen Schmerz wahr. Aber schockiert war ich. Der Arzt schnitt das Stück Fleisch ab und versah mich mit einem schwarzen Däumling. Jahrelang noch verspürte ich einen heftigen Schmerz, wenn ich mit meinem linken Daumen an einem harten Gegenstand anstiess.